Rekonstruierte Wirklichkeit

Vor einem Jahrhundert verwandelte ein Weltkrieg die osmanischen Provinzen im Nahen Osten in moderne Nationalstaaten. Diese geraten heute durch zahlreiche lokale Kriege aus den Fugen. Die Ursachen hierfür liegen jedoch weit vor dem "Arabischen Frühling", meint Yezid Sayigh.

Von Yezid Sayigh

Der rasante Vormarsch des "Islamischen Staats" im Irak und in Syrien seit dem Jahr 2013 sowie die Ausrufung des "Kalifats" im Jahr 2014 schürten heftige Spekulationen über das Ende des Sykes-Picot-Abkommens, mit dem Großbritannien und Frankreich vor etwa einem Jahrhundert die Aufteilung der levantinischen Provinzen des ehemaligen Osmanischen Reichs unter sich besiegelten.

Gegenstand der meisten Berichte war jedoch die Aufhebung der nationalen Grenzen, doch kaum jemand ging den Folgen für die Nationalstaaten innerhalb dieser Grenzen nach. Denn genau dort scheint für bestimmte Staaten das Sykes-Picot-System ein Ende zu finden. Nicht nur in der Levante, sondern auch in der weiteren arabischen Region.

Viel wurde über die Willkürlichkeit der Grenzen der am grünen Tisch damals neu geschaffenen arabischen Staaten geschrieben. Verglichen mit anderen Regionen der Welt zählen die Grenzen aus dem Sykes-Picot-Abkommen aber zu den stabilsten überhaupt. Der Übergang der ehemals osmanischen Verwaltungseinheit Alexandretta aus dem französischen Mandat an die Türkei im Jahr 1939 und die spanische Dekolonisation der Westsahara im Jahr 1975 waren späte Anpassungen der nach dem Ersten Weltkrieg vorgenommenen Aufteilungen.

Neuordnung der Grenzen

Die Vereinigung der ehemals unabhängigen Staaten Nordjemen und der "Demokratischen Volksrepublik Jemen" (Südjemen) im Jahr 1990 und die Unabhängigkeit der Republik Südsudan im Jahr 2011 waren ebenfalls historische Ereignisse, unterstreichen aber nur die völlige Neuordnung der bisherigen Landkarten in Mittel- und Südosteuropa, in Süd- und Südostasien, in Afrika südlich der Sahara, in der Sowjetunion sowie in deren Nachfolgestaaten.

Sogar eine unlängst verschwundene arabische Grenze – nämlich diejenige zwischen Irak und Syrien – wird vom IS de facto weiterhin in seinen eigenen Verwaltungsregionen und in den Machtbeziehungen zwischen den Führungskadern im Nordirak und dessen syrischen Provinzen berücksichtigt.

Kämpfer des "Islamischen Staates" (IS); Quelle: DW
Aufbau auf den Trümmern der alten Ordnung: "Sogar eine unlängst verschwundene arabische Grenze – nämlich diejenige zwischen Irak und Syrien – wird vom IS de facto weiterhin in seinen eigenen Verwaltungsregionen und in den Machtbeziehungen zwischen den Führungskadern im Nordirak und dessen syrischen Provinzen berücksichtigt", schreibt Yezid Sayigh.

Die viel größere Herausforderung stellt sich dem Sykes-Picot-System hingegen innerhalb einzelner Nationalstaaten. Im vergangenen Jahrhundert durchliefen sie drei Hauptphasen: die im Nachgang des Ersten Weltkriegs geschaffenen "Kolonialstaaten", die nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig gewordenen Staaten und die autoritären Staaten, die durch diverse Militärputsche in den 1950er und 1960er Jahren entstanden und die sich von 1970 bis zum "Arabischen Frühling" 2010-2011 stabilisierten. Die jeweiligen Phasen unterschieden sich in ihrer politischen Ordnung und waren von Staat zu Staat unterschiedlich. Dies betraf die Verfassungsordnungen, die staatlichen Einrichtungen und die Verwaltungsmaßnahmen ebenso wie die jeweiligen Systeme zur Umverteilung des sozialen und wirtschaftlichen Wohlstands.

