Hat man ihn missverstanden?

Yazan Khalili ist ein Sprecher des auf der Documenta 15 eingeladenen Künstlerkollektivs "The Question of Funding“. Er äußert sich zu dem Vorwurf, er habe Antisemitismus verbreitet. Mit ihm sprach Joseph Croitoru.

Von Joseph Croitoru

Yazan Khalili, ein Sprecher des an der Documenta 15 beteiligten Künstlerkollektivs "The Question of Funding“, wurde einmal gefragt, was an seinen Arbeiten am meisten missverstanden werde. Die Antwort des 1981 in Syrien geborenen und in Ramallah aufgewachsenen palästinensischen Künstlers lautete: dass seine Kunst nicht dem üblichen Muster folge, die Palästinenser stets als Leidende und die Israelis als Unterdrücker zu zeigen.

Tatsächlich zeichnete sich Khalilis Schaffen schon zu Beginn durch Vielschichtigkeit aus. So wird von ihm nicht nur die Spezifik der palästinensischen Lebenswelt visualisiert und verbalisiert, sondern zugleich auch deren Stereotypisierung – nicht zuletzt durch die Palästinenser selbst – reflektiert. Khalili ist von Haus aus Architekt, bezeichnet sich aber auch als "visuellen Künstler“.



Dass er das wurde, verdankt sich, wie er im Gespräch sagt, eher dem Zufall. Noch mit Architekturprojekten der von ihm mitbegründeten palästinensischen Künstlergruppe "Zan Studio“ befasst, versah er 2007 quasi als Gedankenspiel Fotos des Flüchtlingslagers Al-Amari in Ramallah so mit Farbe, dass dessen eintönige Häuser wie ein fröhlich-buntes Ensemble wirkten. Die Fotoserie "Colour Correction“, die der gängigen Vorstellung vom Flüchtlingslager als Chiffre palästinensischen Leids widersprach, erregte nicht nur in der palästinensischen Kunstwelt Aufsehen, sie machte Khalili im Ausland bekannt.

Machtstrukturen in Bildern



Khalilis MA-Studium am Centre for Research Architecture an der Universität London – ein Lehrer war der israelische Architekt und Gründer des künstlerischen Recherchekollektivs Forensic Architecture Eyal Weizman – schärfte Khalilis Blick für Wirkung und Funktion von Bildern. Die 2010 entstandene Fotosequenz "Landscape of Darkness“ verarbeitet Erfahrungen, die der Künstler bei Nachtaufnahmen in den Palästinensergebieten gemacht hatte. Bei den mit einem Freund unternommenen nächtlichen Exkursionen – die beiden mussten damit rechnen, jederzeit von israelischen Soldaten angehalten zu werden – merkte Khalili, dass starkes Licht auf ihn beängstigend wirkt. Es wurde ihm klar, dass er es mit den israelischen Siedlungen assoziiert, die nachts in der Regel weit heller leuchten als palästinensische Dörfer.

In der Fotoarbeit wird das Licht nicht nur zum Spiegel politischer Machtverhältnisse, sondern es wird auch veranschaulicht, wie diese durch die Technik der Fotografie noch zementiert werden: Da die Kamera automatisch auf Lichtquellen fokussiert, verschwimmen die palästinensischen Ortschaften im Dunkeln. Wie sich das Machtgefälle auch sonst im Licht widerspiegeln kann, zeigte sich, als Khalili tatsächlich einmal von Soldaten beim Fotografieren "erwischt“ wurde – sie zwangen ihn, die hellsten Bilder zu löschen.


"Apartheid Monochromes" von Yazan Khalili; Quelle:http://www.yazankhalili.com
Kritik und Selbstkritik: In "Apartheid Mono­chromes“ von 2017 werden israelische Besatzungspraktiken verurteilt, aber die Selbstkritik fehlt nicht. "Die sechs monochromen Tafeln spielen auf die verschiedenfarbigen Personalausweise an, die Palästinenser seit 1967 je nach Wohnregion von Israel erhielten,“ schreibt Josepg Croitoru. "Als 'Apartheid' geißelt Khalili hier nicht nur die israelische Kontrolle, sondern auch die Spaltung und Hierarchisierung, zu der diese 'Farbenpolitik' in der palästinensischen Gesellschaft führte. Das Einbeziehen der Farbe Grün ist kritischer Kommentar zum – wenn auch von Israel diktierten – Vorgehen der Palästinensischen Autonomiebehörde: Ihre Ausweise sind grün, ausgerechnet jene Farbe, so Khalili, welche die Israelis früher für Häftlingsausweise verwendet hätten.“

