Afghanistan: Chronologie einer Katastrophe

Der "Krieg gegen den Terror“ ist in Afghanistan nicht nur gescheitert, er hat Unsicherheit verschärft und mehr Terrorismus erzeugt. So lautet die These, die der Journalist Emran Feroz in seinem Buch vertritt, das zeitlich passend 20 Jahre nach den Anschlägen des 11. September 2001 und dem darauffolgenden Einmarsch der USA und der NATO in Afghanistan erschienen ist. Eine Rezension von Behnam Said für Qantara.de

Von Behnam Said

Emran Feroz Buch ist eine Abrechnung: Zornig, empört und faktenreich. Es ist dabei oft kein nüchternes Sachbuch, sondern der Autor lässt bewusst seine persönliche Familiengeschichte und seine Erfahrungen aus Reisen nach Afghanistan einfließen. Diese Mischung aus objektiver Faktenlage und subjektiv biographischer Erfahrungswelt eröffnet den Korridor seiner Abhandlung, die sich flott liest, informativ ist, stellenweise aber auch zugespitzt provoziert und zum Nachdenken, aber auch zu Widerspruch anregt.

In fünf Kapiteln auf 200 Seiten zeichnet der Autor ein Bild, das er an diversen Stellen immer wieder als "dystopisch“ bezeichnet und das wenig Spielraum für Optimismus in der Zukunft lässt. Zu tief scheinen die innerafghanischen Gräben zu verlaufen, zu viele kriminelle, ideologisch verblendete und religiös fanatische Akteure versuchen ihre Interessen in einem großen und brutalen Spiel der Macht durchzusetzen. Leidtragend aus seiner Sicht ist die Bevölkerung des Landes.

Hier wird der Leserschaft vor allem die Perspektive der paschtunischen Landbevölkerung des Ostens und des Südens nahebracht, die im Zentrum des "War on Terror“ leben und besonders unter Bombardements und Razzien, die oft willkürliche Verhaftungen und Folter nach sich zogen, gelitten haben. Es sind auch die Gebiete, in denen die Taliban ihren größten Rückhalt haben und aus deren Bevölkerung sich große Teile ihrer Miliz rekrutieren. Die Verbundenheit des Autors mit den Menschen dieser Gegend und seine Sympathien für die Landbevölkerung macht er an vielen Stellen deutlich und weist oft auf den krassen Gegensatz zwischen Stadt und Land hin.

Zunächst vermittelt Feroz einen historischen Abriss über das Konfliktgeschehen der letzten Jahrzehnte und die dadurch entstandene fragmentierte, vom Krieg geprägte afghanische Gesellschaft. Er geht ausführlich auf die Zeit der Monarchie, der Republik, des Einmarsches der Sowjetunion und auf den sich daran anschließenden Krieg zwischen den Mujahidin-Parteien und der Kabuler Regierung sowie den sie unterstützenden Truppen der Roten Armee ein.

Der Journalist und Autor Emran Feroz; Foto: privat
Emran Feroz hat mit "Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror“ (Westend 2021) eine "in weiten Teilen gelungene und durchaus empfehlenswerte Darstellung der Tragödie Afghanistans“ vorgelegt, schreibt Behnam Said in seiner Rezension. Das Buch ist "zornig, empört und faktenreich. Es ist dabei oft kein nüchternes Sachbuch, sondern der Autor lässt bewusst seine persönliche Familiengeschichte und seine Erfahrungen aus Reisen nach Afghanistan einfließen. Diese Mischung aus objektiver Faktenlage und subjektiv biographischer Erfahrungswelt eröffnet den Korridor seiner Abhandlung, die sich flott liest, informativ ist, stellenweise aber auch zugespitzt provoziert und zum Nachdenken, aber auch zu Widerspruch anregt.“



Insbesondere für die sowjetische Invasion und die kommunistische Regierung Afghanistans findet er scharfe Worte der Verurteilung und benennt klar die begangenen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung zwischen 1979 und 1989. Linken Analysten wirft er bezüglich ihrer Haltung zur Rolle der Sowjetunion und der kommunistischen Regierung "Rassismus, Orientalismus und antimuslimische Ressentiments“ vor (S. 78). Hier wird eines der wichtigen Anliegen von Feroz deutlich: Er sieht einen Hauptfaktor für das Erstarken der Islamisten in dem brutalen Vorgehen der Roten Armee und ihrer Verbündeten in Kabul.

