Detroit als böses Omen

Seit den Reformen von 2001 war die Türkei auf dem besten Wege, eine Wirtschaftsmacht zu werden. Gegen die derzeitige Finanzkrise glaubte man, immun zu sein. Wie stark die Türkei allerdings mit der europäischen Wirtschaft verflochten ist, erfuhr Daniela Schröder bei einem Besuch in der Autostadt Bursa.

Passanten schauen auf eine Tafel mit Wechselkursen während der Finanzkrise im Februar 2001; Foto: AP
Februar 2001 schauen Passanten auf eine Wechselkurstafel: Nach der großen Wirtschaftskrise vor sieben Jahren leitete man umfassende Reformen ein, deren Erfolge jetzt gefährdet sind.

​​ Wenn Erhan Sever in diesen Tagen aus dem Haus geht, frühmorgens kurz nach vier, und den klapprigen Fiat ans andere Ende der Stadt lenkt, durch das Werkstor geht, im Pausenraum einen starken, süßen Tee trinkt, in seinen Arbeitsanzug steigt und die Schutzbrille aufsetzt und die Schweißmaschine hochfährt, verfolgt ihn in jedem Augenblick nur ein Gedanke: Das ist jetzt vielleicht das letzte Mal.

Erhan Severs Job hängt an einem seidenen Faden. Viele seiner Kollegen haben ihren letzten Tag bereits gesehen. Sein Arbeitgeber Tofas, der drittgrößte Automobilhersteller der Türkei, hat Mitte November bereits 700 der 5.200 Arbeiter in der Produktion vorübergehend entlassen. Weil die von der Finanzkrise geschockten Kunden in der EU ihre Aufträge reihenweise stornierten, wurde die Fertigung im Werk Bursa um mehr als die Hälfte heruntergefahren.

Vor allem die ganz Jungen waren es, die bei Tofas gehen mussten. Viele leisten nun den noch ausstehenden Militärdienst ab. Was danach für sie kommt, steht in den Sternen. Und was auf Sever, 42, und seine Kollegen zukommt, das können sie zwar erahnen, wollen es aber nicht aussprechen, am liebsten gar nicht daran denken. "Auto fahren, das müssen die Menschen doch immer", sagt einer.

Bursa, gut 90 Kilometer südlich von Istanbul gelegen und mit 1,4 Millionen Einwohnern die viertgrößte Stadt der Türkei, gilt als Motor der türkischen Autoindustrie. Mehr als 60 Prozent aller im Land produzierten Autos rollen hier vom Band, die Auftraggeber heißen Fiat und Renault. Auch Zulieferer wie Bosch und Bus- und LKW-Hersteller wie MAN und Daimler lassen in der grünen Landschaft am Marmarameer produzieren.

Ein harter Schlag für den Export-Sektor

​​Tofas, gemeinsam geführt von Fiat und der türkischen Koc Holding, wurde vor 40 Jahren gegründet und fertigte von Beginn an Fiat-Modelle in Lizenz. Heute bauen die Tofas-Arbeiter die Mittelklasselimousine Linea, den Hochdachkombi Doblo und den für den Weltmarkt entwickelten Kleinwagen Palio. 1971 produzierte das Werk 8.000 Autos, vergangenes Jahr waren es 197.000. "Wir wollen das erfolgreichste Fiat-Werk außerhalb Italiens werden", sagt Produktionsmanager Erkan Polat euphorisch. Für 2008 hatte sich Tofas die Zielmarke von 324.000 Autos gesetzt.

Aber daraus wird nichts, vorläufig zumindest. Denn die Krise an den Finanzmärkten trifft nun auch die Türkei, vor allem ihre Exportbranchen. "Der Tsunami kommt jeden Tag ein Stück näher", warnte Ercan Tezer, Chef des Verbands der türkischen Automobilhersteller (OSD), bereits vor Wochen.

Für den erfolgverwöhnten Sektor eine kaum vorstellbares Szenario. In den ersten neun Monaten des Jahres konnten Autohersteller und Zulieferer ihre Produktion noch um 25 Prozent steigern. Die Exporterlöse legten sogar um 31 Prozent auf 20,7 Milliarden US-Dollar zu. Dann aber ein abrupter Wandel: Im Oktober schrumpften die Exporte um 27,5 Prozent, die Produktion fiel um mehr als 20 Prozent. Für 2009 rechnet der OSD mit einem weiteren Produktionsminus von 15 Prozent.

Mit der EU leidet auch die Türkei

Die einbrechenden Zahlen in der Automobilbranche sind ein herber Schlag für die Wirtschaftsbilanz der Türkei. Mit 31 Prozent der Exporterlöse ist die Autoindustrie der wichtigste Devisenbringer des Landes. Acht von zehn Fahrzeugen werden ins Ausland verkauft, 90 Prozent dieser Exporte in die EU. Geht es den Europäern schlecht, leidet auch die Türkei. Die plötzliche Flaute bei den Auslandsgeschäften wird die ohnehin tief im Minus liegende Leistungsbilanz des Landes, der größte Risikofaktor für die türkische Wirtschaft, noch weiter nach unten drücken.

Ebenfalls stark zurückgegangen sind die wichtigen Auslandsinvestitionen: Während im vergangenen Jahr 22 Milliarden US-Dollar in die Türkei flossen, werden es 2008 wohl nur 12 bis 14 Milliarden sein. Auch der hohe Schuldenberg der Privatwirtschaft belastet die Wirtschaft nun noch stärker. Wegen der hohen Lira-Zinsen haben viele Unternehmen in den vergangenen Jahren Kredite in fremden Währungen aufgenommen. Im Sommer standen sie mit 193 Milliarden Dollar beim Ausland in der Kreide. Durch den Kurssturz der Lira müssen die Türken dafür nun teuer bezahlen.