Über die Jahre hat sich Khalili in Foto- und Videoarbeiten immer weiter damit beschäftigt, wie sich Machtstrukturen in Bildern niederschlagen. Seine Werke waren in Museen und Galerien weltweit zu sehen. Bei diesen Ausstellungen war das Goethe-Institut mehrmals Kooperationspartner oder, wie etwa bei dem New Yorker Projekt "Ludlow 38“, Veranstalter. Auch in Deutschland hat Khalili wiederholt ausgestellt, so 2020 in den Berliner Kunst-Werken.



Als 2016 die von Nadia J. Kabalan kuratierte Gruppenschau "Questioning the Chroma-Key-Principle“ im Berliner Ballhaus Naunynstraße "Politiken des Sehens“ erkundete, war auch Khalili vertreten. In "The Aliens“ geht er anhand einer fiktiven Geschichte, in der Astronauten in eine von ihnen Jahre zuvor verlassene Landschaft zurückkehren, der Frage nach, was "Rückkehr“ bedeutet. Im dazugehörigen Text spricht er von der "Unmöglichkeit einer Rückkehr“, die den "Akt der Vertreibung (displacement)“ umkehre.

Kritik am Paradigma der Rückkehr

Die Heimkehr werde zu einem "weiteren Akt der Vertreibung und Entfremdung, zu einer Fortsetzung der Reise auf der Suche nach der Heimat“. Dass hier Kritik auch am palästinensischen Paradigma der Rückkehr mitschwingt, ist kaum zu übersehen. Noch deutlicher wird Khalili bei seiner Auseinandersetzung mit der – wie er sie im Gespräch beschreibt – Besessenheit seiner Landsleute von der Landkarte Palästinas. Selbst davon nicht ausgenommen, meint auch er, allenthalben ihre Umrisse zu erkennen, etwa in Bodenrissen, die er 2014 zum Gegenstand der Fotoserie "Cracks Remind me of Roadkills“ machte.

Hier bleibt es nicht bei der Dokumentation der Funde, vielmehr wird sie durch zwischen die Bilder geschobene kurze Textstücke verfremdet. Selbst dort, wo Khalili wie in "Apartheid Mono­chromes“ von 2017 israelische Besatzungspraktiken verurteilt, fehlt Selbstkritik nicht. Die sechs monochromen Tafeln spielen auf die verschiedenfarbigen Personalausweise an, die Palästinenser seit 1967 je nach Wohnregion von Israel erhielten. Als "Apartheid“ geißelt Khalili hier nicht nur die israelische Kontrolle, sondern auch die Spaltung und Hierarchisierung, zu der diese "Farbenpolitik“ in der palästinensischen Gesellschaft führte.



Das Einbeziehen der Farbe Grün ist kritischer Kommentar zum – wenn auch von Israel diktierten – Vorgehen der Palästinensischen Autonomiebehörde: Ihre Ausweise sind grün, ausgerechnet jene Farbe, so Khalili, welche die Israelis früher für Häftlingsausweise verwendet hätten.

"Cracks Remind me of Roadkills“ von Yazan Khalili; Quelle: http://www.yazankhalili.com
Kritik am palästinensischen Paradigma der Rückkehr: Seine Landsleute seien von der Landkarte Palästinas besessen, sie würden überall die Umrisse Palästinas erkennen, meint Yazan Khalili und nimmt sich selbst davon nicht aus. Sogar in Bodenrissen, die er 2014 zum Gegenstand der Fotoserie "Cracks Remind me of Roadkills“ machte.

"Nicht ein Boykott, sondern Boykotte“

Auch in seiner Haltung zur Boykottbewegung BDS bleibt Yazan Khalili seinem Grundsatz treu, gesellschaftspolitische Normen stets infrage zu stellen. In einem mit "Nicht ein Boykott, sondern Boykotte“ überschriebenen Beitrag für das arabische Portal "7iber“ warnte er 2013 vor zunehmender Dogmatisierung und Intoleranz. Im Jahr darauf veröffentlichte er in der Zeitschrift "Tidal“ jenen Text mit dem Titel "The Utopian Project“, der jetzt von hiesigen Kritikern als antisemitischer Aufruf zur Abschaffung des Staates Israel ausgelegt wird.



