"Niemand hat ein Monopol auf Transzendenz"

Zum vierten Mal in Folge kamen am Pfingstwochenende in der Pariser Gemeinde Saint Merry zahlreiche Musiker und Geistliche verschiedener Konfessionen zusammen, um im Namen des Friedens ein Zeichen gegen den religiösen Fundamentalismus zu setzen. Zahra Nedjabat war dabei.

Von Zahra Nedjabat

Es ist Samstagabend mitten im 4. Arrondissement von Paris. Der zentrale Stadtteil Marais brummt vor Bars, Menschen, bunten Lichtern, Music-Clubs und der pulsierenden Künstler- und Homo-Szene von Paris. Ein paar Meter weiter befindet sich auf der Rue de Rivoli die gigantische Shopping-Meile für Einheimische sowie die endlosen Touristenmassen, welche sich zu Pfingsten auf den Weg in die französische Metropole gemacht haben.

Mitten im Getöse liegt die römisch-katholische Pfarrkirche Saint Merry. Saint Merry wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Stil der Spätgotik an der Stelle einer Kapelle aus dem 7. Jahrhundert errichtet, in der im Jahr 700 der heilige Medericus bestattet worden war. Während der Revolution von 1789 wurde die Kirche geschlossen und als Salpeterfabrik – unter zum Teil schweren Beschädigungen - zweckentfremdet. Doch sie hat überlebt.

Und sie ist heute eine der progressivsten und lebendigsten Kirchengemeinden der Stadt. Mutige Kunstausstellungen, provokante Thesen und unkonventionelle Denkweisen haben hier ihren Platz gefunden. In direkter Nachbarschaft zum Centre Beaubourg und damit auch zur zeitgenössischen Kultur könnte ein solcher Ort der Welt nicht zugewandter sein.

Die ganz besondere Gemeinde beschreibt sich selbst folgendermaßen: "In diesem Zentrum von Paris, wo sich Menschen aller Herkunft und Generationen treffen, wo der Appetit auf Kultur und Freizeit in direkter Nachbarschaft zu Armut und Marginalität liegt, wo Menschenmassen und Einsamkeit aufeinander treffen, bleibt die Tür zur Kirche Saint Merry weit offen".

Interreligiöses Miteinander

Zudem zeichnet sich Saint Merry durch die Offenheit gegenüber dem interreligiösen Austausch aus. Vor vier Jahren wurde hier die Nuit Sacrée ins Leben gerufen. Die Nuit Sacrée ist ein musikalisches und kulturelles Ereignis in der Nacht von Pfingstsonntag auf Pfingstmontag, das verschiedene Künstler rund um traditionelle, geistliche und Weltmusik zusammenbringt. Das Gemeinschaftsprojekt der Gemeinde von Saint Merry und der Initiative Coexister wurde 2016 in die Tat umgesetzt.

Coexister ist eine überkonfessionelle Bewegung junger Menschen, deren Berufung es ist, das friedliche Zusammenleben zwischen Menschen jeglicher Überzeugung zu befördern. Die Initiative definiert ihre Ausrichtung im Französischen als "interconvictionnel", wodurch sie die interreligiöse Dimension erweitert und jede Form von Glauben und Überzeugung einschließt. Religiöse aller Konfessionen genauso wie Atheisten und Agnostiker. Coexister passt damit so wunderbar zur Gemeinde Saint Merry, welche ihre Berufung darin sieht, wirklich im Viertel und damit in der Gesellschaft - mit all ihren Facetten - verankert zu sein.

Für diesjährige Ausgabe entwickelt sich die Nuit Sacrée unter dem Motto "Un message de paix" weiter und begrüßte Künstler und Ordensleute, um den Frieden zu fördern und gemeinsam eine Botschaft der Hoffnung zu besingen. Die Nuit Sacrée 2019 wollte dabei mit weniger technischen Mitteln eine intimere Version als in den Vorjahren schaffen.

"Wandler zwischen den Welten"

Laurent Grzybowski, Mitgründer und Moderator der Nuit Sacrée ist selbst ein "Wandler zwischen den Welten". Der Journalist, Musiker und Dozent ist sowohl medial, künstlerisch aber auch sozial, in seinem Stadtteil - dem 15. Arrondissement - als Brückenbauer aus Überzeugung engagiert.

Gegenüber Qantara.de sagte er: "Die Identität dieser Gemeinde ist im wahrsten Sinne des Wortes katholisch ausgerichtet. Denn 'katholisch' bedeutet im griechischen Original 'universell'. Es gibt hier wirklich diesen Universalismus von Saint-Merry, welcher sich in dem Bestreben zeigt, Veranstaltungen der Öffnung zu organisieren. Öffnung gegenüber der zeitgenössischen, modernen Kultur, den Religionen, den Weltkulturen und der Menschheit in ihrer ganzen Diversität."

