Zwischen Tinte, Muttermilch und Fingerfrauen

Eine Lebenskrise muss nicht ausschließlich negativ sein. Elif Shafak, türkische Bestsellerautorin und inzwischen zweifache Mutter, hat sie genutzt, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Diese Geschichte erzählt sie in ihrem neuen Buch. Von Sabine Kleefisch

Von Sabine Kleefisch

​Wer kennt das nicht: Eine wichtige Entscheidung ist zu treffen, man wägt alle Argumente sorgfältig und rational gegeneinander ab, findet heraus, was das Beste wäre und tut dann doch etwas völlig anderes. Wegen dem Bauchgefühl. Oft folgen wir dem, was unsere so genannte innere Stimme uns einflüstert. Für Elif Shafak ist das alles etwas komplizierter, denn sie hat nicht nur eine innere Stimme, sondern deren sechs – von denen sie zwei jedoch erst spät entdeckt. Und vielleicht gibt es noch mehr, wer weiß das schon so genau? Und noch etwas ist bei ihr anders: Die meisten Frauen machen eine "Midlife"-Krise nach ein paar Jahren Ehe, Kindern und Hausfrauendasein durch und fragen sich, ob das alles war.

Elif Shafak hingegen war bereits seit vielen Jahren eine erfolgreiche und berühmte Schriftstellerin, unabhängig, ledig und kinderlos, als sie mit Mitte Dreißig plötzlich der Anblick einer zweifachen und wieder schwangeren Mutter bei einer Bootsfahrt über den Bosporus völlig aus dem Tritt bringt. Was dann passiert, schildert sie in ihrem Buch "Als Mutter bin ich nicht genug".

Gespaltene Persönlichkeiten

Was dem deutschen Titel nach wie eine Tirade des Selbstmitleids und des Lamentierens über die Ungerechtigkeiten des Frauseins in einer Männerwelt klingt, entpuppt sich schnell als die höchst amüsante Geschichte einer Suche nach dem persönlichen Glück. Und sie wird nicht nur für Frauen erzählt, sondern für jeden, der sich hin und wieder innerlich zerrissen und sich in keiner vorgefertigten Rolle so richtig wohl fühlt. ​​Mit einem schelmischen Augenzwinkern nimmt uns Shafak mit auf ihrer Suche nach dem, was im Leben wirklich zählt – unprätentiös und ein bisschen abgedreht. Denn ihre inneren Stimmen sind nicht einfach nur diffuse Gefühle, die sich aus der Tiefe ihres Unterbewusstseins Bahn brechen.

Es handelt sich bei ihnen um etwa 20 cm große Däumelinchen, jede mit eigenem Namen und ganz bestimmten Vorstellungen davon, wie Elifs Leben auszusehen hat. Und diese Däumelinchen haben ziemlich handfeste Methoden, um ihre Vorstellungen wahr werden zu lassen.

Allerdings sind sich die kleinen "Fingerfrauen", wie Elif Shafak sie nennt, gegenseitig alles andere als grün. Und so hat sie große Schwierigkeiten, durch das Gewirr der widersprüchlichen Forderungen der Fingerfrauen hindurch den richtigen Weg zu finden. Sie ist hin- und hergerissen, weil sie sich allmählich eingestehen muss, dass sie entgegen ihrer bisherigen Ablehnung der so genannten "klassischen Frauenrolle" gerne Kinder hätte. Sie fürchtet aber, als Mutter nicht länger Schriftstellerin sein zu können, dabei ist Schreiben für sie der eigentliche Sinn des Lebens. Derweil hört sie ihre biologische Uhr immer lauter ticken.

Muffins vs. Faschismus

Um sich ein Bild von der Vereinbarkeit der Schriftstellerei mit Ehe und Mutterschaft zu machen, schaut sie sich die Lebensläufe anderer berühmter Schriftstellerinnen wie der US-amerikanischen Lyrikerin Sylvia Plath an, die sich nach heißer Leidenschaft, zermürbender Ehe und schließlich der Scheidung im heimischen Gasofen das Leben nahm und zwei kleine Kinder mutterlos zurückließ. Die meisten dieser Lebensläufe scheinen ausgezeichnete Anleitungen zu Unglück und Selbstzerstörung zu sein. Sind Mutterschaft und Schreiben also tatsächlich absolut inkompatibel? Getrieben von den karrierebewussten unter ihren Fingerfrauen ergreift Elif Shafak die Flucht an ein Frauencollege in den USA. Während des Fluges begegnet sie zum ersten Mal ihrer mütterlichen Fingerfrau, der rundlichen und gutmütig lächelnden Mama Milchreis.

