Religiöse Fanatiker als rationale Akteure

In seinem Buch "Radikal, religiös und gewalttätig. Die neue Ökonomie des Terrorismus" rückt Eli Berman, Wirtschaftsprofessor an der University of California, neuartige Strategien zur Terrorismusbekämpfung in den Fokus seiner Analyse. Von James M. Dorsey

In seinem Buch "Radikal, religiös und gewalttätig. Die neue Ökonomie des Terrorismus" rückt Eli Berman, Wirtschaftsprofessor an der University of California, neuartige Strategien zur Terrorismusbekämpfung in den Fokus seiner Analyse. Von James M. Dorsey

​​ Der Vorsitzende der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) hatte 1973 ein Terrorismus-Problem. Seine Guerillakämpfer, darunter die Eliteeinheit "Schwarzer September", hatten die Misere der Palästinenser mit Gewalt auf die internationale Agenda gebracht.

Arafat, dem das Image des Anführers einer blutdürstigen terroristischen Organisation schadete, musste diesen Erfolg in politische und diplomatische Vorteile umwandeln.

Der Terrorismus brachte seine internationale Legitimität in Gefahr. Die Eliteeinheit "Schwarzer September" hatte während der Münchner Olympiade von 1972 einen Anschlag auf die israelische Mannschaft verübt, den jordanischen Premierminister Wasfi at-Tall und die Botschafter der USA und Belgiens im Sudan ermordet, ein belgisches Passagierflugzeug entführt und Ziele in Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien und Griechenland angegriffen.

Arafat musste die 100 Aktivisten des "Schwarzen Septembers" unter Kontrolle bringen, denen es "in den Fingern juckte", weitere Angriffe zu lancieren. Um dieses Ziel zu erreichen, entschied sich der PLO-Führer, den Mitgliedern seiner Einheit einen Grund zu geben, lieber zu leben als zu sterben.

So rekrutierte er 100 junge Palästinenserinnen, die sich für die Sache engagierten. Den Aktivisten wurde jeweils eine Wohnung in Beirut, ausgestattet mit einem Gasofen, einem Kühlschrank und einem Fernseher, sowie 3.000 Dollar in bar angeboten, wenn sie eine der Frauen heirateten.

Der Trick funktionierte so gut, dass die Aktivisten nicht nur der Gewalt abschworen, sondern fortan auch nicht mehr an politischen und diplomatischen Missionen der PLO teilnehmen wollten, da sie befürchteten, außerhalb Libanons festgenommen und von ihren Familien getrennt zu werden. Vom "Schwarzen September" hat man seither nichts mehr gehört.

Wichtige Lehren für die Terrorismusbekämpfung

​​ Arafats Ansatz ist ein Vorläufer des viel gelobten Rehabilitationsprogramm Saudi-Arabiens für Al-Qaida-Aktivisten, die gefangen genommen wurden oder sich selbst gestellt haben. Der Schlüssel des Ansatzes liegt darin, militante Organisationen in ihrer Fähigkeit zu neutralisieren, den Ausstieg ihrer Aktivisten zu verhindern.

Besonders zielt er dabei auf die religiös motivierten wie gegenwärtig gefährlichsten Gruppen ab, nämlich auf Libanons Hisbollah, Palästinas Hamas, Pakistans Lashkar e-Taiba und die Taliban.

In seinem Buch "Radikal, religiös und gewalttätig. Die neue Ökonomie des Terrorismus" rückt Eli Berman, ehemaliges Mitglied der Golani-Elitebrigade des israelischen Militärs und mittlerweile Ökonom an der University of California, die Achillesferse militanter Gruppen in den Fokus.

So zitiert er ein Interview mit einem ehemaligen Vietkong-Rebellen, das der Politikwissenschaftler Sam Popkin durchgeführt hat - vier Jahrzehnte, nachdem er den Guerillakämpfer zum ersten Mal traf.

Versammlung von Anhängern der schiitischen Hisbollah in Beirut; Foto: AP
Besonders zielt Eli Berman in seiner Analyse auf die religiös motivierten und gegenwärtig militantesten islamistischen Gruppierungen ab, nämlich auf Libanons Hisbollah, Palästinas Hamas sowie Pakistans Lashkar e-Taiba und die afghanischen Taliban.

​​Der Vietkong-Aktivist erinnerte sich, dass es für die Gruppe von Kämpfern einige Tage in Anspruch nahm, sich von dem Verlust von Kameraden zu erholen, die während einer militärischen Aktion ums Leben kamen, aber dass es Monate dauern konnte, um den Schaden zu begrenzen, der von einem Abtrünnigen verursacht worden war.

Aus dem "Schwarzen September" und Saudi-Arabien lassen sich wichtige Lehren für künftige Strategien der Terrorismusbekämpfung ziehen - und für die Bemühungen des Westens, die Aufstände in Afghanistan, Pakistan und im Irak zu bekämpfen und sogenannte "gescheiterte Staaten" wieder zu stabilisieren.

Berman argumentiert, dass es nicht die Religion sei, die Gruppen wie Hisbollah und Hamas zu den gefährlichsten militanten Organisationen macht.

Diese Organisationen könnten eine ernsthafte Bedrohung für Regierungen darstellen, im Gegensatz zu Al-Qaida oder zum "Jewish Underground", die in den frühen 1980er Jahren Palästinenser in der West Bank zur Zielscheibe nahmen – Gruppen, die schrittweise geschwächt oder besiegt wurden.