[embed:render:embedded:node:36233]Grzybowski betonte, dass diese Mission angesichts der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Zerwürfnisse und des spürbaren Rechtsdrucks umso wichtiger geworden sei, um dem Hochziehen von Mauern und Stacheldrahtzäunen etwas entgegenzusetzen. Auch angesichts der Flüchtlingsfrage versammelten sich hier Menschen, die einer Politik der Abschottung Widerstand leisten wollen.

Dem "Anderen" begegnen

"Für mich ist eine Veranstaltung wie diese ein Akt des Widerstands. Widerstand gegenüber dieser Tendenz, die uns glauben machen will, dass die Zukunft in der Verbarrikadierung liegen würde", erklärt Grzyboswki. Nicht Mauern und die Ablehnung der Andersartigkeit - welche zur "Gründung der Menschheit" beitrage - gäben die so sehr benötigte Sicherheit, sondern die einzig wirksame Sicherheit liege letztendlich darin, dem "Anderen" zu begegnen.

"Der wahre Feind des Menschen ist die Unwissenheit und die Gleichgültigkeit. Der Frieden von morgen liegt in der Begegnung und im Dialog zwischen den unterschiedlichen Überzeugungen und ihres Handelns im Sinne des Gemeinwohls." Das wird bereits im Manifest der Nuit Sacrée vom 28. Mai 2016 deutlich spürbar, welches die verschiedensten Vertreter religiöser Gemeinschaften seitdem unterschrieben haben.

Diesen Geist des Friedens, der Zusammengehörigkeit, der Freiheit und der Verantwortung atmet die Nuit Sacrée und darin liegt auch die Kraft dieser Initiative. Die Anwesenden erleben einen Moment der Öffnung und der Spiritualität, vermittelt durch die Sprache von Musik und Gesang. Diese erreicht die Menschen sehr direkt und sehr tief. Es ginge darum zu verstehen, dass "niemand die Transzendenz für sich (alleine) besitzt", so Grzyboswki.

Der Imam und Leiter des Maison Soufi Abdelhafid Benchouk appelliert am zweiten Tag der Veranstaltung besonders dringend an die Medien und ihre Verantwortung: "Heutzutage besteht immer noch ein Defizit bei der Verbreitung solcher Initiativen in der Öffentlichkeit. Leider bekommen wir in unseren Fernsehern und auf unseren Radiosendern nicht genug von Aktionen dieser Art mit, die täglich stattfinden und sehr zahlreich sind. Um am interreligiösen Dialog teilzunehmen, gibt es so viele verschieden Vereinigungen, die enorme Arbeit leisten, doch keiner redet davon."

"Wir alle haben eine Wahrheit"

Der Rabbiner und Gründer der franko-amerikanischen Synagoge Kehilat Gesher, Tom Cohen, unterstrich nach einer durchwachten Nach anlässlich des jüdischen Festes Schawuot, welches an den Empfang der Zehn Gebote am Berg Sinai erinnert: "Wir alle, jede/r einzelne hier, haben eine Wahrheit. Das Problem entsteht in der Gesellschaft, wenn wir unsere Wahrheit für die Wahrheit nehmen. Wenn wir akzeptieren, dass jeder eine Wahrheit hat, bedeutet das, dass wir dem anderen entgegengehen müssen, um die Wahrheiten zu verstehen und um der Wahrheit näherzukommen."

Friede sei nicht die Abwesenheit von Krieg und Gewalt, sondern etwas wie Fülle, so Cohen. "Mögen wir diese Fülle in unserem Leben haben."

Und der katholische Grzyboswki lud zu einer Minute des Schweigens im Gedenken der unzähligen bekannten und unbekannten Opfer von Gewalt und zum Gebet für den Frieden: "Für alle die Opfer der Islamophobie, die Opfer von jeglicher Form des Hasses, all die Opfer menschlicher Torheit, religiöser, politischer oder sonstiger Gewalt, um sie in unseren Herzen zu tragen - jeder auf seine Art. Mögen diese Akte der Gewalt für immer verschwinden."

Den krönenden Abschluss machte dann das Ensemble Derwish Spirit: Sakrale Gesänge in arabischer, türkischer und persischer Sprache der sufischen Tradition - begleitet von wirbelnden Derwischen - versetzten nahezu die ganze Kirche in Trance.

An den Schätzen der "anderen" Religion, Kultur und Weltanschauung Teil nehmen und an der eigenen Teil geben - das Rezept erwies seine volle Wirkkraft und die zauberhaften Bilder einer Friedensvision voller Farben, Bewegung und Schönheit werden die vielen Pilger so schnell nicht vergessen.

Zahra Nedjabat

© Qantara.de 2019