Die Barbaren des Nordens

Derb und weißhäutig, den Tieren ähnlich, von minderer Intelligenz - so sahen die Araber des Mittelalters die Bewohner Europas. Das Zentrum der Welt waren für sie die islamischen Länder. Mona Naggar stellt einige arabische Historiker und Geographen vor.

 

Al-Masudi; Foto: www.malaspina.org
Der arabische Historiker al-Masudi hatte im 10. Jahrhundert ein umfassendes Werk über die Geschichte und Geographie der bekannten Welt verfasst

​​"Der warme Humor fehlt ihnen; ihre Körper sind groß, ihr Charakter derb, ihre Sitten schroff, ihr Verständnis stumpf und ihre Zungen schwer. Ihre Farbe ist so extrem weiß, dass sie blau aussehen. Ihre Haut ist dünn und ihr Fleisch rauh. Auch ihre Augen sind blau und entsprechen ihrer Hautfarbe; ihr Haar ist der feuchten Nebel wegen glatt und rötlich. Ihren religiösen Überzeugungen fehlt Beständigkeit, und das liegt an der Art der Kälte und dem Fehlen von Wärme. Je weiter nördlich sie sich aufhalten, desto dümmer, derber und primitiver sind sie." So schreibt der arabische Historiker und Geograph al-Masudi über die Völker Europas. Genauer gesagt über die Slawen, Franken und ihre Nachbarn. Al-Masudi lebte im Bagdad des 10. Jahrhunderts und seine Bemerkungen spiegeln die geographischen Vorstellungen seiner Zeit wieder. Die arabischen Geographen teilten die bewohnte Welt in sieben Zonen ein. Diese Aufteilung hatte mit der geographischen Wirklichkeit nichts zu tun, doch sie entsprach den Landkarten, die bei den Griechen und später im arabisch-islamischen Mittelalter in Umlauf waren. Intellektuelle Leistungen als Unterscheidungsmerkmal Etwa hundert Jahre, nachdem al-Masudi sein umfassendes Werk über die Geschichte und Geographie der bekannten Welt geschrieben hatte, verfasste der Richter Said Ibn Ahmad aus der andalusischen Stadt Toledo ein Buch über die Kategorien der Völker. Das entscheidende Merkmal für ihn waren die intellektuellen Leistungen. Said ibn Ahmad teilte die Völker in zwei Gruppen ein: Jene, die sich mit Wissenschaften befasst und jene, die es nicht getan hätten. Zu der ersten Gruppe zählte er die Inder, Perser, Chaldäer, Griechen, Byzantiner, Ägypter, Griechen, Araber und die Juden. Außerdem strich der andalusische Richter die Leistungen der Chinesen und der Türken heraus. Diese Völker machen den Hauptteil der Abhandlung aus. Was von der Menschheit übrig bleibt, klassifizierte Said Ibn Ahamd als nördliche und südliche Barbaren. Über die Barbaren des Nordens schrieb er: "Die anderen Völker dieser Gruppe, welche die Wissenschaften nicht gepflegt haben, gleichen eher Tieren als Menschen. Für jene von ihnen, die am weitesten nördlich liegen, zwischen dem letzten der sieben Klimas und den Grenzen der bewohnten Welt, lässt die übermäßige Entfernung von der Sonne im Verhältnis zur Zenitlinie die Luft kalt und den Himmel wolkig werden. Ihr Charakter ist deshalb kühl, ihr Humor primitiv, ihre Bäuche sind fett, ihre Farbe ist bleich, ihr Haar lang und strähnig. So mangelt es ihnen an Verstandesschärfe und Klarheit der Intelligenz, und sie werden von Unwissenheit und Apathie, fehlender Urteilskraft und Dummheit überwältigt." Der andalusische Richter verfügte über fast keine Informationen über Europa und seine Bewohner. Bei al-Masudi verhielt es sich ähnlich. Die mittelalterliche islamische Historiographie und Geographie war zwar sehr umfangreich, doch sie boten ihren Lesern über Europa nur spärliches und unzuverlässiges Material. Intoleranz der europäischen Herrscher Daraus lassen sich nicht nur die geographischen Vorstellungen der damaligen Zeit und das vorhandene Wissen ablesen. Es zeigt auch das Bild, das sich die Muslime des Mittelalters von sich und von den Anderen gemacht haben. Die islamischen Länder waren für sie das Zentrum der Welt. Die zivilisierte Welt hörte für sie nördlich von Andalusien auf. Über die Grenzen des Glaubens hinweg gab es rege Handelskontakte mit nicht-islamischen Ländern. Muslimische, christliche und jüdische Händler aus dem Orient bereisten Byzanz, Italien, China, Südostasien und Schwarzafrika. Auffällig ist, daß Westeruopa in Reisebeschreibungen aus dem islamischen Mittelalter und als Handelspartner fehlt. Dafür gibt es mehrere Gründe. Die Güter, die Westeuropa zu bieten hatte, waren für den Orient nicht sehr reizvoll. Die einzigen Produkte, die manchmal in islamischen Quellen vorkommen, sind Waffen und Sklaven. Hin und wieder englische Wolle. Ein weiterer Grund, der Muslime davon