Übersehen wird dabei, dass Khalili besagten Text, der auf seiner Website steht, schon 2017 überarbeitet und in dem Sammelband "Assuming Boycott. Resistance, Agency, and Cultural Production“ (OR Books, New York) veröffentlicht hatte.



Die abgeänderte Version ist im Internet leicht zu finden. Wie Khalili im Gespräch erläutert, handelt es sich bei dem Text, der sich auch als Kritik an BDS liest, nicht um ein politisches Programm, sondern um den Entwurf einer Utopie, in der jüdische Israelis und Palästinenser in einem nichtstaatlichen Raum koexistieren: "Die moralische Emanzipation des Palästinensers und des Juden“, heißt es darin zum Schluss, „ist erst einmal die Emanzipation des Staates vom Zionismus, später ihre Emanzipation vom Staat als solchem.“

Nach seiner heutigen Haltung zum Boykott gefragt, den er grundsätzlich bejaht, antwortet er, jeder Fall müsse individuell beurteilt werden. Khalili übernahm 2015 die Leitung des Khalil-al-Sakakini-Kulturzentrums in Ramallah, als die für dessen Arbeit unerlässliche finanzielle Unterstützung internationaler Geberländer massiv zurückging. Um der Krise zu begegnen, wurden neue Arbeitskonzepte entwickelt, welche die Abhängigkeit von der Geldgeber-Wirtschaft zugunsten der Einbindung des lokalen Umfelds reduzieren sollten. Die Erarbeitung gemeinsamer Projekte mit Künstlergruppen und anderen Kultureinrichtungen – etwa auch dem Goethe-Institut in Ramallah – trug zu dieser Emanzipation bei, die Khalili als gesellschaftliches Gesamtkunstwerk sieht.

"The Image" von Yazan Khalili; Quelle:http://www.yazankhalili.com
"The Image“, eine Arbeit von Yazan Khalili aus dem Jahr 2010. Khalili, ein Sprecher des an der Documenta 15 beteiligten Künstlerkollektivs "The Question of Funding“, wurde einmal gefragt, was an seinen Arbeiten am meisten missverstanden werde. Die Antwort des 1981 in Syrien geborenen und in Ramallah aufgewachsenen palästinensischen Künstlers lautete: dass seine Kunst nicht dem üblichen Muster folge, die Palästinenser stets als Leidende und die Israelis als Unterdrücker zu zeigen.

Zentral sei die Frage gewesen, wie Kulturarbeit im palästinensischen, von der Besatzung beeinflussten und ressourcenarmen Kontext funktionieren könne. Auch die Rolle des Künstlers, zumal wenn dieser, wie in Khalilis Fall, zugleich als Kurator und Teamleiter fungiere, sei hinterfragt worden.

Mit ähnlichen Fragen befasst sich das von Khalili und einigen palästinensischen Künstlerkollegen gegründete Kollektiv "The Question of Funding“ (QoF). Dessen Anfänge reichen zurück in Khalilis Zeit als Direktor des Al-Sakakini-Kulturzentrums, von dem es sich löste, als Khalili 2019 die Leitung aufgab und für ein Promotionsstudium nach Amsterdam ging. Das QoF nahm Khalili zufolge die Einladung nach Kassel an, nachdem seine Nachfolgerin am Kulturzentrum diese abgelehnt hatte.



Die Documenta hat auf ihrer Website die Angaben zu QoF aktualisiert, das nun als "Kollektiv Kulturschaffender und Communitiy Organizer aus Palästina“ bezeichnet wird – das Al-Sakakini-Kulturzentrum kommt nicht mehr vor. Die QoF-Mitglieder werden in Kassel laut Khalili nicht mit eigenen Werken vertreten sein. Vielmehr haben sie Künstler der Gazaer Gruppe "Eltiqa“ eingeladen, die ihre Arbeiten auf der Documenta ausstellen und auch verkaufen sollen. Ob dies auch im Rahmen der "Lumbung-Galerie“, der vom Kuratorenteam Ruangrupa geplanten Verkaufsausstellung, geschehen wird, ist offen. QoF wird sich wohl auf Ideenbeiträge zur Kulturfinanzierung und zur Funktion des Kunstmarktes konzen­trieren.

Joseph Croitoru

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