Wie der "Islamische Staat" den Sinn der Hidschra pervertiert

Die Hidschra stand einst für die friedliche Migration von Muslimen in Länder, in denen sie keiner Verfolgung ausgesetzt waren. Dagegen schafft die heutige Militarisierung des Begriffs ein mächtiges Instrument zur Radikalisierung und Rekrutierung von Muslimen in aller Welt. Von Rebecca Gould

Von Rebecca Gould

Die Bedeutung des Wortes Dschihad hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt: Einst stand Dschihad für die Pflicht aller Muslime, sich auf dem Weg zu Gott anzustrengen. Heute ist damit meist der bewaffnete Kampf gegen die sogenannten Ungläubigen gemeint. Mit dem Aufstieg des "Islamischen Staates" hielt ein weiterer Begriff Einzug ins Vokabular der extremen Gewalt: Hidschra.

Der islamische Ursprung von Hidschra geht auf den Auszug des Propheten Mohammed aus Mekka nach Medina im Jahr 622 zurück. Er wollte damit der Verfolgung entgehen und seine Glaubensgemeinschaft festigen. Das Leben Mohammeds und seiner Anhänger war in Mekka durch die Übergriffe von Nicht-Muslimen bedroht. Mit der Auswanderung – also der Hidschra – kehrte der Prophet seiner Geburtsstadt den Rücken. In Medina konnte sich eine stabile Gemeinschaft von Muslimen entwickeln, die ihren Glauben ohne Anfeindungen praktizierte.

Die eigentliche Hidschra wird nicht im Koran geschildert. Stattdessen ist das heilige Buch um das Ereignis herum strukturiert und gliedert sich in eine mekkanische und medinensische Periode mit ihren jeweiligen Offenbarungserlebnissen. Das Jahr der Hidschra von Mohammed wurde zum ersten Jahr des islamischen Kalenders. Mit zunehmender Verbreitung der Religion stand das Wort nicht nur für den Auszug aus Medina, sondern für die allgemeine Pflicht aller Muslime, in muslimische Länder auszuwandern, wenn dies ihrem Glauben diente.

Aufforderung zur Schaffung einer besseren Welt

Im Laufe der Geschichte entwickelte sich die Bedeutung von Hidschra über die rein physische Bewegung hinaus: Heute wird der Begriff als Aufforderung zur Schaffung einer besseren Welt in den Ländern unter muslimischer Herrschaft verstanden. Für Millionen Muslime dient der Begriff als Leitfaden in einem universellen Dilemma, dem alle Gläubigen ausgesetzt sind: Wie lebe ich meine Frömmigkeit in einer gottlosen Welt? Die Hidschra überbrückt die Kluft zwischen der Wunschvorstellung der Gläubigen und ihrer tatsächlichen Lebenssituation.

Operation von IS-Milizen in Afghanistan; Foto: picture-alliance/dpa/G. Habibi
Waffenruf des neuen, selbsternannten Kalifats: Unter dem "Islamischen Staat" hat die Hidschra eine Konnotation erhalten, die den Begriff von seiner bisherigen Bedeutung entfremdet. Der IS versteht die Hidschra ausschließlich als physische Migration zum Zwecke des Dschihad.

In der frühen Neuzeit und mit der systematischen Vertreibung der Muslime aus Spanien im Jahr 1492 sowie später aus den von Kolonialmächten besetzten Ländern erhielt Hidschra eine militante Bedeutung, die die spätere Verbindung zum Dschihad vorwegnahm. Im Anschluss an diese Vertreibung, die vor allem durch das spanische und russische Reich betrieben wurde, verschob sich die Bedeutung weiter. Aus dem Druck, auszuwandern, um der Verfolgung zu entgehen – wie zu Lebzeiten Mohammeds – wurde ein staatliches Ultimatum: Verschwinde oder du wirst getötet.

Jahrhunderte nach diesen gewaltsamen Vertreibungen durch europäische Mächte umfasst die Hidschra heute viel mehr als die bloße Umsiedlung. Für viele moderne Muslime symbolisiert die Hidschra das fortwährende Pendeln zwischen Erinnern und Vergessen. Die Hidschra ist gegenwärtig, wenn Muslime – wie die Palästinenser und Tschetschenen – durch mächtigere Staaten enteignet werden. Sie ist gegenwärtig, wenn Muslime eine Heimat inmitten des heimatlosen Exils und der Vertreibung schaffen.

Die Hidschra ist der Rückgriff auf die Geschichte, um die Vergangenheit – und sich selbst – in der Gegenwart lebendig zu halten. Wo immer und wann immer die Geschichte des Islam von Verzweiflung und Verlust bestimmt ist, erscheint die Hidschra als Weg zur Hoffnung und zum spirituellen Sieg. Sie ist ebenso Anfang wie Auflösung eines Traumas.

Physische Migration zum Zwecke des Dschihad

Unter dem "Islamischen Staat" hat die Hidschra eine Konnotation erhalten, die den Begriff von seiner bisherigen Bedeutung entfremdet. Der IS versteht die Hidschra ausschließlich als physische Migration zum Zwecke des Dschihad. Für die primitiven und konstruierten mittelalterlichen Vorstellungen des IS ist die Vergangenheit lediglich ein Instrument zur gewaltsamen Eroberung und rücksichtslosen Unterdrückung.

Hier ist die Hidschra keine moralische Rückbesinnung als Quelle von Kontinuität und Trost, sondern der Waffenruf des neuen, selbsternannten Kalifats, das allerdings von der großen Mehrheit der heutigen Muslime nicht als Teil ihrer Religion anerkannt wird.

Bevor der Begriff Hidschra militarisiert wurde, diente er dazu, in der Gegenwart die Verantwortung für die Vergangenheit zu wahren. In diesem weiteren und mitunter schwer fassbaren Sinn übertrifft die Hidschra die Auslegung durch den IS und widerlegt sie sogar.

Nach der ursprünglichen Bedeutung des Wortes in der frühen islamischen Gemeinschaft von Gläubigen zogen diese nicht aus, um Krieg zu führen, sondern um in Frieden zu leben. Die Ideologen des IS – deren Appelle an die Kraft des Neuen eine gereinigte Version der Vergangenheit verlangen – würden uns solche Bedeutungsunterschiede gerne vergessen machen lassen.

Rebecca Gould

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers

© Project Syndicate 2015