abhielt nach Westeuropa zu reisen, war die Intoleranz der Herrscher und der Bevölkerung. Es hatte sich herumgesprochen, wie es Juden im mittelalterlichen Europa ergangen war. Und man wusste auch von zurückeroberten Gebieten, Andalusien beispielsweise, dass die Muslime zwischen Bekehrung, Exil oder Tod hatten wählen müssen. Dauerhafte islamische Gemeinden hatten im christlichen Europa niemals entstehen können. "Die Schönheit der Männer liegt in ihrem Bart" Dennoch wagten sich einige Unerschrockene aus dem Orient ins finstere Europa vor. Einer von ihnen war Harun Ibn Yahya. Über sein Leben ist wenig bekannt. Er wurde von den Byzantinern in Konstantinopel als Kriegsgefangener gehalten. Nach seiner Freilassung reiste er - wahrscheinlich im Jahr 886 - nach Rom. In dieser Stadt, die von einem König namens Bab - Papst - regiert wurde, befremdete ihn am meisten die Gewohnheit der Römer, ihre Bärte abzurasieren: "Ich fragte sie, weshalb sie sich ihre Bärte rasierten, und sagte zu ihnen: Die Schönheit der Männer liegt in ihrem Bart. Welchen Zweck verfolgt ihr, wenn ihr euch dies antut? Sie antworteten: Wer seinen Bart nicht rasiert, ist kein wahrer Christ. Denn als Simon und die Apostel zu uns kamen, hatten sie keine Schuhe, auch keine Stecken, sondern sie waren arm und schwach, während wir damals Könige waren, in Brokat gekleidet und auf goldenen Plätzen sitzend. Sie riefen uns zur christlichen Religion, aber wir antworteten ihnen nicht. Wir ergriffen sie und quälten sie und schoren ihnen Kopf und Bart. Und dann, als uns die Wahrheit ihrer Worte erschien, begannen wir, unsere Bärte zu scheren, um die Sünde wieder gutzumachen, dass wir ihnen die Bärte geschoren hatten." Bedrohung aus dem Westen Bagdad, im August 1099. Der Großkadi Abu Saad al-Harawi steht im Diwan des abbasidischen Kalifen al-Mustazhir Billah. Lautstark trägt der Richter von Damaskus seine Klage vor. Wenige Wochen zuvor war die heilige Stadt Jerusalem in die Hände der Kreuzfahrer gefallen. Sie wurden von den Muslimen generell als Franken bezeichnet. Die Eindringlinge hatten unter den Bewohnern ein grausames Gemetzel angerichtet, Häuser geplündert und Moscheen verwüstet. Tausende von Flüchtlingen kamen nach Damaskus. Al-Harawi nahm sich ihrer an und bat den Kalifen in Bagdad um Unterstüztung. Der Kalif drückte sein tiefstes Mitgefühl aus, und dabei blieb es. Nur wenige Araber waren sich zu Beginn des ersten Kreuzzuges über das Ausmaß der Bedrohung aus dem Westen bewusst. Die Kreuzzüge dauerten 200 Jahre. Abgesehen von der militärischen Konfrontation bedeutete diese Zeit eine bis dahin noch nie dagewesene Möglichkeit der direkten Begegnung zwischen der abendländlischen und der islamischen Welt. Amputation als Behandlung Bis dahin liefen die direkten Kontakte meistens über Spanien und Sizilien. Nun drangen die Franken ins Zentrum der islamischen Welt vor. Ein Zeuge dieser Zeit war der syrische Ritter Usama Ibn Munqidh (1095-1188), ein Zeitgenosse von Salah al-Din al-Ayyubi (Saladin). Er nahm an Schlachten gegen die Kreuzritter teil, erlebte aber auch längere Phasen der Waffenruhe. Usama nutzte diese, um die Franken näher kennenzulernen. In seinen autobiographischen Erinnerungen sammelte der syrische Ritter eine Fülle von Erfahrungen und Anekdoten. Immer wieder strich Usama Ibn Munqidh das "rohe" und "tierhafte" Verhalten der Europäer heraus, vor allem aber ihre Kulturlosigkeit. Ein Beispiel sei die fränkische Heilkunde. Fassungslos berichtete er darüber, wie ein Arzt den Abszess am Bein eines Ritters behandelte: Er ließ das Bein mit einem Axthieb einfach abhauen. Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit den Frauen: "Die Franken kennen weder Ehrgefühl noch Eifersucht. So kommt es vor, daß ein Franke mit seiner Frau auf der Straße einhergeht und einen anderen Mann trifft, der die Frau zur Seit nimmt und sich mit ihr unterhält, während ihr Ehemann abseits steht und wartet, bis die Frau ihre Unterhaltung beendet. Wenn es ihm zu lange dauert, lässt er sie mit ihrem Gesprächspartner allein und geht seiner Wege." Mona Naggar © Qantara.de 2005

Qantara.de Dossier: Reisen durch die Jahrhunderte und Kontinente Abenteuerlust, Wissensdrang oder Exotik – all das können Gründe für eine Reise in ferne Länder sein. Schon immer brachen Frauen und Männer in den Orient oder nach Europa auf. Der eine fühlt sich in seinen Vorurteilen bestätigt, der andere entdeckt seine Liebe zum Unbekannten. Gehen Sie mit uns auf die Reise.