Für einen neuen Libanon

Aktivistengruppe Minteshreen aus dem Libanon; Foto: Minteshreen
Aktivistengruppe Minteshreen aus dem Libanon; Foto: Minteshreen

Nach der Katastrophe im Hafen von Beirut vor einem Jahr hat der libanesische Staat total versagt. Die jungen Aktivisten der Bewegung "Minteshreen" wollen daher die politischen Verhältnisse in ihrem Land ändern. Ihr Ziel ist eine überkonfessionelle, solidarische Gesellschaft. Aus Beirut informiert Sina Schweikle.

Von Sina Schweikle

Vor einem Haus im Beiruter Stadtviertel Mar Mikhael stehen junge Menschen. Lässig lehnen einige an der Hauswand, während andere mit Zigarette in der Hand am Straßenrand sitzen. Die Stimmung ist locker, die Gruppe diskutiert über die jüngsten Ereignisse im Land. "Die Politiker nehmen uns alles und stecken sich so einiges in die eigenen Taschen! Wir müssen das anders machen", fordert einer. Es ist Donnerstag, der wöchentliche "Tag der offenen Tür" bei Minteshreen.

Als im Oktober 2019 hunderttausende Libanesen auf die Straße gehen, um gegen die korrupte Elite zu protestieren, sind auch der Rechtsanwalt Hussein el-Achi und sein Freund, der Marketingexperte Samer Makarem, unter ihnen. Heute ist Hussein Generalsekretär und Samer der Protokollführer von Minteshreen - einer Gruppe junger Aktivisten, die sich bei den Protesten 2019 kennen lernten.

Minteshreen, das bedeutet so viel wie "sich ausbreiten". Und ausbreiten möchten sich die jungen Menschen mit ihren Ideen und Visionen im gesamten Libanon. Aus der Aktivistengruppe ist mittlerweile eine Bewegung entstanden, die sich mit ihren rund 100 Mitgliedern als unabhängige politische Partei im Libanon etablieren möchte. "Wir sind hungrig nach Veränderung", sagt Hussein, etwas aufgewühlt. "Wir wissen zwar, dass Veränderung nicht von heute auf morgen kommt - aber sie wird kommen, und wir treiben sie voran", ergänzt Samer, eher ruhig.



Eine Katastrophe und ihre Folgen

Als am 4. August vergangen Jahres rund 2750 Tonnen Ammoniumnitrat am Hafen von Beirut explodierten und weite Teile der östlichen Stadtviertel verwüsteten, schloss sich Minteshreen mit mehreren anderen libanesischen Nichtregierungsorganisationen zusammen und gründete das sogenannte "Basecamp" in Mar Mikhael. "Von dort aus haben wir all die Aufgaben übernommen, denen sich nach einer solchen Katastrophe eigentlich der Staat stellen sollte", erklärt der 33-jährige Hussein. So sanierten sie Häuser, boten psychologische Unterstützung an und verteilten Lebensmittel an Menschen in Not. Wenige Tage darauf entschieden die Aktivisten, sich als politische Partei zu registrieren. Dieser Schritt, so Hussein, habe für viel Gegenwind gesorgt. "Immer wieder werden wir von Sicherheitskräften einberufen und stundenlang befragt. Man legt uns Steine in den Weg. Die etablierten Parteien haben Angst vor uns. Aber wir haben keine Angst vor ihnen", sagt der Anwalt kämpferisch.

Aktivistengruppe Minteshreen aus dem Libanon; Foto: Sina Schweikle
"Ich bin Libanese. Das ist nicht definiert durch meine Religion, sondern durch meinen Geburtsort,“ sagt der 30-jährige Aktivist Samer Makarem von Minteshreen, links im Bild. Er sieht in neuen Bewegungen wie Minteshreen die Zukunft des Landes. "Wir sind alle Libanesen. Es ist eine Verbindung zum Staat und nicht zur Religion." Aus der 2019 entstandenen Aktivistengruppe ist mittlerweile eine Bewegung geworden, die sich mit ihren rund 100 Mitgliedern als unabhängige politische Partei im Libanon etablieren möchte. "Wir wissen zwar, dass Veränderung nicht von heute auf morgen kommt - aber sie wird kommen, und wir treiben sie voran".





