Gefangen zwischen Weltmächten

Husayn wird als typische transimperiale Figur dargestellt, die gefangen ist inmitten des Kampfes zwischen osmanischen und französischen Streitkräften um die Vorherrschaft im Mittelmeerraum. Die Geschichte seines Lebens und seines Nachlasses zeigt, wie tief die tunesische, nordafrikanische, französische, italienische und osmanische Geschichte miteinander verflochten sind.

Die Streitigkeiten um Husayns Nachlass nach seinem Ableben umfassten ein weites Feld von Personen: Rechtsanwälte, italienische Senatoren, Pariser Bankiers, Husayns tunesische Diener, Muslime, christliche und jüdische Pächter seiner Besitztümer und Mitglieder der Sufi-Bruderschaft im Maghreb, in Ägypten und Istanbul.

Darüber hinaus entlarvt die Erforschung der Geschichte Tunesiens zu Husayns Lebzeiten und nach seinem Tod mehrere Bereiche, die in dem großen Narrativ übersehen oder unterschätzt wurden. So zeigen uns Husayns Erlebnisse in der Sklaverei beispielsweise die Rollen lokaler Akteure bei der juristischen Abschaffung der Sklaverei, während die europäisierte Geschichtsschreibung dies allein auf europäische Interventionen zurückführt. Ein Beleg dafür ist der liberale Ton und Tenor eines Briefes, den Husayn 1864 an den US-Konsul in Tunis schrieb, in dem er darlegt, wie Tunesien seinen Sklavenhandel beendete, und in dem er seine ausdrückliche Unterstützung für die Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten zum Ausdruck brachte.

Das erste Kapitel des Buches befasst sich mit Husayns Leben nach seiner Ankunft in Tunis als Sklave in den 1820er Jahren bis zu seinem Exil in Florenz 1880. Das zweite Kapitel befasst sich mit Husayns Vermögenswerten – wie seinen Immobilien, beweglichen Gütern und Guthaben – und gibt somit Einblick in den transimperialen Charakter der Debatten um öffentliches und privates Eigentum im Maghreb. Das dritte Kapitel vertieft diese Diskussion, indem es Husayns Umgang mit zwei Finanzskandalen in seiner späteren Laufbahn behandelt. Der Skandal betraf zwei tunesische Würdenträger, die nach der Veruntreuung tunesischer öffentlicher Gelder nach Europa flohen. Husayn vermittelte im Namen des tunesischen Staates in dem darauf folgenden Finanzstreit.

 

 

Der Hauptschwerpunkt von Oualdis Buch liegt auf der Kontextualisierung der Geschichte der kolonisierten Gesellschaften Nordafrikas mit Blick auf ihr osmanisches Erbe. Obwohl die Osmanen vier Jahrhunderte lang die Herrschaft über Algier, Tunis und Tripolis innehatten, stellen die meisten historischen Abhandlungen diese Provinzen immer noch als autonome, von Istanbul unabhängige Regionen dar.

Oualdi nimmt eine Neubewertung des osmanischen Charakters des Maghreb vor und untersucht die bleibenden Auswirkungen des osmanischen Erbes in der Region. Er vertritt die Ansicht, Nordafrika sei nicht nur Grenzland des Osmanischen Reiches gewesen, sondern auch „einer von vielen Schauplätzen von Zusammenstößen und Begegnungen zwischen konkurrierenden imperialen Ambitionen“.

Das Buch enthüllt zudem mehrere Ungereimtheiten, die dem imperialen Narrativ anhaften. Beispielsweise den Widerspruch zwischen den hehren republikanischen Prinzipien, die die Großmächte im eigenen Land vertraten, und ihrem Verhalten in den von ihnen besetzten Kolonien. 

Integrierte Perspektive

Oualdi hält es für unverzichtbar, die koloniale und die sogenannte präkoloniale Zeit in einem Gesamtrahmen zusammenzuführen, damit die Debatten und Divergenzen innerhalb der maghrebinischen Gesellschaften nachvollziehbar werden. Die Kolonialgeschichte aus einer solchen integrierten Perspektive zu lesen, kann dazu beitragen, bestehende Analysestrukturen zu überdenken und neu zu justieren. Sie kann auch dazu beitragen, die bedeutenden finanziellen, intellektuellen und familiären Netzwerke im Mittelmeerraum aufzudecken, die von Historikern entweder unterschätzt oder übersehen wurden.

Eine solche transimperiale Perspektive sei auch hilfreich, um die missliche Lage maghrebinischer Einwanderer zu verstehen, die sich in Europa niedergelassen haben. Ihre Präsenz in Europa sei nicht nur das Ergebnis der Kolonialisierung, sondern gehe auch auf frühere Verbindungen zwischen den maghrebinischen Gesellschaften und dem nördlichen Rand des Mittelmeers in der frühen Neuzeit zurück.

Muhammed Nafih Wafy

© Qantara.de 2020

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