Entführungsindustrie im Irak
Die Ausweitung der Agitationszone

Im Irak gibt es derzeit keine Kraft, die mächtiger ist als die Milizen und keine Stimme, die lauter ist als die Stimme der konfessionellen Spalter, schreibt der irakische Publizist Safaa Khalaf.

Es gibt keine genauen Statistiken zu Morden und Entführungen im Irak, denn die Behörden haben kein Interesse daran, die alltäglichen schlechten Nachrichten langfristig zu dokumentieren. Auch die irakische Presse schenkt solchen Taten lediglich dann wirklich Aufmerksamkeit, wenn sie die Öffentlichkeit erschüttern. In diesen Fällen übernimmt sie zuerst "gezwungenermaßen" die offizielle Darstellung der Behörden, um sie dann durch eine Geschichte zu ersetzen, die von einem ihrer politisch affiliierten oder mit Milizen verbandelten Finanziers bestimmt wird.

Verbreitet wird diese "Geschichte" dann über die sozialen Netzwerke, deren Mechanismen dafür sorgen, dass jedes Ereignis nur noch oberflächlich behandelt wird, bevor es im Wust neuer Geschichten untergeht. Immer neue Geschichten befriedigen die Sensationsgier, sie befeuern aber auch konfessionelle Spannungen und verbreiten Hetze, die in letzter Konsequenz zu Mord und Entführung führen kann.

Tummelplatz des Verbrechens

Der Irak, das Zweistromland dessen "Lebensadern" langsam und ebenfalls ohne große Aufmerksamkeit austrocknen, ist zu einem Tummelplatz des Verbrechens geworden, in dem sich die zweifelhafte Kunst entwickelt hat, zu morden und dieses Unrecht zu rechtfertigen.

In diesem Chaos aus Gewalt und Verbrechen verkamen auch der Staat und die Behörden zu einem Spiegelbild der hässlichen Fratze von Populismus und Konfessionalismus, die die Iraker und Irakerinnen zu Opfern der sich ausweitenden Todesmaschinerie machte. Es fehlt ihnen an tieferen Kenntnissen und Einschätzungsvermögen, um den Zusammenhang von Terrorismus, sozialer Gewalt und deren Ursachen in Verbindung mit den zahllosen Opfern zu verstehen.

14 Jahre sind vergangen seit das alte Saddam-Hussein-Regime durch eine Besatzungsmacht gestürzt und ein "neues" etabliert wurde. Bereits infiziert mit dem zersetzenden Virus des "alten" Regimes wurden die Überreste des nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls unter dem Nachfolgeregime endgültig zu Grabe getragen. Und in all diesen Jahren haben es die nachfolgenden Regierungen und ihre Ministerien nicht geschafft, ein offizielles Archivierungsprojekt ins Leben zu rufen, das der Öffentlichkeit verlässliche Statistiken über die Opfer im Irak zur Verfügung stellt.

ثقافة العنف في العراق. لقد كان أكثر الأيام دموية في العراق منذ آيار/ مايو 2010، فقد قُتل أكثر من 115 شخصاً وأُصيب أضعاف هذا العدد بجراح في تفجيرات الاثنين (22 تموز/ يوليو 2012)
Der Irak im Sog sektiererischer Gewalt und Gegengewalt: "Das Zweistromland dessen 'Lebensadern' langsam und ohne große Aufmerksamkeit austrocknen, ist zu einem Tummelplatz des Verbrechens geworden, in dem sich die zweifelhafte Kunst entwickelt hat, zu morden und dieses Unrecht zu rechtfertigen", schreibt der irakische Publizist Safaa Khalaf.

Gäbe es nicht die monatlich von den Vereinten Nationen im Irak (UNAMI) veröffentlichten Statistiken zu Gewaltopfern in den Städten und die Website "Iraq Body Count", die die Zahl der getöteten Iraker dokumentiert, die Fälle kategorisiert und die Identität der Opfer ermittelt, dann wäre es unmöglich, verlässliche Zahlen über das Phänomen der grassierenden Gewalt im Irak zu finden.

Der Protest der Regierung gegen die monatliche Veröffentlichung der Opferzahlen durch die UNAMI, die im Dezember 2016 auch die während der Operation zur Rückgewinnung Mossuls getöteten Soldaten umfasste, stellt die Ignoranz und maßlose Inkompetenz der Behörden unter Beweis. Er steht beispielhaft für ihre Bemühungen, die Veröffentlichung verlässlicher Zahlen zu unterbinden.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedrohung durch Militarisierung und Bewaffnung unter verschiedensten Bannern macht der Protest außerdem deutlich, wie groß die Angst davor ist, dass die Konsequenzen des sicherheitspolitischen Versagens ans Licht kommen.

Mord und Totschlag als Vorboten eines neuen Regimes

Am 10. April 2003 schwappte eine Säuberungswelle über den Irak. Diese Säuberungsaktion zielte anfangs auf die Beseitigung von Anhängern des Regimes Saddam Husseins ab, entwickelte sich jedoch schnell zu einer organisierten aber indiskriminatorischen Tötungsmaschinerie, die Jagd auf Baathisten, Sicherheitskräfte, Militärs und Kampfpiloten machte. Sie erstreckte sich auch auf Künstler sowie Intellektuelle – und machte nicht einmal vor Gegnern des gestürzten Regimes halt, die sich der Opposition gegen das neue Regime angeschlossen hatten.

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Leserkommentare zum Artikel: Die Ausweitung der Agitationszone

Ein informativer und aufschlussreicher Artikel. Nur ein Hinweis: In Gesellschaften, in denen Gewalt und Gegengewalt zum Alltag gehören, hilft nur Kultur gegen die Logik der Gewalt. Kunst und Bildung sind für den Aufbau einer zivilen Gesellschaft elementar. Hier sollte man ansetzen.

Karl Heimann 17.02.2018 | 11:13 Uhr

Das Fiasko im Irak war doch programmiert.

John Karl 17.02.2018 | 16:20 Uhr