Ein Altmeister der algerischen Literatur

Am 21. Juli wäre Mohammed Dib, einer der Gründerväter der algerischen Literatur französischer Sprache, 100 Jahre alt geworden: 2020 in Tlemcen geboren, am 2. Mai 2003 im Pariser Vorort La Celle-Saint-Cloud gestorben, verbrachte Algeriens Nationaldichter die längste Zeit seines Lebens im Exil. Von Regina Keil-Sagawe

Von Regina Keil-Sagawe

Er wirkte eher wie ein britischer Gentleman, und doch: "Wir werden immer zu den Immigranten und Zigeunern gehören, die am Stadtrand campieren und im Verdacht stehen, den Einheimischen ihre Hühner zu stehlen", bemerkt noch 1993 jener Autor, der als erster Maghrebiner überhaupt 1994 den Grand Prix de la Francophonie der Académie Française erhält. Und der mehr als einmal für den Literaturnobelpreis im Gespräch ist: Mohammed Dib, Grandseigneur der algerischen Literatur französischer Sprache, einer der Großen der Weltliteratur.

Er wird 1920 im westalgerischen Tlemcen geboren, Spross einer verarmten musischen Bürgerfamilie, in der man das höfische Erbe des maurischen Andalusien hochhält. Er versucht sich in diversen Brotberufen, als Landschullehrer unter Nomadenkindern, Buchhalter und Armeedolmetscher, Journalist und Teppichdesigner, bevor er ganz zu seiner Berufung findet: dem Schreiben.

Einen berührenden Einblick in das Milieu von Dibs Kindheit und Jugend vermittelt sein autobiografischer Foto-Essay Tlemcen ou les Lieux de l'Ecriture ("Tlemcen oder die Orte des Schreibens"), soeben in Algier (Editions Barzakh) in erweiterter Neuauflage erschienen, mit einem Vorwort von Waciny Laredj, graphisch neu gestylt von Louise Dib, die die künstlerische Ader ihres Großvaters geerbt hat.

Verfasser des algerischen Nationalepos: "Das große Haus"

Weltruhm errang Mohammed Dib mit seiner frühen Algerien-Trilogie La grande maison (1952, dt. 1956: Das große Haus), L'Incendie (1954, dt. 1956: Der Brand), Le métier à tisser (1957, dt. 1959: Der Webstuhl), mit der er den Reigen jener ersten Generation maghrebinischer AutorInnen französischer Sprache anführt, der in Algerien neben Dib auch Kateb Yacine (1929-89), Mouloud Feraoun (1913-61), Mouloud Mammeri (1917-89) und Assia Djebar (1936-2015) angehören, in Tunesien der unlängst verstorbene Albert Memmi (1920-2020), in Marokko Driss Chraïbi (1926-2007).

In Das große Haus, übrigens der erste ins Deutsche übersetzte Roman eines Maghrebautors überhaupt (Volk&Welt, Ostberlin), schildert Dib die krasse Armut und aufkeimende Revolte der algerischen Bevölkerung unter dem französischen Kolonialregime zu Beginn des 2. Weltkriegs. Auch engagiert er sich neben Henri Alleg und Kateb Yacine in der Kommunistischen Partei, schreibt sozialkritische Reportagen für das Partei-Organ Liberté und den Alger Républicain und wird prompt von den Kolonialbehörden des Landes verwiesen. Mit seiner Frau Colette Bellissant lässt er sich 1959 zunächst in Südfrankreich nieder.

Buchcover Buchcover "Tlemcen ou les lieux de l'écriture"; Quelle: Images Plurielles Mohammed Dib
Einen berührenden Einblick in das Milieu von Dibs Kindheit und Jugend vermittelt sein autobiografischer Foto-Essay "Tlemcen oder die Orte des Schreibens", soeben in Algier in erweiterter Neuauflage erschienen, mit einem Vorwort von Waciny Laredj, graphisch neu gestaltet von Louise Dib, die die künstlerische Ader ihres Großvaters geerbt hat.

Doch im postkolonialen Algerien, dessen FLN-Einparteien-Regime keine Kritik vertrug, würde Dib nie wieder Fuß fassen können. Nichtsdestotrotz blieb sein umfangreiches Werk, das in 51 Jahren auf 37 Bände anwachsen sollte (darunter Romane, Lyrik, Theater, Essays, Erzählungen, Volksmärchen und Kindergeschichten), bis zuletzt in der Substanz Algerien verbunden, auch wenn die externen Schauplätze später wechselten.