Dies wurde beispielsweise an der Absetzung der Monarchien in Ägypten, im Irak und im Libanon deutlich sowie an der Anpassung der Monarchien in den Golfstaaten, in Jordanien und in Marokko. Weitere Kennzeichen sind der Verfall der Bürgerparlamente, der Aufstieg neuer und weitgehend ländlicher sozialer Schichten, Landreformen und Verstaatlichung in den Agrarrepubliken sowie die massive Ausweitung der Rentenökonomien sowohl in sozialistischen als auch in marktwirtschaftlich orientierten Ländern.

Trotz dieser gewaltigen Umwälzungen wurden die Übergänge ohne den Zusammenbruch von Staaten bewältigt: Die Macht ging von einer Hand an die andere über und wurde durch neue politische Konstellationen und soziale Allianzen konsolidiert. In allen Fällen waren neue Regierungen in der Lage, relativ stabile und belastbare Beziehungen zwischen den Strukturen zu schaffen, durch die sie ihre direkte Macht ausübten – also die regierenden Parteien und die staatliche Exekutive. Gleiches gilt auch für die Mittel zur Erwirtschaftung von Einnahmen und zur Kapitalbildung, was die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft umformte.

Drohende Bevölkerungsexplosion

Doch die seit mindestens zwei Jahrzehnten zu beobachtende Konvergenz mehrerer Faktoren überstrapaziert die Fähigkeit vieler arabischer Staaten zur Ableitung des wachsenden Drucks über langbewährte Kräfteverhältnisse, was die aktuellen Umwälzungen für sie besonders gefährlich macht.

Eine besondere Bedrohung geht von der Bevölkerungsexplosion aus. Sie erzeugt eine gewaltige Ausbauchung im unteren Teil der Bevölkerungspyramide, flankiert von schwindenden Beschäftigungschancen, abnehmender Produktivität und Qualifikation, auseinanderklaffenden Einkommensverhältnissen durch nepotistische Wirtschaftsliberalisierung und räuberische Privatisierung sowie durch die Erosion oder Auflösung sozialer Bündnisse. Die verteilbaren Überschüsse – insbesondere die Reinerlöse aus der Erdölproduktion und anderen Renteneinkommen – schrumpfen derart stark, dass sogar die ehemals privilegierten Netzwerke und Seilschaften leiden.

Karte Sykes-Picot; Quelle: DW
Das post-osmanische nahöstliche Staatensystem auf der Kippe: Die Ordnung, die die Westmächte mit dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916 etablierten, galt in vielen Ländern des Nahen Osten von Anfang an als unbeliebt - wenn nicht gar als Ursache allen Übels.

Die konkreten Umstände unterscheiden sich in den einzelnen arabischen Staaten stark. Doch überall wurzelt die Krise in einer vergleichbaren Unfähigkeit, die bestehende Beziehung zwischen der Machtstruktur und den Mitteln zur Kapitalbildung und -verteilung aufrechtzuerhalten oder diese – falls verlorengegangen – wiederherzustellen. Infolgedessen ging das bisherige Einvernehmen über den Zweck des Staates und über das staatsbürgerliche Grundverständnis weitgehend verloren.

Ein Einvernehmen, das den sozialen Bündnissen zugrunde liegt und auf dem die politische Stabilität mit ihren formellen oder informellen Rechten und Pflichten gründete. Einen Ersatz dafür in Form klarer Alternativen hat es nie gegeben, was alarmierend ist. Sogar der Anspruch auf rechtmäßige Herrschaft durch den selbsternannten "Islamischen Staat" auf der Grundlage einer rigorosen Trennung zwischen Gläubigen und exkommunizierten Ungläubigen wird diesem Bedarf nicht gerecht, da er alle Formen der gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse zur Errichtung von Lenkungsfunktionen oder jeden Aspekt öffentlicher Ordnung ausschließt.

