Den Unterdrückten eine Stimme geben

Nur wenige Menschen sind mit den sahrauischen Musikkulturen im Nordwesten Afrikas vertraut. Zumindest galt das, noch bevor Aziza Brahim die internationale Musikbühne eroberte: Sie gewann nicht nur einen Preis für ihren Soundtrack zum Film "Wilaya", sondern setzte sich auch mit ihrer CD "Soutak" drei Monate lang an die Spitze der "World Music Charts Europe". Von Richard Marcus

Von Richard Marcus

Auf den ersten Blick wirkt die Sahara im Nordwesten Afrikas wie eine der lebensfeindlichsten Landschaften weltweit. Die Filmindustrie und andere westliche Medien zeigen uns für gewöhnlich Bilder endloser Sanddünen, ohne Spuren menschlichen oder sonstigen Lebens, nur vereinzelte Oasen oder verdorrte Wüstenpflanzen hier und da. Und doch ist dieses karge Land seit Jahrhunderten Heimat verschiedener Nomadenvölker.

Als die arabischen und osmanischen Armeen nach Afrika kamen und auf das Gebiet der nordafrikanischen Königreiche übergriffen, fanden sie dort die Stammesvölker bereits fest etabliert vor. Auch wenn es vereinzelte Bündnisse gab zwischen den neuen Königreichen in Algerien und Marokko, waren die Kalifen und Emire klug genug, nicht zu versuchen, den Nomaden ihre Herrschaft aufzuzwingen.

Selbst die europäischen Kolonisatoren besaßen anfangs den richtigen Instinkt, dies gar nicht erst ins Auge zu fassen. Erst als die Franzosen und Spanier, die kolonialen Herrscher über Nordafrika, den Reichtum der unter dem Wüstensand verborgenen Bodenschätze zu erkennen begannen, strebten sie eine direktere Kontrolle an.

Während die Tuareg in Mali und Niger weltweite Aufmerksamkeit erhielten, als fundamentalistische Terrorgruppen mit ihrer sehr engen Auslegung des Islam die Machtübernahme im Norden Malis anstrebten, waren diese keineswegs das einzige Nomadenvolk, die zusehen mussten, wie ihr Land und ihre Kultur ihnen seit 80 Jahren geraubt wird.

Die Misere der Sahrauis

Die Sahrauis waren früher auf dem Gebiet des heutigen Marokko beheimatet. Wie die mit ihnen verwandten Berber im Süden wurden sie aus ihrer angestammten Heimat vertrieben und durch die Politik der neuen Regierung gezwungen, Zuflucht in Flüchtlingslagern im algerischen Exil zu suchen.

Westsahrauisches Flüchtlingscamp in Tindouf; Foto: Mahrez Ben Chenouf
Aziza Brahim was born in a Sahrawi refugee camp in Tindouf, Algeria, (one of these camps is pictured above) in 1976. According to Richard Marcus, her album "Soutak" is an "attempt to give voice to the plight of not only her own people, but also people in refugee camps all over the world"

Auch wenn die genaue Zahl der Flüchtlinge, die in den vier nordalgerischen Lagern leben unklar ist (Schätzungen reichen von den von der marokkanischen Regierung angegebenen 40.000 bis zu den 150.000, von denen Sprecher des Sahraui-Volkes ausgehen). Wie es auch sei, ist doch sicher, dass es sich bei diesem Volk um eines handelt, dessen Notlage weltweit nur den allerwenigsten Menschen bekannt ist.

Im Unterschied zu den Tuareg, die beim Export ihrer Kultur sehr erfolgreich waren und ihre Lebensumstände vermittels ihrer Musik international bekannt machen konnten, ist die Bekanntheit der Sahrauis bisher minimal. Doch eine Frau ist inzwischen intensiv damit beschäftigt, dies zu ändern: ihr Name ist Aziza Brahim. Obwohl in einem Flüchtlingslager aufgewachsen, nennt sie heute Barcelona ihr Zuhause, wo sie auch ihr neues Album "Soutak" (was "deine Stimme" bedeutet) für das Label "Glitterbeat Records" aufgenommen hat.

Der Titel ist sehr passend, wird in den Songs nicht nur den Menschen ihres eigenen Volkes eine Stimme verliehen, sondern Flüchtlingen ganz allgemein – überall auf der Welt. Zwar singt Aziza Brahim alle Stücke auf Spanisch, aber die englischen und arabischen Übersetzungen im beiliegenden Booklet erlauben es nicht nur den Menschen, über die sie singt, sondern auch vielen anderen, ihre Bedeutung zu verstehen.

Ein Klang, der alle miteinschließt

In einem Intro-Statement im Booklet schreibt Brahim: "Das Album enthält Songs über die persönlichen und allgemeinen Sorgen, die universelle Dimensionen annehmen." Um diesem Anspruch gerecht zu werden, entschied sie sich, sowohl aus den musikalischen Traditionen ihres eigenen Volkes zu schöpfen wie aus anderen Musikkulturen. Das Ziel: Ein Klang, der alle miteinschließt. 

Schon im ersten Stück "Gidem Izik" ("Lager der Würde") kann man das Ergebnis dieser Verschmelzung hören. Der Klang der Sologitarre, die ihren Gesang begleitet, kann nur als typisch spanisch bezeichnet werden. Auch wenn es einem schwerfällt, sich genau festzulegen, so sind doch beim Hören dieses Songs Assoziationen mit dem Flamenco und verwandten Musikstilen unvermeidlich. Der Einsatz von Percussion-Instrumenten und eines E-Basses dient als rhythmisches Fundament des Stücks. Jeder, der im letzten Jahrzehnt einmal die Musik der Tuareg aus dem Norden Malis gehört hat, kennt dieses besondere Gleichmaß: den steten, trance-artigen Beat, diesen schier endlosen, treibenden Rhythmus.

Doch wo bei den Tuareg der Rhythmus die Grundlage für ihre Version eines elektrischen Blues bietet, nutzt ihn Aziza Brahim als Basis komplexerer vokaler Melodielinien. Auch wenn sie zum Teil einen deklaratorischen Gesangsstil pflegt, mit dem sie letzten Endes vor allem Geschichten erzählt, kann und will sie den Einfluss anderer Kulturen und Stile nicht verleugnen.

Während bei den meisten Liedern der Nomadenvölker der Sahara-Region die Texte meist genau auf den Beat abgestimmt deklamiert werden, erlaubt Brahim ihrer Stimme, den emotionalen Gehalt ihrer Texte widerzuspiegeln und den Rhythmus als eine Art Amboss zu benutzen, auf dem sie ihren eigenen Sound kreiert.

Wenn man die englischen Übersetzungen ihrer Texte liest, wird schnell klar, dass sie nicht nur den Anspruch verfolgt, dem Leid ihres eigenen Volkes Ausdruck zu verleihen, sondern auch dem der Angehörigen anderer Völker, die sich in einer ähnlich misslichen Lage befinden.

Der dritte Song auf der CD ("Espejismos", d.h. "Illusionen") ist eines der bewegendsten Beispiele hierfür. In einer oft sehr poetischen Sprache beschreibt sie die Folgen des Krieges und die Auswirkungen interner Auseinandersetzungen auf das Land – und das in einer Weise, die das Leid nicht nur anschaulich wiedergibt, sondern auch an die Mühsal derer erinnert, die noch immer dort leben. "Verdammt seien die Samen in den Gräbern/ die zwischen den Steinen deines Heimatlandes schlagen/ die wachsen/ genährt durch die Wut/ den Wert der Ernte und der Früchte aufs Spiel setzend."

"Deine Geschichte ist auch meine Geschichte"

Dennoch handeln Aziza Brahims Songs keineswegs nur von Verzweiflung und Schrecken, sondern auch von der Chance für die Unterdrückten, sich Gehör zu verschaffen. Im sechsten Song auf der CD "Soutak" hört man sie sagen: "Ich will deine Stimme hören/ und die süßen Worte/ die in mir lebten/ seit all diesen Jahren. In einem jeden Menschen, der ein von fremden Kräften dominiertes Leben führen muss, existiert eine Stimme, die sich danach sehnt, Gehör zu finden."

Cover of Aziza Brahim's album "Soutak"
Aziza Brahim now lives in Barcelona, which probably explains the subtle Spanish feel to some of the tracks on her CD "Soutak" (see the video above).

Brahim ist selbst in einem Flüchtlingslager geboren worden und hat so am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, wenn einem die Heimat gestohlen wird. So kann sie mit Fug und Recht zu anderen sagen: "Deine Geschichte ist auch meine Geschichte und unsere Stimme ist die gleiche."

Sie maßt sich damit nicht an, die Erfahrungen anderer im Einzelnen nachvollziehen zu können, aber es gelingt ihr, ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass ihre Stimmen ebenso wichtig sind wie die eines jeden anderen Menschen, einschließlich ihre eigene.

Aziza Brahim hat eine CD von atemberaubender Schönheit geschaffen, die sich der Not der Flüchtlinge überall auf der Welt annimmt – und dies, ohne sich in die Niederungen der Politik zu begeben. Es geht ihr erkennbar nicht darum, mit dem Finger auf Schuldige zu zeigen, vielmehr konzentriert sie sich darauf, das Unrecht aufzuzeigen, das die Unterdrückten weltweit erfahren und die schlicht beiseite geschoben werden.

So beeindruckend diese Leistung allein schon wäre, so ist "Soutak" zudem noch ein Beispiel dafür, in welch schlichter Eleganz musikalische Traditionen miteinander kombiniert und verschmolzen werden können ohne im Widerspruch zu der Vielzahl der verwendeten Musikkulturen zu stehen.

Richard Marcus

© Qantara.de 2014

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de