Die Türkei geht dem Westen nicht verloren

Die neue Orientierung der türkischen Außenpolitik in Richtung Mittlerer Osten hat Befürchtungen geweckt, das Land werde sich vom Westen abwenden. Für die Türkei bleiben jedoch die USA und die EU die wichtigsten Partner, schreibt Hüseyin Bagci in seinem Essay.

 

Der türkische Ministerpräsident Erdogan und EU-Kommissionspräsident Barroso in Brüssel; Foto: AP
Die Mitgliedschaft in der EU bleibt auch unter Erdogan unverändert das Endziel der türkischen Politik. Die bisher gemachten Reformschritte haben die Türkei verändert, als Modernisierungsfaktor ist die EU daher weiterhin sehr wichtig, meint Hüseyin Bagci.

​​Die türkische Außenpolitik erlebt in letzter Zeit so viele "Initiativen und Öffnungen", dass es auch Türken schwerfällt zu verstehen, wohin die Außenpolitik ihres Landes steuert. Ministerpräsident Erdogans Schritte überraschen viele Beobachter. Fest steht nur, dass die Türkei viel mehr Selbstvertrauen hat als je zuvor und sich bereits als regionalen und globalen Akteur sieht. Die neue außenpolitische Formel "Keine Probleme mit Nachbarländern" von Außenminister Ahmed Davutoglu trägt erste Früchte, weckt aber auch Befürchtungen, dass sich die Türkei vom Westen abwenden könnte. Die Türkei ist bereits ein "politisches Mekka" für die islamische Welt - und zugleich ein unersetzbarer Partner des Westens.

Im Westen politisch, wirtschaftlich, technologisch und kulturell verankert, genießt die Türkei nach dem Ende des Kalten Krieges einen größeren Spielraum, um ihren außenpolitischen Einfluss geltend zu machen. Kein Ministerpräsident der Türkei hatte je so gute außenpolitische Rahmenbedingungen wie Tayyip Erdogan.

Endziel Mitgliedschaft

Für die geostrategischen Interessen der EU bleibt die Türkei unersetzlich, auch wenn namentlich Frankreich und Deutschland dies nicht zu sehen vermögen. Die Türkeipolitik dieser beiden Länder ist weder kreativ noch ergebnisorientiert. Trotzdem wird die Türkei nicht aus den Beitrittsverhandlungen aussteigen. Ankara sollte den Reformprozess weiter vorantreiben, um die europäischen Standards zu erfüllen. Umgekehrt muss sich auch die EU an ihre Verpflichtungen gegenüber der Türkei halten. Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Ankara müssen qualitativ und quantitativ verbessert werden.

Die Mitgliedschaft in der EU ist unverändert das Endziel der türkischen Politik. Die Frage, ob das Land Mitglied wird, ist aus türkischer Sicht längst nicht mehr offen: Der Beitritt erscheint nachgerade als Selbstverständlichkeit. Die bisher gemachten Reformschritte haben die Türkei in den letzten 20 Jahren verändert, und als Modernisierungsfaktor ist die EU weiterhin sehr wichtig. Zugleich bleiben die USA in der Außen- und Sicherheitspolitik auch in Zukunft der wichtigste Partner. Die neue Kurdenpolitik Ankaras wie die Öffnung gegenüber Armenien kann nur gelingen, wenn Washington weiterhin als Ordnungsmacht fungiert. Auch andere Länder zeigen Interesse an der Türkei. Für Russland ist Ankara ein wichtiger Partner im Bereich Energie sowie bei der Regionalpolitik für das Schwarze Meer und den Kaukasus. Russland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei, die zugleich nach Deutschland der zweitwichtigste Abnehmer russischen Erdgases ist.

Karte und Nationalfahne der Türkei; Fotomontage: DW/AP
Mit der Öffnung gegenüber Syrien, Iran, dem Irak konnte sich die Türkei als neuer regionaler Akteur in der Region des Nahen und Mittleren Ostens profilieren.