Kriegsverbrechen der Taliban: kurz abgehandelt

Neben der expliziten Kritik an den kommunistischen Akteuren Afghanistans bezieht Feroz zudem Stellung gegen die Kriegsverbrecher der Mujahidin-Jahre, von denen viele nach dem Sturz der Taliban wieder an die Macht gelangten und diese nutzten, um ihren Einfluss auszubauen und sich zu bereichern. Die begangenen Gräueltaten benennt der Autor exemplarisch. Insbesondere das an Taliban-Kämpfern begangene Massaker durch Truppen des berüchtigten Generals Abdulrashid Dostum im Dezember 2001 schildert Feroz eindringlich und ausführlich (S. 41-42).

Im Kontrast dazu fällt dann jedoch der Hinweis auf das von den Taliban zuvor begangene Massaker von Mazar-e Sharif 1998, das sich gegen die Hazara-Bevölkerung der Stadt richtete, und recht kurz in einem Satz abgehandelt wird (S. 44). Insgesamt wird zwar an dieser und jener Stelle darauf hingewiesen, dass auch die Taliban Verbrechen begangen haben, doch konkrete Taten werden nicht benannt, Augenzeugen nicht wiedergegeben, anders als bei den Kriegsverbrechen anderer Bürgerkriegsparteien oder auch westlicher Staaten.

Hier wäre eine entsprechende Gewichtung angebracht, die erkennen ließe, dass sich der Autor mit den Gräueltaten der Taliban auseinandergesetzt hat. Überhaupt wird der Aufstieg der Taliban-Miliz nur recht kurz anhand der Gründungslegende um die angebliche Entführung zweier Mädchen und die Befreiung von diesen durch Mullah Omar und seine Schüler geschildert (S. 40).

Die Taliban-Bewegung wird als "Symptom“ eines "größeren bestehenden Problems“ beschrieben, allerdings erfährt man keine Hintergründe über die Bewegung und auch eine Darstellung des Verhältnisses der Taliban zur damaligen US-Regierung, auf die etwa ausführlich der pakistanische Journalist Ahmad Rashid eingegangen ist, sucht man vergebens. Hier wäre – möglicherweise in einer Folgeauflage - ein ergänzendes Kapitel zu Genese, Aufstieg und Vernetzung der Taliban sicherlich wünschenswert und angebracht.

Buchcover Emran Feroz, "Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror", Westend 2021
Ein Sachbuch muss nicht immer sachlich und neutral sein. "Seine Stärke entfaltet das Buch insbesondere im dritten und vierten Kapitel, in denen die unerhörten und oft ungesühnten Menschenrechtsverletzungen im Zuge des 'War on Terror' anschaulich beschrieben werden,“ schreibt Behnam Said. "Die Wut des Autors über diese Verbrechen wird greifbar, was eine gewisse Authentizität des geschriebenen Wortes mit sich bringt und den Lesenden in die Emotionalität der Opfer und ihres Leides mitnimmt. Dies ist ein Verdienst, der gewiss nicht zu hoch eingeschätzt werden kann.“

Wut über die Verbrechen des "War on Terror“

Seine Stärke entfaltet das Buch insbesondere im dritten und vierten Kapitel, in denen die unerhörten und oft ungesühnten Menschenrechtsverletzungen im Zuge des "War on Terror“ anschaulich beschrieben werden. Die Wut des Autors über diese Verbrechen wird greifbar, was eine gewisse Authentizität des geschriebenen Wortes mit sich bringt und den Lesenden in die Emotionalität der Opfer und ihres Leides mitnimmt.

Dies ist ein Verdienst, der gewiss nicht zu hoch eingeschätzt werden kann.

Durch die menschliche Nähe des Autors zu seinem Thema bleibt dann an der einen oder anderen Stelle allerdings auch nicht aus, dass Formulierungen gewählt oder Schlussfolgerungen getroffen werden, über die man sicherlich trefflich streiten kann.

So zum Beispiel wenn Feroz bezüglich des vom deutschen Oberst Georg Klein angeordneten Luftangriffs auf steckengebliebene Tanklaster, bei dem vermutlich bis zu 100 Zivilisten getötet wurden, schreibt, dass die "Justiz im Interesse der Politik“ handele, wenn es "um Kriegsverbrechen geht“ (S. 89).

An anderer Stelle heißt es, die Vereinten Nationen hätten eine "fadenscheinige Rechtfertigung“ für das "rechtswidrige“ Eingreifen in Afghanistan geliefert (S. 50).

Hier wären vorsichtigere (etwa "völkerrechtlich umstritten“) und vor allem mit Quellen belegte Formulierungen und Verweise dem Anliegen des Autors sicherlich zuträglicher gewesen, um seine eigene Position zu untermauern. Andererseits regt er aber mit seinen provokanten Thesen auch zum Widerspruch und zur Debatte an.

Düster und anklagend

Die erwähnten sowie weitere Zuspitzungen lassen sich aus dem persönlichen Erleben des Autors und seiner Begegnung mit den Opfern des Anti-Terrorkriegs erklären. Gerade da diese Menschen in Europa oder den USA wenig bis keine Lobby haben, ist es umso begreiflicher, wenn Feroz hier zu rhetorischen Stilmitteln greift, in denen die Empörung über das Leid der Opfer widerhallt.



Es sei jedoch angemerkt, dass die Opfer der Verbrechen von Taliban-Milizen ebenso eine angemessene  Rolle im Buch verdient hätten. Auf die Verbrechen der Taliban vor und nach 2001 und auf deren zivile Opfer wird hingegen weniger eingegangen, sie klingen lediglich an der einen oder anderen Stelle an (vgl. S. 198).

Feroz‘ Buch ist düster und anklagend. Er beklagt, dass "im Westen“ kein hinreichend differenziertes Bild von Afghanistan und seiner Vielfalt vorherrsche und dass orientalistische und rassistische Klischees das Bild von Afghanen im Westen prägen würden. Diese Sichtweise zu vertreten ist das gute Recht des Autors, allerdings wäre sie noch überzeugender gewesen, wenn dieser nicht selbst immer wieder die unterschiedlichen NATO-Mitgliedstaaten als monolithisch handelnden Block des "Westens“ ("westliche Journalisten“, "westliche Kriegsberichterstattung“, "vom Westen installierte Kleptokratie“, "die westliche Aufarbeitung des Afghanistan-Krieges“ etc.) beschrieben hätte. Hier hätte mehr Differenzierung dem Anliegen des Buches gut angestanden.

Ebenso fragwürdig ist auch die als gesichert beschriebene Darstellung der Frauen- und Menschenrechtsaktivistin Fawzia Koofi als korruptem Mitglied einer kriminellen Familie, die tief in den Drogenhandel verstrickt sei. Feroz bezieht sich dabei auf einen Artikel der Organisation RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan). Koofi erhielt 2021 den Anna-Politkowskaja-Preis, nachdem ein Jahr zuvor ein Attentat auf sie verübt worden war.




In der politischen Männergesellschaft Afghanistans mussten sich Frauen wie Koofi hart ihre Position erkämpfen und diese immer wieder aufs Neue verteidigen. In den Jahren nach 2001 galt Koofi als eine der wichtigsten weiblichen politischen Stimmen des Landes. Dass ausgerechnet sie als Beispiel für Korruption und Kriminalität hervorgehoben wird, verwundert daher, ebenso die Vehemenz, mit der Feroz die bisher nicht bewiesenen Vorwürfe vertritt.

Muss ein Sachbuch immer sachlich oder neutral sein? Sicher nicht. Gewichtungen vorzunehmen, Emotionalität einzubringen und Formulierungen zuzuspitzen, sind Stilmittel künstlerischer Freiheit. Es sollte aber eine gewisse Transparenz vorherrschen, die es dem Leser ermöglicht, die durch den Autor vorgenommene Bewertung nachzuvollziehen oder auch im Buch genannte Personen einzuordnen. Das ist oft, aber leider nicht immer der Fall.



So fehlt bei dem ausführlich beschriebenen Abdel Kadir Mohmand (S. 190-193) etwa der Hinweis, dass es sich bei diesem um einen mittlerweile bekennenden Taliban-Unterstützer handelt. Bei Feroz Onkel Waheed Mohzda wäre ebenfalls angebracht gewesen, dessen langjährige Verbindung zu islamistischen Personen und Gruppierungen einzuordnen und beispielsweise die recht enge Verbindung zum Prediger und Theoretiker des modernen Jihad, Abdullah Azzam, dem Leser gegenüber zu erklären.

Trotz der genannten Kritikpunkte ist Feroz Buch insgesamt in weiten Teilen eine gelungene und durchaus empfehlenswerte Darstellung der Tragödie Afghanistans und der vergangenen 20 Jahre des "War on Terror“, die uns daran erinnert, dass die Befriedung eines von Kriegen geplagten Landes selten oder auch nie mit weiteren Kriegen und gewalttätigen Aktionen, die zur Verrohung der Menschen beitragen, gelingen kann. In dieser Hinsicht stellt das Buch einen aktuellen und willkommenen Debattenbeitrag dar, dessen inhaltlicher Nutzen die bereits genannten Kritikpunkte überwiegen lässt.

Behnam Said

© Qantara.de 2021

Emran Feroz, "Der längste Krieg, 20 Jahre War on Terror“, Westend Verlag, Frankfurt 2021, 224 S.

 

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