Buchcover Elif Shafak: "Als Mutter bin ich nicht genug".

Die Diskussion mit ihr, warum Elif ihre mütterliche Seite verleugnet, driftet schnell ins Politische ab – Mama Milchreis preist die Segnungen des einfachen Lebens, Elif Shafak zitiert Hannah Arendt. Die kleine Fingerfrau verzweifelt fast: "'Oh Gott', sagt sie und verdreht die Augen. 'Merkst du nicht, was du dir antust? Ich rede von Heiraten und Kindern und Muffins und du kommst mir mit Hitler und den Nazis.'" Erfolglos versucht sie, Elif für den Kauf von Biozucchini auf dem Bauernmarkt und die anheimelnde Wirkung von Duftkerzen in der Wohnung zu begeistern. Doch am Ende hilft alles Weglaufen und Verleugnen nichts, denn die richtige Entscheidung fällt nicht Elif, die fällt sich von ganz allein – wenn man sie nur lässt.

Der Nutzen schwerer Zeiten

Und das tut sie: "Ich bin meiner Voreingenommenheit überdrüssig. Ich bin es leid, die Schönheit der kleinen Dinge nicht zu sehen, gegen Ehe und Familienleben zu sein, mich zu quälen und meine Koffer von Stadt zu Stadt und Land zu Land zu schleppen." Mit dieser Einsicht macht Elif Shafak dem Mann, der ihr die unerwartete große Liebe beschert, den wohl schrägsten Heiratsantrag, den je ein Mann bekam, indem sie ihm erklärt, sie sei zwar theoretisch immer noch gegen die Ehe, habe aber nichts dagegen, wenn er sie heirate.

Der spontanen Hochzeit ohne großes Zeremoniell folgen die erste Schwangerschaft und eine ausgewachsene Wochenbettdepression. Wie mit ihren inneren Stimmen diskutiert sie auch mit der Gestalt gewordenen Depression: einem fiesen, kleinen Dschinn mit glühenden Augen, Ziegenbart und Nickelbrille. Ob diese schwere Phase in ihrem Leben der Auslöser für dieses Buch, oder ob umgekehrt das Schreiben dieses Buchs der Weg aus der Depression war, weiß sie nicht mehr genau, aber es spielt auch keine Rolle. Die Erkenntnis, die sie dem Dschinn zu verdanken hat, ist die Quintessenz dieses Werks: dass man nie eine Facette seiner Persönlichkeit unterdrücken sollte, um irgendwelchen Rollenbildern gerecht zu werden. Mit Humor und Selbstironie schildert die Autorin auch so manchen Holzweg, auf den sie sich bei ihrer Suche begibt und hält uns zugleich immer wieder den Spiegel der Selbsterkenntnis vor, so dass man sich mehr als einmal bei eigenen Vorurteilen und Klischeevorstellungen ertappt fühlt.

Selbst die Monate der Depression vermag sie bei aller Schwere und Dunkelheit mit trockenem Witz zu erzählen, so dass man nie Gefahr läuft, selbst depressiv über der Lektüre zu werden. Stattdessen wird man vielleicht so manches mentale Hintertürchen für eigene schwere Zeiten daraus mitnehmen. Dabei ist das erzählerische Wechselspiel zwischen Abschnitten realer Autobiographie, fiktiven Disputen mit den kleinen Fingerfrauen und dem bösen Dschinn, der Auseinandersetzung mit den Schicksalen berühmter Schriftstellerinnen und den hin und wieder eingeflochtenen orientalischen Märchen und Fabeln überaus reizvoll. Elif Shafak beweist in jeder dieser Erzähldimensionen ein untrügliches Gespür für die Schönheit der Sprache, erfrischende Bilder und Situationskomik. Selten wurde die Geschichte einer realen Selbstfindung phantasievoller und amüsanter geschrieben.

Sabine Kleefisch

© Qantara.de 2010

Elif Shafak: "Als Mutter bin ich nicht genug. Postnatale Depression für Anfänger", VGS Verlag, Köln 2010.

Redaktion: Nimet Seker und Arian Fariborz/Qantara.de