Kluge Reformen nach der Krise von 2001

In der Türkei zeigt sich, dass die Finanzkrise auch diejenigen erwischt, die eigentlich keine großen Fehler gemacht haben. 2001 nämlich hatten die Türken bereits ihre eigene Bankenkrise, der Finanzkollaps drohte. Doch der Internationale Währungsfonds bewahrte das Land mit einem insgesamt 40 Milliarden Dollar-Kredit vor dem Staatsbankrott. Die Hilfsgarantie des IWF war ein Reformmotor, die Bankenregeln wurden verschärft und die Staatsfinanzen konsolidiert. Die stabile Lage beruhigte ausländische Investoren, seitdem ging es mit der Wirtschaft steil aufwärts.Im Mai lief der IWF-Pakt aus. Nachdem sich Ministerpräsident Erdogan und sein Team zunächst gegen neue Kredite sträubten, scheinen sie dem Druck der Wirtschaft nun doch nachzugeben. "Von der Krise bleiben wir verschont", hieß es bisher stets in Ankara.

Die Tofas-Werke in Bursa; Foto: Wikipedia Commons
Harte Zeiten für der Autokonzern Tofas in Bursa: Die gobale Finanzmarktkrise trifft vor allem die türkischen Exportbranchen.

​​ "Die Politiker haben nicht begriffen, dass es sich um eine weltweite Krise handelt, und dass die Türkei trotz der in den vergangenen Jahren durchgeführten Reformen nicht immun dagegen ist", erklärt der Istanbuler Finanzfachmann Fatih Özatay. Nur ein neues Abkommen mit dem IWF könne das Land das Vertrauen der Investoren erneuern, so der Finanzexperte aus Istanbul.

Warten auf Godot

Hilfe vom IWF ist nicht die Lösung, warnt dagegen der Wirtschaftsexperte Korkut Boratav. Die Türkei müsse ihr Wirtschaftsmodell grundlegend umbauen. Auch Erol Katircioglu von der Istanbuler Bilgi-Universität sagt, "das politische Denken muss sich radikal wandeln." Zwar habe die Erdogan-Regierung "einige wenige Ideen, doch letztendlich sitzen sie da und warten auf Godot."

Dabei gab es große Pläne: Bis zum 100. Jahrestag der Staatsgründung im Jahr 2023 wollte die Türkei zu den zehn größten Volkswirtschaften der Welt gehören. Mittlerweile ein utopisches Ziel? Vielleicht nicht, sagt Katircioglu. Aber um es zu erreichen, müssten Wirtschaft und Gesellschaft viel stärker in das Politikmachen einbezogen werden.

Istanbuler Börse; Foto: AP
Die Börse in Istanbul - ein rutschiges Parkett. Türkische Finanz- und Wirtschaftsexperten sind sich uneinig, ob das Land erneut internationale Hilfspakete annehmen sollte.

​​ "In diesem Punkt kann die Türkei von der EU lernen und sich von ihr helfen lassen", meint Katircioglu. Ankara müsse sich an den Bedürfnissen der einzelnen Regionen orientieren, keine Pauschalpolitik betreiben. Der von der Landwirtschaft lebende Osten und Südosten liege um Jahre hinter den industrialisierten Metropolen im Westen.

"Das Detroit der Türkei" bewirbt die Handelskammer in Bursa ihre dynamische Region. Bisher hatte der Spruch einen selbstbewussten Klang. Jetzt liest er sich wie ein böses Omen.

In seiner Teepause liest Erhan Sever in der Zeitung über die Rettungspläne für die amerikanische Autometropole. Auch über den Produktionsstopp im Ford-Werk in Gülücek liest er. Er liest, dass seine Regierung an der Wachstumsprognose unbeirrrt festhält und dass die Zahl der Arbeitslosen in der Türkei rasant gestiegen ist. Was er jetzt denkt, nein, das will Sever nicht sagen, er setzt die Schutzbrille wieder auf und geht mit den Kollegen zurück an die Schweißmaschine. Vielleicht geht er diesen kurzen Weg noch viele Male, noch viele Tage, Monate, Jahre. Vielleicht aber auch schon zum letzten Mal.

Daniela Schröder

© Qantara.de 2008

Qantara.de

Wirtschaft
Türkisch und unverzichtbar
Für Döner reicht's - mehr trauen die Deutschen türkischen Unternehmern meist nicht zu. Vielleicht noch einen Gemüseladen. Alles völlig falsch: Ohne potente Firmen mit Bosporus-Wurzeln geht hier gar nichts. Rainer Sollich rückt Vorurteile zurecht.

Türkei
Vorwärts, aufwärts, westwärts
Die Unternehmer-Dynastie Sabanci ist konsequent europäisch. Die Geschichte eines Aufstiegs in 80 Jahren türkischer Republik erzählt Michael Thuman.

Türkische Unternehmen in Deutschland
Gesucht: Türkische Gastarbeitgeber
Die Gesellschaft für Wirtschaftsförderung in NRW buhlt um Investoren aus der Türkei. Auf einer Konferenz im türkischen Izmir warben Unternehmer Unternehmer. Auch ein türkischer TV-Sender aus Mülheim will die Kampagne fortschreiben. Aus Izmir berichtet Elmar Kok