Im Exil zwischen Kulturen

Der Name Edward Said wird in der Regel mit seiner Kritik am Orientalismus in Verbindung gebracht. Angesichts dessen rückt das Thema des Exils oft in den Hintergrund, welches jedoch eine nicht minder zentrale Rolle in Saids Schreiben und Leben einnimmt. Von Tarek Azizeh

Von Tarek Azizeh

"Das Leben im Exil verläuft nicht entlang der Chronologie unseres vertrauten Kalenders. Es ist azyklisch und unbeständig. Exil bedeutet ein Leben außerhalb der gewohnten Ordnung, nomadisch und ohne festen Ankerpunkt. Doch sobald sich der Mensch an das Exil gewöhnt, wird er stets aufs Neue von der ihm innewohnenden destabilisierenden Kraft erschüttert." (Edward Said)

Es ist kein Zufall, dass sich Said in seinem ersten Buch ("Joseph Conrad and the Fiction of Autobiography" | 1966), dem Autor Joseph Conrad widmet, in dessen Leben er viele Parallelen mit seinen eigenen Erfahrungen erkennt. Aus Polen stammend, in England mit englischer Staatsbürgerschaft lebend, empfand Conrad ein tiefes Bedauern über den Verlust der eigenen Muttersprache und Heimat.

In England sah er sich mit einem Zustand des Zwiespalts und der persönlichen Zerrissenheit konfrontiert. Für ihn war es ein Ort, an welchem er letztendlich stets der Fremde blieb. So wurde ihm seine polnische Herkunft zuweilen von englischen Kritikern angelastet, obwohl er seine Texte auf Englisch veröffentlichte.

Ins Exil getrieben

Über dreißig Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung kehrt Said in einem Aufsatz seines zentralen Werkes "Reflections on Exile" (1984) abermals zu Conrad zurück. Darin zeichnet er die Parallelen zwischen seinem Leben und dem Conrads nach, wobei auch die Unterschiede zum Vorschein treten: Conrad siedelt von einem europäischen Land in ein anderes um, während Said sich mit dem Weggang aus Jerusalem nach Ägypten und von dort aus nach Amerika einem tiefergreifenden Wandel aussetzt. Ein weiterer Unterschied zu Conrad ist, dass Said mehrere Male in seinem Leben ins Exil getrieben wird.

Beim ersten Mal, als er als Palästinenser von seinem heimischen Grund vertrieben wird und von nun an das Etikett "Flüchtling" trägt. Das zweite Mal, als er sich als Person mit arabischem Hintergrund in einer westlichen Kultur wiederfindet, die von Ressentiments gegen die arabische Welt durchzogen ist. Zum letzten Mal wird er in gewisser Weise unter den eigenen Leuten in seiner Heimat zum Exilanten, indem er zahlreiche Male der allgemeinen Meinung den Rücken kehrt und seinen eigenen Weg geht. So wird aus Saids Exil ein komplexes Vielfaches.

In "After the Last Sky: Palestinian Lives" (1986) beschreibt Said die kulturelle und politische Dimension seines Exils. Zu dessen geographischer Dimension und dem Schmerz über das Getrenntsein von seiner Heimat Palästina kommt erschwerend hinzu, dass er nicht nur des Verrats angeschuldigt, sondern auch mit fatalen Missinterpretationen seiner Gedanken und Schriften konfrontiert wird, von europäischer und amerikanischer, wie auch von arabisch-palästinensischer Seite.

Anerkennung der faktischen Vergangenheit

Abweichend von der Haltung vieler arabischer Intellektueller rief Said dazu auf, die Verfolgung von Jüdinnen und Juden in Europa und im Westen als historischen Fakt anzuerkennen. Insbesondere stellte er sich gegen die Leugnung des Holocausts. Warum die faktische Vergangenheit leugnen, wenn die Araber im Allgemeinen und die Palästinenser im Speziellen nicht verantwortlich für diese Verbrechen und die damit verbundenen Konsequenzen waren?

Laut Said besteht der erste Schritt in der Anerkennung der faktischen Vergangenheit und damit verbunden in der Forderung von arabischer Seite an den Westen, die volle moralische Verantwortung für diese Vergangenheit zu übernehmen. Der Westen solle das Problem nicht auf palästinensischem Boden und auf Kosten der Rechte der arabischen Bevölkerung lösen.

Für diese Position wird er von einigen Seiten stark angegriffen. Said wird vorgeworfen, seine Positionen zu Angelegenheiten in der arabischen Welt sowie zur Palästina-Frage würden auf den Standpunkten westlicher Intellektueller basieren.

Dass Said einer der stärksten Gegner des Oslo-Abkommens war, welches er als "Kapitulation" und "Niederlage der Palästinenser" bezeichnete, wird hierbei oft vergessen.

Buchcover "Orientalism" von Edward Said im Verlag Penguin History
Das Kernstück seines intellektuellen Schaffens ist zweifelsohne Saids Kritik am Orientalismus. Das Buch "Orientalism" (1978) war der Auftakt der wissenschaftlichen Untersuchung und Kritik des gleichnamigen Phänomens. Eine zentrale Feststellung des Buches ist, dass der überwiegende Anteil der orientalistischen Forschung nicht das wiedergibt, was der Orient in seiner Komplexität ist, sondern vielmehr das, was die Forschenden darin sehen wollen.