Jenseits konfessioneller Grenzen

Viele junge Libanesen verachten die altgedienten Politiker - oder sehen in ihnen sogar Kriegsverbrecher, die sich seinerzeit im Bürgerkrieg profilierten. Sie sehnen sich nach Veränderung in einem Land, von dem sie sich im Stich gelassen fühlen. Das soll bei Minteshreen anders werden: "Sieh dich um", sagt Hussein el-Achi zur Reporterin aus Deutschland. "Bei uns siehst du junge Menschen aus allen Religionsgemeinschaften. Samer ist beispielsweise Druse. Maroun ist Christ. Ich bin Schiit. Wir alle verfolgen dasselbe Ziel: Staat statt Religion!" Um dieses Ziel zu erreichen, fokussiert sich Minteshreen auf politische Bildung. Hussein und Samer sind zurzeit viel unterwegs, um sich mit potentiellen Partnern zu treffen, die dieselben Werte wie sie verfolgen. Mit sogenannten "Townhall-Gespräche" soll bei jungen Menschen ein Bewusstsein für Politik geschaffen werden.

Ein möglicher Partner hierfür könnte auch Nicola sein. Der junge Libanese stammt aus Hamat, einer Stadt rund 50 Kilometer nördlich von Beirut. Dort setzt er sich - freiwillig und politisch unabhängig - mit Projekten für den Zusammenhalt der Kommune ein. Eine Arbeit, die auch Minteshreen wichtig findet. Deshalb sucht man nun nach möglichen Anknüpfungspunkten. Der 30-jährige Samer sieht genau in solchen Formen der Zusammenarbeit die Zukunft des Landes. "Ich bin Libanese. Das ist nicht definiert durch meine Religion, sondern durch meinen Geburtsort. Wir sind alle Libanesen. Das ist eine Verbindung zum Staat und nicht zur Religion."



"Jeden Tag eine neue Katastrophe"

Minteshreen möchte den Menschen im Libanon bei den 2022 anstehenden Wahlen zeigen, dass es eine Alternative zu den altbekannten Parteien und Politikern gibt. Denn Alternativen, so scheint es, sind aktuell genau das, worauf es im Libanon ankommt. "Jeden Tag stehen wir vor einer neuen Katastrophe", sagt Samer sarkastisch. "Unsere Politiker sind moralisch und politisch bankrott", ergänzt Hussein. Deshalb sei genau jetzt der richtige Zeitpunkt, um Minteshreen als demokratische Partei in Gang zu bringen. "Wenn wir es als Land nicht jetzt schaffen, eine wahre Demokratie zu entwickeln, dann werden wir es nie hinbekommen", sagt Hussein.

Aktivistengruppe Minteshreen aus dem Libanon; Foto: Minteshreen
Dienst an der Gesellschaft: Die Aktivisten von Minteshreen engagieren sich für Menschen in Not und übernehmen Aufgaben, die eigentlich der libanesische Staat erfüllen sollte. So leisten sie etwa karitative Hilfe für hungernde Familien oder reinigen die Strände des Libanon, nachdem diese durch eine Ölpest verschmutzt wurden, schreibt Sina Schweikle in ihrem Bericht. Nach der Katastrophe im Hafen von Beirut vor einem Jahr verteilten sie Lebensmittel an Bedürftige, sanierten Häuser und boten psychologische Unterstützung an.

Dafür setzen sich die jungen Menschen neben ihren beruflichen Tätigkeiten ehrenamtlich für die Gesellschaft ein - und übernehmen Aufgaben, die eigentlich der libanesische Staat erfüllen sollte. So leisten sie etwa karitative Hilfe für hungernde Familien oder reinigen die Strände des Libanon, nachdem diese durch eine Ölpest verschmutzt wurden. Hussein und Samer sind dauerhaft besorgt um ihr Land - aber sie sehen keinen Anlass, es zu verlassen oder ihr Engagement aufzugeben. "Schau dich um", schwärmt Samer: "Ist das nicht das schönste Land der Welt?!" Er holt tief Luft und blickt auf den Horizont über dem Meer.



Für eine bessere Zukunft

Was die genaue politische Ausrichtung betrifft, so ist Minteshreen, wie der Libanon selbst, auf Identitätssuche. "Wir müssen lernen, uns selbst als Staat zu identifizieren und als Staat zu agieren. Wir könnten so viel erreichen", sagt Samer. Es wäre eine Entwicklung, die viel Zeit in Anspruch nimmt und Arbeit über mehrere Generationen hinweg bedeutet - dessen sind sich die beiden Aktivisten bewusst.

Die Frauen von Hussein und Samer fragen die Beiden immer wieder, warum sie diese Arbeit machen und sich den ständigen Kampf antun. "Es ist der Kampf für eine bessere Zukunft", antwortet Hussein dann immer. Er erwartet gemeinsam mit seiner Frau noch im Juni sein erstes Kind.

Sina Schweikle

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