​​Die Öffnung der Türkei gegenüber Armenien wird von Moskau unterstützt. Als der armenische und der türkische Außenminister im Oktober die Protokolle für eine Annäherung unterschrieben, war der russische Außenminister Lawrow anwesend. Die öffentliche Meinung in der Türkei über Russland war noch nie so gut wie heute. Dennoch ist Moskau keine politische Alternative, sondern primär ein Wirtschaftspartner.

Die türkische Öffnung gegenüber Syrien, Iran, dem Irak sowie gegenüber der gesamten islamischen Welt macht die Türkei zum politischen Zentrum des Nahen Ostens. Ministerpräsident Erdogan ist die beliebteste politische Figur bei den arabischen Volksmassen, nicht unbedingt bei den arabischen Regimen. Tayyip Erdogan geriert sich überdies als die profilierteste Stimme der Israel-Kritiker. Die türkisch-israelische Krise ist eine von Erdogan bewusst geschaffene Krise - und er genießt sie.

Ankara wird auch nicht seine engen Beziehungen zu Iran beenden, nur weil dies im Westen auf Ablehnung stößt. Erdogan ist ein Pragmatiker, und Iran ist ein guter wirtschaftlicher Partner. Zugleich will die Türkei als ehrlicher Makler zwischen den USA und Iran agieren. Iran benutzt deshalb die Türkei, um die eigene politische Isolation aufzubrechen. Die Türkei ist für Iran ein Sprungbrett - und dies stößt in der Türkei selbst auf heftige Kritik.

Regionalmacht im Nahen Osten

Der Irak und die Kurden im Norden Iraks sind ein gemeinsames Problem der Türkei und der USA als Schutzmacht Bagdads. Die irakischen Kurden profitieren von der neuen türkischen Politik, möglichst sämtliche Probleme mit den Nachbarländern zu vermeiden.

Ahmet Davutoglu und Massoud Barzani; Foto: AP
"New Deal" in der Kurdenpolitik: Ahmet Davutoglu besuchte im Oktober 2009 als erster türkischer Außenminister die autonome Kurdenregion Nordiraks und traf sich dort mit Kurdenführer Massoud Barzani.

​​Der Besuch von Außenminister Davutoglu bei den Kurden im Nordirak war ein Zeichen dieser neuen Politik. Langfristig ist die Türkei für den Irak der beste Partner in der Region. Die jüngsten türkischen Verträge mit Syrien, dem Irak und Iran sind meistens wirtschaftlich orientiert und belegen die Stärke der türkischen "Soft Power". Die Neugestaltung der Kurdenpolitik hat für die Türkei gleichermaßen innen- wie außenpolitische Konsequenzen.

Vielleicht bedeutet dies das Ende der PKK als Terrororganisation; auf jeden Fall erhalten die Kurden ein neues Selbstbewusstsein. Dennoch ist ein selbständiger kurdischer Staat unwahrscheinlich. Aber die Nachbarn der Türkei erkennen an, dass die Zeit reif ist für Kooperation statt Konfrontation. So kann man die Türkei durchaus als Friedensstifter in der Region sehen. Der politische Pragmatismus Ankaras nutzt dabei den Islam und den gemeinsamen kulturellen Hintergrund des Osmanischen Reiches aus. In diese Richtung weist auch die Diskussion über den "Neoosmanismus".

Die Intellektuellen und Politiker des Osmanischen Reiches glaubten an die Mission, die islamische Welt und den Nahen Osten zu modernisieren. Dies ist ein politisches Erbe für die jetzige Regierung in Ankara. Die Türkei geht dabei dem Westen nicht verloren, im Gegenteil. Denn die Türkei propagiert gemeinsame Werte im Nahen Osten. Die Türkei sieht sich als Vertreterin der Demokratie in der Region und bleibt im Westen verankert, auch unter Tayyip Erdogan.

Hüseyin Bagci

© Neue Zürcher Zeitung 2010

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de