Seiner diesbezüglichen Kritik widmete er 1994 ein eigenes Buch mit dem Titel "Gaza – Jericho: Ein amerikanischer Frieden" (im arabischen Original: ġazza-arīḥā: salām amrīkī). Seine Kritiker übersehen dabei - bewusst oder unbewusst -, dass Said die Denkweise der westlichen Leserschaft aufgreift und diese mit ihren eigenen Worten und Konzepten adressiert, um sie von ihrem voreingenommenen Standpunkt abzubringen. Diese Strategie erfordert eine rationale, objektive Sprache, fernab von leeren Parolen.

"Durch die Ideologie des Orientalismus geformt"

In seiner Eigenschaft als US-Bürger stellte er sich entschieden gegen die Politik aufeinanderfolgender US-Regierungen in Bezug auf die arabische Welt und insbesondere gegen die Regierung unter George W. Bush und den Irakkrieg. "Es scheint", so Said, "als seien unsere [amerikanischen] politischen Machthaber und ihre intellektuellen Lakaien nicht in der Lage zu begreifen, dass die Geschichte keine Schultafel ist, von der wir alles bisher Geschriebene nach Belieben löschen können, um dann unsere eigene Vorstellung der Zukunft darüber zu kritzeln und unseren Lebensstil anderen Menschen und Gesellschaften dieser Welt aufzuzwingen. Ohne die Auffassung, dass diese anderen Menschen dort nicht wie 'wir' seien und 'unsere' Werte nicht teilen würden - eine Auffassung, die durch die Ideologie des Orientalismus geformt und verfestigt wurde,- hätte es diesen Krieg nicht gegeben."

Das Kernstück seines intellektuellen Schaffens ist zweifelsohne Saids Kritik am Orientalismus. Das Buch "Orientalism" (1978) war der Auftakt der wissenschaftlichen Untersuchung und Kritik des gleichnamigen Phänomens. Eine zentrale Feststellung des Buches ist, dass der überwiegende Anteil der orientalistischen Forschung nicht das wiedergibt, was der Orient in seiner Komplexität ist, sondern vielmehr das, was die Forschenden darin sehen wollen.

Statt einer objektiven, realistischen Darstellung des Orients präsentiert diese Forschung, laut Said, ein von vorgefertigten Bildern und kolonialistischen Interessen durchzogenes Zerrbild. Somit lässt sie sich als ein imperialistisches Kulturprojekt verstehen, welches durch die aus den Kolonialländern stammenden Forschenden mitgetragen wurde.

In seinem Buch schreibt Said: "Orientalismus fußt auf der Idee, die kurzen Ausbrüche polemischer und blockierender Wut, die uns so gefangen halten, durch eine humanistische Kritik zu ersetzen, um die Felder des Kampfes auszubauen und eine längere Abfolge von Gedanken und Analysen einzuführen."

Er erläutert, dass unter den Orientalisten, die "in die Länder des Orients kamen, zwei Dogmen vorherrschend waren: Zum einen gegen die heimische Kultur dieser Länder und zum anderen gegen die Befreiung dieser Länder vom westlichen Kolonialismus. Hinzu kommt das Übel, dass sie für die größeren Zusammenhänge und Ereignisse in den Ländern, die sie besuchten, völlig blind waren."

Humanismus als letzte Bastion gegen unmenschliche Politiken

Im Jahr 1996 veröffentlichte Said das Buch "Anmerkungen zu Orientalismus“ (im arabischen Original: taʿaqībāt ʿala 'l-istišrāq), in welchem er sich mit kritischen Reaktionen auf "Orientalism" auseinandersetzte, seine Positionen erörterte und auch auf damalige Fehlschlüsse seinerseits einging.

Nicht unerwähnt bleiben sollte sein letzter Artikel "L’humanisme, dernier rempart contre la barbarie" (Humanismus – das letzte Bollwerk im Angesicht der Barbarei). In dem Text, der im September 2003, kurz vor seinem Tod (er starb am 25. September 2003 nach langer Krankheit an Krebs), in der französischen Zeitschrift Le Monde Diplomatique erschien, schreibt er:

"Ich nannte das, was ich zu tun versuchte 'Humanismus'. Ein Wort, auf das ich trotz seiner höhnischen Ablehnung durch weltkluge postmoderne Kritiker immer noch bestehe. Der Humanismus lebt von Eigeninitiative und persönlicher Intuition, nicht von der bloßen Rezeption von Ideen und blinder Ehrfurcht vor Autoritäten. Der Humanismus ist unsere einzige, wenn nicht sogar unsere letzte Bastion gegen unmenschliche Politiken und Praktiken, die die Geschichte der Menschheit zu verderben drohen."

Tarek Azizeh

© Qantara.de 2019

Aus dem Arabischen von Rowena Richter