Literarisches Pendant zu Guernica

Bis zuletzt auch experimentiert Mohammed Dib mit literarischen Formen und Themen, bis zuletzt bleibt er seinem humanistischen Anspruch treu, pocht auf die Einheit von literarischem Ehrgeiz und ethischer Verantwortung eines Autors.

Ist die in über 20 Sprachen übersetzte, 1974 fürs algerische Fernsehen verfilmte Algerien-Trilogie, bis heute Pflichtlektüre algerischer Schulkinder, noch in realistischem Stil verfasst, bewirkt das Grauen des algerischen Befreiungskriegs (1954-1962) einen radikalen Bruch in Dibs Schreibweise. Diese schließt fortan surreale und onirische Elemente mit ein, macht Anleihen bei Tiefenpsychologie, Mystik, Science Fiction.

Dib selber bezieht sich im Vorwort zu seinem Fantasy-Roman Qui se souvient de la mer (1962; dt 1992: Und ich erinnere mich an das Meer), der in apokalyptischen Bildern ein alptraumhaftes Fresko des Befreiungskriegs entwirft (und von dem es eine eindrucksvolle deutsche Hörspielfassung gibt), explizit auf Picassos Gemälde Guernica, indem er sich fragt: "Wie kann man nach Auschwitz, nach dem Warschauer Ghetto, nach Hiroshima über Algerien schreiben?"

Sadaqa - Mitmenschlichkeit als zentrales Konzept in Dibs literarischem Kosmos

Während Dib in den vier Folgeromanen Cours sur la rive sauvage (1964), La Danse du roi (1968), Dieu en Barbarie (1970), Le Maître de chasse (1973) noch die Auswüchse des algerischen Staatssozialismus moniert und neue soziopolitische Visionen andenkt, schlägt er 1977 definitiv das Kapitel der Exilliteratur auf: mit dem Roman Habel (dt. 1991), der, angesiedelt im Großstadtmoloch Paris, aktueller denn je die Frage nach der Verantwortung der Menschen füreinander stellt: "Bin ich der Hüter meines Bruders?"

Anklänge an religiöse Motive und die großen Menschheitsmythen ziehen sich leitmotivisch durch Dibs Werk, ebenso wie die Topoi (existenzieller) Verlorenheit und (kultureller) Fremdheitserfahrung, die ewige Suche des Menschen nach sich selbst wie nach dem Anderen ... den er in sich und in dem er sich selber sieht.

Rachid Koraichis Litho-Serie zu Dibs Werk "L'Enfant-Jazz"; Quelle: rachidkoraichi.com
Für sein Werk L'Enfant-Jazz, vom algerischen Kalligraphie-Künstler Rachid Koraichi illustriert, wird Mohammed Dib 1998 der prestigiöse Prix Mallarmé zuerkannt. "Dib gilt als Monolith in der algerischen Literaturlandschaft, dessen Werk in seiner überwältigenden Fülle, seiner großen Diversität und radikalen Originalität alles überragt", schreibt Regina Keil-Sagawe. .

Und stets findet Dib Bilder und Sätze von packender Prägnanz: "Es ist eigenartig, wie die Welt immer voller von Ausländern ist", heißt es im Roman Les Terrasses d'Orsol (1985, dt. 1991: Die Terrassen von Orsol), einer bitterbösen Nord-Süd-Parabel mit kafkaesken Zügen, deren Hauptfigur, Abgesandter des globalen Südens, in den Sog einer mit unförmigen Kreaturen besiedelten Grube vor den Toren einer futuristischen Metropole gerät: Metapher für die Randfiguren der Gesellschaft, Migranten, Asylanten, für die gewaltige Kluft zwischen Reich und Arm, Nord und Süd, die Dib aus eigener Anschauung kennt.

Finnland und Kalifornien

Ab 1975 bereist er Finnland, übersetzt dessen Autoren, verwandelt in eigenen Romanen die Weite finnischer Wälder in introspektive Seelenlandschaften, in denen sich nordische Mythen und islamische Mystik durchdringen (1989: Sommeil d'Eve ; dt. "Die Wolfsbraut", Übersetzung nicht publiziert; 1990: Neiges de marbre ("Marmorschnee").

