Das Tor zur Sonne

Elias Khoury, Schriftsteller, Publizist und Hochschullehrer aus dem Libanon, wurde hierzulande mit zwei Romanen bekannt. Jetzt erschien sein einzigartiger Palästina-Roman "Das Tor zur Sonne". Martin Zähringer stellt das Epos vor.

Von Martin Zähringer

​​Das historische Thema: Die Vertreibung von etwa 800 000 Palästinensern, vorwiegend aus Galiläa im Norden des Landes, im Zuge des verlorenen ersten Palästinakriegs und der Staatsgründung Israels im Jahr 1948. "Al Nakba" heißt dieses historische Kapitel bei den Palästinensern, die Katastrophe. Eine Rückkehr in die alte Heimat ist den Flüchtlingen bis heute nicht erlaubt.

Von 1973 bis 1979 war Elias Khoury für das PLO-Research Center in den Flüchtlingslagern im Libanon tätig. Das hat ihm einen lebendigen Einblick in die mündlich tradierte Geschichte der Vertreibung ermöglicht. Viele der gesammelten Erzählungen fließen in seinen Roman ein, der allerdings mehr und anderes ist als ein historischer Roman. Er ist ein modernes Erzählwerk über die Arbeit an einer verdrängten Geschichte, an einem kollektiven Trauma. In unzähligen Versionen und Varianten werden zunächst die Ereignisse des Jahres 1948 ans Licht geholt, die Vertreibungsaktionen der Zionisten, die Flucht in die Olivenhaine, schließlich in den Libanon, die Geschichten vom Rückkehrfieber und vom Diebstahl der eigenen Lebensmittel in den enteigneten Häusern.

Verschlossene Münder

Der erste Teil des Romans baut ein historisches Setting von Palästina auf, wie es im Gedächtnis der Zeitzeugen besteht. Der zweite Teil beschreibt die Gegenwart der Diaspora, die der Autor aus eigener Erfahrung kennt. Unter anderem geht es um das Massaker in Schatila, das libanesische Milizen im Jahr 1982 mithilfe israelischer Logistik verübt hatten. Die Erinnerung daran ist wach, aber die Opfer wollen mit Fremden nicht darüber reden. Ein Theaterteam aus Paris etwa, das Jean Genets Stück darüber aufführen will, trifft nur auf verschlossene Münder.

Es braucht schließlich eine emphatische und vorbehaltlose Annäherung an die Täter, um sich über den fürchterlichen Hergang eine Vorstellung machen zu können. In diesem ganzen Roman geht es übrigens darum, wie man sich eine Vorstellung macht, auch darum, wie man falsche Vorstellungen wieder loswird. Das historische Material wird nicht einfach kolportiert, es wird geläutert. Dazu lässt Khoury es durch eine genial erfundene Erzählkonstruktion strömen:

Vielstimmiger Chorus

Der palästinensische Fedajin Khalil sitzt als Pfleger im Galiläa-Krankenhaus in Schatila und pflegt seinen Ziehvater und Freund Yunus, den Kämpfer und Helden der ersten Stunde, der schon vor 1947 gegen die Engländer angetreten war. Yunus liegt nach einem Schlaganfall im Koma, Khalil will ihn in Anlehnung an chinesische Traditionen durch Sprechen wieder beleben. Er erzählt Yunus dessen eigene Geschichte, die aber zusehends mit den Erzählungen seiner Großmutter, seiner Verwandten und Bekannten vermischt wird. Mehr und mehr wird in diesem stetig sich verändernden vielstimmigen Chorus deutlich, dass die alten Kämpfer- und Palästinamythen eben - Mythen sind.

Yunus Liebesgeschichte etwa, die jahrzehntelangen heimlichen Treffen mit seiner Ehefrau im "Tor zur Sonne", einer Höhle in Galiläa, tritt mehr und mehr als zentrales Motiv seines Handelns hervor. Yunus meint sogar, er habe nicht für Palästina gekämpft, sondern für seine Frau. Auch Khalils ungeklärtes Verhältnis zu seiner Geliebten Schams gerät in ein neues Licht, und er selbst in eine "talking cure" sehr persönlicher und subjektiver Art. Es ist letzten Endes auch ein Ziel des Romans, ganz in Übereinstimmung mit zeitgenössischen palästinensischen Literaturdebatten, die subjektiven Energien aus dem palästinensischen Drama hervorzuholen. In Elias Khourys Roman ist das hervorragend gelungen.

Filmische Adaption

Gelungen ist es auch in der klugen Weiterverarbeitung durch Yousry Nasrallahs filmische Adaption. Yousry Nasrallah ist mit Elias Khoury befreundet, gemeinsam mit Mohamed Soueid haben sie das Buch für die filmische Gestaltung umgeschrieben. Die komplexe epische Erzählstruktur wurde dabei zugunsten des subjektiven Dramas gestrafft. Yousry Nasrallah dazu: "Es ging nicht darum, die fehlenden Dokumente, die Bilder von der Nakba nachträglich zu schaffen. Was uns am meisten interessierte, ist die Subjektivierung. Wie wird ein Mensch, der in solch tragischen Umständen lebt, zum Subjekt, zum Individuum? Oder - wie bleibt er Mensch?"

Martin Zähringer

© Qantara.de 2004

lias Khoury – Das Tor zur Sonne. Roman. Aus dem Arabischen von Leila Chammaa. Klett-Cotta, Stuttgart 2004. Euro 25,00 Das Tor zur Sonne. (dt. synch. 270 Minuten) Film in zwei Teilen von Yousry Nasrallah nach dem Roman von Elias Khoury, Frankreich/Algerien/Marokko 2004, ARTE france Erstausstrahlung 7. und 8. Oktober 2004, je 20.45