Identitätssuche als Provokation

Die in Berlin lebende israelische Künstlerin Adi Liraz verarbeitet mit ihrer Kunst die Geschichte und Geschichten der Frauen ihrer Familie und erzählt diese weiter. Damit fordert sie bestehende Narrative über Heimat, Weiblichkeit und Identität heraus. Von Ceyda Nurtsch

Von Ceyda Nurtsch

Während der ungemütliche Winterregen in alle Ritzen der Straßen von Berlin dringt, beleuchtet ein Stehlampe Adi Liraz, die in einem bodenlangen schwarzen Kleid in ihrer Wohnung sitzt und, umgeben von meterlangen Stoffen, bestickten Tüchern und gold-glänzendem Garn türkischen Kaffee aus einem filigranen Porzellantässchen nippt.

Wie das alles begonnen hat, mit den Stoffen, die sie zusammennäht, färbt und bestickt? Mit dem Drucken von Fotos, Symbolen und Texten, die sie verwendet, um als Performancekünstlerin Geschichten zu transportieren?

"Das werde ich nun versuchen zu erklären", sagt Adi Liraz, überlegt und schweigt. Und dann sprudelt es aus ihr heraus. Sie erzählt ihre persönliche Geschichte, die ihrer Familie, sie stellt sich die Frage nach kollektiver Identität, nach ihrem Fremdsein in Berlin. Sie fragt nach der Politik in Israel-Palästina, ihre Rolle als Tochter und Künstlerin, erkundigt sich nach ihren eigenen Kindern. Für sie steht alles in einem Zusammenhang. "Ich habe so viel zu erzählen", sagt sie leicht beschämt und es wird deutlich: Ihre Kunst ist das Produkt vieler verschiedener vehementer Kräfte.

Doch Schritt für Schritt. Im Grunde, erzählt sie, habe alles mit ihrer Mutterschaft begonnen. Immer mehr habe sich ihr ihre Familiengeschichte aufgedrängt. Die Überlieferungen über den Urgroßvater, ein Anwalt und überzeugter Zionist im heutigen Griechenland, der seine Tochter, Adi Liraz' Großmutter, nach Israel-Palästina schickt.

Erzählungen über diese Großmutter, die dadurch alles verliert und zeitlebens versucht, in ihre Heimat zurückzukehren. Die Erzählungen ihrer Kinder, darunter Adi Liraz' Mutter, die ihrer Mutter entrissen und zurück nach Griechenland geschickt werden und erst später wieder zu ihrer Mutter zurückkehren.

"Ich fragte mich: Was ist Zuhause?"

Adi Liraz in History Dress II.; Foto: Adi Liraz
"Diese Sehnsucht nach etwas, das in der Vergangenheit verloren ging, hat meine Großmutter auf mich übertragen." – die in Berlin lebende Perfomancekünstlerin Adi Liraz.

Adi Liraz, selbst seit mittlerweile 16 Jahren in der Fremde in Berlin, drängen sich Fragen auf: "Ich merkte, dass ich keine Verbindung zu dem Ort habe, an dem ich geboren wurde, Tel Aviv. Also fragte ich mich: Was ist Zuhause? Was sind Wurzeln? Was verbindet mich mit den verschiedenen Orten? Was meine Mutter, meine Großmutter?"

Ihre Suche führte sie ins Osmanische Reich, genauer nach Ioannina im heutigen Griechenland, wo – wie weitgehend unbekannt – mehr als 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurden. Sie findet heraus, dass die Familie, nicht wie bislang geglaubt, sephardische Juden sind, sondern Romanioten, griechischsprachige Juden, die erste jüdische Gemeinde Europas, die schon zu Zeiten des Apostels Paulus dort ansässig war.

Adi Liraz beginnt zu stricken. Seidenfäden und Samtstoffe bieten sich ihr an, ihre Familiengeschichte weiterzuerzählen. Je tiefer sie hineintaucht, desto mehr Fragen stellen sich ihr. Etwa welches Wissen Textilien transportieren.

In der Tradition der Großmutter

Intuitiv zerschneidet sie alte Bettwäsche, näht sie neu zusammen, bestickt sie mit Geschichten. Sie findet heraus, dass auch die Urgroßmutter und Großmutter Bettwäsche gesammelt, zusammengenäht und bestickt haben. Und sie entdeckt immer mehr Parallelen: "Diese Sehnsucht nach etwas, das in der Vergangenheit verloren ging, hat meine Großmutter auf mich übertragen."

Hinter ihr im Regal hängt ein langes rosa gefärbtes Kleid, mit dem sie als Performancekünstlerin auftritt. Der Saum bedeckt den gesamten Zimmerboden. Sie hat das Kleid aus Bettlaken zusammengenäht. Darauf hat sie eine Rose gestickt – das Symbol von Ioannina. Und einen Spruch auf Griechisch, allerdings in hebräischen Buchstaben: "Wenn ich dich vergesse, Ioannina, so soll ich meine rechte Hand vergessen". Sie hat Jerusalem, wie es im Original heißt, durch Ioannina ersetzt.

Der innere Rücken- und Kragenteil des Kleides besteht aus einem Stoff, den palästinensische Frauen angefertigt haben. "Es war mir wichtig, dass ich diesen Stoff verwende, ohne ihn mir anzueignen. Ich habe den Stoff bewusst an dieser Stelle des Kleides eingesetzt, weil die Geschichte der palästinensischen Bevölkerung meiner Haut am nächsten und gleichzeitig versteckt ist, weil sie Teil der kollektiven Identität des Ortes ist, an dem ich gelebt habe und weil ich Teil einer kolonialen Struktur bin."

Ihre Aussage: "Ich habe keine Wurzeln in Palästina. Ich habe eine sehr, sehr alte Geschichte woanders und diese basiert nicht auf Rassismus, sondern dem Miteinander von osmanischen Muslimen und orthodoxen Griechen."

Gerechtigkeit für alle

Für viele ist das Provokation. "In Deutschland gibt es neben dem Antisemitismus einen Philosemitismus, der sehr rassistisch gegen Muslime ist und Israel blind verteidigt. Er ist aus einem Schuldbewusstsein geboren und versucht auf diese Art die Strafen der Vorfahren zu sühnen. Es gibt eine Erwartungshaltung, was 'jüdisch sein' bedeutet, etwa Klezmer-Musik zu hören. Der entspreche ich in vielem nicht. Ich habe das Gefühl, häufig nicht frei sprechen zu können, denn es ist schwierig, andere Narrative zu haben." Finanzielle Unterstützung zu finden, ist daher häufig nicht leicht. Für jüdische Organisationen in Deutschland ist sie oft zu kritisch, Zuschüsse aus Israel lehnt sie ab.

Adi Liraz engagiert sich auch politisch. So arbeitete sie etwa als Koordinatorin der Salam-Shalom Initiative, beteiligt sich an einem Projekt zur Recherche des jüdischen Lebens im Osmanischen Reich und ist bis heute als Guide im Jüdischen Museum in Berlin tätig. Ihre politische Botschaft sei denkbar einfach, sagt sie: "Ich bin für Gerechtigkeit für alle und gegen jede Art von Rassismus."

Im Frühjahr wird sie wieder nach Ioannina reisen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab man der Gemeinde einige der Singer-Nähmaschinen zurück, die die Deutschen bei ihrer Okkupation Griechenlands gestohlen hatten. Mit einer Gruppe von Kunststudentinnen wird Adi Liraz mit diesen Nähmaschinen arbeiten. Bei dem Projekt wird es auch um das verloren gegangene Wissen gehen. Und um die Frage, inwiefern das Osmanische Reich als Beispiel für ein friedliches Nebeneinander unterschiedlicher Gemeinden dienen kann.

Ceyda Nurtsch

© Qantara.de 2019

Adi Liraz, geboren 1976 in Tel Aviv-Jaffa, ist eine interdisziplinäre Performancekünstlerin. Sie studierte Kunst in Jerusalem und Berlin. Neben verschiedenen Auftritten und Ausstellungen in Berlin, bringt ihr jüngstes Projekt sie immer wieder nach Griechenland. Liraz engagiert sich zudem politisch, etwa in der Salam-Shalom-Initiative und dem NOMEN Kollektiv und arbeitet als Tourguide im Jüdischen Museum in Berlin.