Die tatsächliche Stärke solcher Gruppen wie Hisbollah und Hamas liege darin, dass sie auf der Bereitstellung sozialer Dienstleistungen – Bildung, Gesundheit, Sport – sowie der Durchsetzung von Recht und Ordnung aufbauen könnten, die zumeist noch vor der Hinwendung zu gewalttätigen Mitteln etabliert wurde, um Loyalität zu sichern und eine Lossagung ihrer Mitglieder zu verhindern.

Das schließe Selbstmordattentäter mit ein, die Berman als rationale Altruisten darstellt und nicht als geistesgestörte Aktivisten, die von Hass vergiftet sind und deren Anreize in himmlischen Belohnungen liegen.

Angebot praktikabler Ausstiegsoptionen

Erfolgreiche militante Gruppen erschaffen durch ihre Bereitstellung von Dienstleistungen ein Umfeld gegenseitiger Unterstützung und begrenzen die wirtschaftlichen und sozialen Alternativen, die Mitgliedern außerhalb dieses Umfelds offen stehen.

Tatsächlich sind Gruppen wie Hisbollah und Hamas wirtschaftliche Vereinigungen, die auf die spirituellen und materiellen Bedürfnisse ihrer abhängigen Mitglieder zugeschnitten sind. Je größer der Einkommensfluss ist, den sie, häufig durch kriminelle Aktivitäten wie Schmuggel und Drogenhandel, hervorbringen können, desto besser gelingt ihnen das.

"Radikale Islamisten haben Erfolg, wenn Regierungen es ihnen erlauben, diese Methoden ungestraft anzuwenden, indem sie ihnen die Bereitstellung grundlegender sozialer Dienstleistungen wie Sicherheit, Bildung und Gesundheitspflege überlassen", sagt Berman und merkt an, dass das Vereinsmodell nicht nur auf Islamisten beschränkt ist.

Eli Berman; Foto: &copy Eli Berman
Eli Berman ist Professor für Ökonomie an der University of California und Research Director für internationale Sicherheitsstudien am Institut der University of California mit dem Schwerpunkt globale Konflikte und Kooperationen

​​ Die sizilianische Mafia zum Beispiel ging aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs hervor, indem sie sich als wirtschaftlicher Verein neu zum Leben erweckte. Arafat etwa ist es gelungen, ehemalige Militante zu normalen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, gerade weil sie den von solchen Vereinigungen aufgezwungenen Teufelskreis durchbrechen konnten, indem sie den Mitgliedern Ausstiegsoptionen boten.

Zumindest theoretisch ist diese Lektion in die Lehre der Strategien zur Terrorismus- und Widerstandsbekämpfung durchgesickert. Die Kosten-Nutzen-Kalkulation, die aus dieser Lehre folgt, und die organisatorischen Konsequenzen, die sich daraus für das Militär ergeben, müssen den Verantwortlichen allerdings erst noch bewusst werden, um auf Worte auch Taten folgen zu lassen.

Nachhaltiger Ansatz

Bermans Konzept zur Terrorismusbekämpfung schließt es mit ein, den Mitgliedern militanter Vereinigungen Ausstiegsoptionen zu bieten, mit Rebellen in direkte Konkurrenz um die Bereitstellung sozialer und wirtschaftlicher Dienstleistungen zu treten, Dienstleistungsanbieter zu beschützen und die Einnahmen von Rebellen, die aus illegalen wirtschaftlichen Aktivitäten stammen, zu reduzieren.

Seine Kosten-Nutzen-Kalkulation wird besonders klar, wenn man analysiert, wie militante Gruppen Selbstmordattentäter einsetzen. Die Analyse zeigt, dass Rebellengruppen diese nämlich fast ausschließlich einsetzen, wenn es um gut gesicherte Ziele geht, für deren Schutz Regierungen jährlich Hunderte von Milliarden von Dollar ausgeben.

Aus der Sicht Bermans übersteigen die Kosten der Sicherung von Angriffszielen und deren Verteidigung gegen Selbstmordattentäter bei Weitem die Kosten, die sich ergäben, wenn man militante Vereinigungen schwächte und deren Fähigkeit zum Einsatz von Selbstmordattentätern auf ein Mindestmaß beschränkte.

"Sich darauf zu konzentrieren, noch den letzten Terroristen gefangen zu nehmen oder zu töten (oder irgendeinen "Warlord" dafür zu bezahlen), kann aller Wahrscheinlichkeit nach nur kurzfristig erfolgreich sein, denn die zugrunde liegenden Umstände schwacher Staatlichkeit und/oder mangelhafter Bereitstellung von Dienstleistungen würden wohl immer wieder neue terroristische Vereine hervorbringen", so Berman. "Die Herausforderung besteht darin, einen Weg zu finden, verbündete Regierungen in Ländern, die gegenwärtig den Terrorismus fördern, nachhaltig zu stabilisieren, und zwar nicht nur, indem ihre Fähigkeit zum Einsatz von Gewaltmitteln gestärkt wird, sondern auch, indem die lokalen Regierungen dazu befähigt werden, grundlegende Dienstleistungen bereitzustellen, die die Versorgung durch die militanten Gruppen überflüssig machen", so Bermans Argumentation.

Je früher es den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten gelingt, Worte, wie sie in Bermans Theorie verankert sind, in Taten zu überführen, desto früher kann Terrorismusbekämpfung nachhaltige Ergebnisse erzielen.

James M. Dorsey

© Qantara.de 2011

Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Kappe

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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