Einladungen in die USA (1974 als Gastdozent an der Universität von Los Angeles) flößen seiner kristallinen Poesie neue Rhythmen ein, den Spirit von Gospel, Jazz und Blues. 2003, in Dibs Todesjahr, erscheint der mit amerikanischen Einsprengseln versetzte Versroman LA-Trip, der im Netz als bilinguale Edition zirkuliert; für L'Enfant-Jazz, vom algerischen Kalligraphie-Künstler Rachid Koraichi illustriert, wird ihm 1998 der prestigiöse Prix Mallarmé zuerkannt.

Von Schnee und Wüstensand

Dib gilt als Monolith in der algerischen Literaturlandschaft, dessen Werk in seiner überwältigenden Fülle, seiner großen Diversität und radikalen Originalität alles überragt. Sein philosophisch-verrätselter Kosmos ist nicht immer so zugänglich wie in seinem altersweisen, märchenhaften Roman L'Infante Maure, 1994 (dt. 1997 und 2016: Die maurische Infantin), in dem die neunjährige Lyyli Belle, Spross zweier Migranten, einer polnischen Mutter und eines maghrebinischen Vaters, in einer finnischen Mittsommertraumnacht ihrem imaginären Großvater, einem Wüstenscheich, den Schnee erklärt.

Ausschnitt aus dem Triptychon des marokkanischen Künstlers Nabili 1997; Foto: Regina Keil-Sagawe
Ausschnitt aus dem Triptychon, das der marokkanische Künstler Nabili 1997, vom Roman "Die maurische Infantin" inspiriert, im Rahmen der "Kulturmeile Maghreb in Heidelberg" mit Wüstensand geschaffen hat: den Satz "Ich kenne jetzt also den Sand und den Schnee ...etc", in 3 Sprachen: Französisch - Deutsch - Arabisch)

Am Ende sieht sie ein, dass es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen beiden gibt: "Ich kenne jetzt also den Sand und den Schnee. Und in gewisser Weise sind sie Geschwister", lautet der Schlüsselsatz dieses Romans, der sich als poetisches Plädoyer für interkulturelle Toleranz lesen lässt, als literarisches Manifest gegen Huntingtons Clash-of-Civilizations-These, die im Jahr zuvor erschienen war.

Frankreich - Algerien: Highlights im Dib-Gedenkjahr

Events, die den "Centenaire Mohammed Dib" markieren, sind die jüngst erschienene, von Hervé Sanson edierte  Sondernummer "Mohammed Dib" der renommierten Pariser Literaturzeitschrift Europe (Juni-Aug.2020), sowie ein von der Société Internationale des Amis de Mohammed Dib organisiertes Symposium im erlauchten Rahmen des Schlosses Cérisy in der Normandie vom 1.-5. September.

In Algerien selbst wurde das Dib-Gedenkjahr, das im Februar 2020 hätte beginnen sollen und eine Fülle an Veranstaltungen auf der Agenda hatte, coronabedingt vertagt.

Einzig erhaltener Programmpunkt: die Vergabe des Prix Mohammed Dib. Vergeben wird er von der in Dibs Geburtsstadt Tlemcen angesiedelten Association Culturelle La Grande Maison, der einstigen Fondation Mohammed Dib. Am 27. Juni trat die Jury online zusammen, auf der Longlist 23 AutorInnen und sämtliche in Algerien vertretenen Literatursprachen: Arabisch, Französisch und Amazigh; zudem ist für den 17.-19. Oktober unter dem Titel "Atlals" (Spuren) eine internationale Tagung zu Dibs Oeuvre geplant.

Dib selbst sprach von seinem Oeuvre gern als von einer "constellation". Dass der 100. Geburtstag dessen, der der Welt, so die algerische Dib-Spezialistin Naget Khadda, mit seinem Werk einen "sprühenden Lichtschweif" hinterlässt, ausgerechnet mit dem seltenen Schauspiel eines Kometenflugs koinzidiert, dürften Dib-Fans weltweit als Fingerzeig des Kosmos werten ...

Regina Keil-Sagawe

© Qantara.de 2020

Regina Keil-Sagawe hat u.a. Mohammed Dibs Roman "Die maurische Infantin" ins Deutsche übersetzt und 2005 in der Reihe "Expressions Maghrébines" (Vol. 4/2) die erste Sondernummer zu seinem lyrischen Werk (mit Beiträgen in englischer und französischer Sprache) herausgegeben: "Mohammed Dib poète".