Die immer ambivalenteren Verfassungsordnungen – ob formell oder informell – die die nationale Politik und das tägliche Leben in einer Reihe arabischer Staaten bestimmen, sind gleichzeitig Verstärker und Ausdruck dieses Trends. Die Anerkennung gemeinsamer und verbindlicher "Spielregeln" für politische Auseinandersetzungen, die der Eindämmung von Gewalt dienen, und die Wahrung eines grundlegenden sozialen Friedens gelangen im Irak beispielsweise nicht, obwohl nach 2003 eine neue demokratische Verfassung eingeführt wurde. Ganz zu schweigen von der verfassungsrechtlichen Flickschusterei in Syrien im Jahr 2012.

Verfassungsrechtliche Paralyse

Die Palästinensische Autonomiebehörde und die libanesische Regierung erleben seit spätestens 2007 bzw. 2014 eine ähnlich verfassungsrechtliche Paralyse. Und auch in Libyen und im Jemen scheitern seit 2014 alle Versuche zur Errichtung neuer Ordnungen und politischer Systeme. Nach nicht weniger als drei Verfassungsreferenden und fast einem halben Dutzend verfassungsrechtlicher Erklärungen der Regierungen seit 2011 wird sogar Ägypten nicht mehr von einer glaubwürdigen Ordnung regiert. Dabei wird diesem Land ein besonders "starker" Staat nachgesagt.

Demonstranten in Kairo; Foto:
Verlorener sozialer Friede: Der Kampf um den Zugang zu sozialen Ressourcen und wirtschaftlichen Chancen wird in der arabischen Welt mit zunehmender Erbitterung geführt. Dies spiegelt sich in einer Intensivierung einer an Bevölkerungsgruppen orientierten Politik wider – ob konfessionell, ethnisch, regional oder stammeszugehörig.

Diese Beispiele veranschaulichen, dass die amtierenden Herrscher die Verfassungsordnungen als etwas beliebig Dehnbares behandeln. Etwas, was unaufhörlich mit dem Ziel umgestaltbar ist, die eigene politische Macht zu erhalten und zu legitimieren. Allerdings belegen die Beispiele damit auch, dass dieses Konzept nicht mehr funktioniert. Und das dürfte die wichtigere Botschaft sein.

In diesem Zusammenhang wird in mehr und mehr arabischen Staaten der Kampf um den Zugang zu sozialen Ressourcen und wirtschaftlichen Chancen mit zunehmender Erbitterung geführt. Dies spiegelt sich in einer Intensivierung einer an Bevölkerungsgruppen orientierten Politik wider – ob konfessionell, ethnisch, regional oder stammeszugehörig. Es ist nicht einmal mehr möglich, den auferlegten falschen "sozialen Frieden" wiederherzustellen, der die arabischen Staaten und ihre Gesellschaften zusammenhielt, obgleich eine erhebliche Zahl von Menschen durchaus bereit ist, die alte Mischung aus Zwang und Teilhabe hinzunehmen, die den Anschein von Normalität und Stabilität verspräche.

Auch wenn die bisherige Ordnung nicht mehr funktioniert oder in den betroffenen Staaten ihrem Ende entgegengeht, ist ein Ersatz durch neue Miniaturstaaten auf Basis von Teilungen oder Bezirken entlang gemeinschaftlicher Grenzen keine gangbare Lösung. Die zunächst vielversprechenden Erfahrungen im irakischen Kurdistan (Südkurdistan) haben leider nur die Muster nachgebildet, die sie zu überwinden suchten. Womit belegt wäre, dass sich arabische Staaten nicht mehr entlang vergangener Blaupausen rekonstruieren lassen, auch wenn mächtige externe Akteure dies versuchen.

Vor einem Jahrhundert verwandelte ein Weltkrieg die osmanischen Provinzen im Nahen Osten in moderne Nationalstaaten. Diese geraten heute durch zahlreiche lokale Kriege aus den Fugen. Die Ursachen hierfür liegen weit vor dem "Arabischen Frühling", den einige ungerechterweise für die düsteren Aussichten verantwortlich machen. Die Folgen sind langwierige Konflikte, Instabilitäten und eine grundlegende Unfähigkeit zur Erlangung eines neuen sozio-politischen Gleichgewichts in vielen arabischen Gesellschaften auf Jahre hinaus.

Yezid Sayigh

© Carnegie Endowment for International Peace 2016

Yezid Sayigh ist Senior Associate beim Carnegie Middle East Center in Beirut, Libanon.

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers