"In Damaskus war ich schon lange tot"

Alaa Houd hatte Glück. Er ist nicht im Mittelmeer ertrunken. Für ihn war die Flucht aus Syrien mithilfe von Schleppern die einzige Möglichkeit, nach Europa zu kommen. Wie genau? Diana Hodali hat mit Alaa Houd gesprochen und seine Geschichte für ihn aufgeschrieben

Von Diana Hodali

Ich hatte keine Wahl. Das war kein Leben mehr in Syrien. Natürlich wusste ich, dass es bei meiner Flucht mithilfe von Schleppern um Leben oder Tod ging. Aber immerhin gab es die Möglichkeit, auch lebend in Europa anzukommen. In Damaskus war ich schon lange tot. Jeden Morgen habe ich mich von meiner Familie verabschiedet, weil ich nicht wusste, ob ich am Abend zurückkehren würde. Auf dem Weg zur Arbeit musste ich sieben Checkpoints passieren. Die Flucht nach Europa war zumindest mit der Chance auf ein Leben versehen - und ohne Schlepper nicht zu schaffen. Ich verkaufte mein Haus für 17.000 Dollar - eigentlich war es mal 80.000 Dollar wert, meine Frau und mein Sohn zogen zu meinen Schwiegereltern.

Über meinen Arbeitgeber und die Behörden erhielt ich eine eintägige Genehmigung, um alleine in den Libanon zu reisen. Dort begann meine Odyssee. Ich flog in die Türkei. Vor meiner Weiterfahrt nach Izmir lernte ich ein paar syrische Männer kennen, und wir beschlossen, ab dem Zeitpunkt zusammen zu bleiben. Als wir in Izmir angekommen waren, war es gar nicht schwer für uns, an die Nummer eines Schleppers zu kommen. Man fragt einfach rum. Alle reden offen darüber. Ein Anruf - und der Kontakt war hergestellt.

Den Kopf der Schlepperbande haben wir in der Türkei nie zu Gesicht bekommen, man ist ständig in Kontakt mit einem Vermittler. Wir haben ihn trotzdem Schlepper genannt. Er hält dich hin, mal sagt er dir, dass es heute, mal, dass es morgen losgeht. In Wirklichkeit dauert es meistens länger, da er die größtmögliche Anzahl Menschen zusammentrommeln will, um ein Schiff zu füllen. Doch bevor ich mit weiteren Infos versorgt wurde, musste ich erst das Geld für die Überfahrt in einer Wechselstube deponieren – 1.150 Euro sollte es nach Griechenland kosten.

In der Wechselstube liegt das Geld dann eine Woche, bevor es entweder an mich zurückgeht oder an den Vermittler. Wäre es binnen einer Woche nicht losgegangen, hätte ich mein Geld wieder abholen können. Ansonsten geht es nach sieben Tagen in seinen Besitz über. Die Wechselstuben nehmen 50 Euro pro Person für das Deponieren. Und die Schlepper stehen in ständigem Kontakt mit ihnen. Irgendwann habe ich dann einen Anruf erhalten.

Alaa Houd im Klassenraum beim Integrationskurs; Foto: DW/Sven Pöhle
"Mitten im Meer zu schwimmen ist weniger schlimm, als von Bomben und Kugeln bedroht zu sein": Drei Stunden lang musste Alaa Houd im Mittelmeer schwimmer, bis ihn endlich die griechische Küstenwache aus dem Meer zog. Auf die Frage, ob er Todesangst gehabt habe, antwortete er: "Nein, drei Jahre lang habe ich in Syrien ein Leben geführt, in dem der Tod mir immer nah war."

Ich hatte Glück. Nach drei Tagen sollte es schon losgehen. Der Vermittler erzählt dir, dass alles gut gehen würde, dass wir keine Angst haben sollen. Das Schiff sei groß und sicher. Und wovor sollte ich noch Angst haben – schließlich kam ich aus Syrien. Was er einem jedoch nicht erzählt, ist, dass einer von uns das Boot fahren muss, einer, der weniger bezahlt hatte, dafür aber die Verantwortung übertragen bekam. Nur leider hatte dieser Mann keine Ahnung, wie man ein Boot steuert, sodass ein anderer Passagier einsprang.

Wir waren etwa 36 Personen auf einem Boot von etwa sechs Metern Länge und zwei Metern Breite. Die einzige Wegbeschreibung, die uns der Schlepper mitgegeben hatte, war, dass wir dem Licht auf der Insel in der Ferne folgen sollten. Das war's. Und das haben wir dann auch getan.

Schwimmen um unser Leben

Beinahe wären wir von der türkischen Marine aufgegriffen worden, weil kurz vor der griechischen Küste gerade ein Seemanöver durchgeführt wurde. Aber wir sind ins Meer gesprungen und schwammen drei Stunden um unser Leben. Meine wenigen Habseligkeiten hatte ich vorher gut in Plastik und in Ballons eingepackt. In Griechenland angekommen, habe ich dann noch sechs Tage in einem Auffanglager verbringen müssen, um meine Registrierung zu erhalten. Und dann bin ich weiter nach Athen, um die zweite Schlepperbande zu suchen.

In Athen angekommen, war es kein Problem, die Schlepper zu finden. Denn da weiß jeder, dass sie alle in einer Gegend mit dem Namen Omonia abhängen – im Café Pascha. Auch die Behörden Athens wissen davon, trotzdem tut keiner etwas dagegen. Wahrscheinlich ist es ihnen sogar recht. Jedenfalls habe ich mich dort mit einem Vermittler getroffen. Der hat mir dann erklärt, wie alles abläuft. Ich sollte 4.000 Euro bei einer Wechselstube einzahlen, dafür würde er das Ticket nach Deutschland, die Fahrt zum Flughafen und besonders wichtig – einen gefälschten Pass – organisieren.

Flüchtlingsboot startet Richtung Lesbos; Foto: Reuters/M. Sezer
Transitland Griechenland: Auf den griechischen Inseln halten sich nach Informationen des UNHCR derzeit mehr als 30.000 Migranten auf. Hauptgrund für die wachsende Fluchtbewegung ist die Verschlechterung der Lage im Bürgerkriegsland Syrien. Insgesamt hat sich die Zahl der im Mittelmeer auf dem Weg nach Europa zu Tode gekommenen Migranten bis Anfang September auf 2.760 erhöht - das sind über 500 Tote mehr als im selben Zeitraum des Vorjahres.

Ich konnte ihn auf 3.800 Euro runterhandeln. Immerhin. Dieses Mal wollte mich der Kopf der Schlepperbande, ein Afghane, treffen. Er sagte mir, dass mein Aussehen helfen würde. Ein paar passende Klamotten und ich könnte locker als Grieche oder Tscheche durchgehen. Manchmal kaufen die Schlepper Pässe und tauschen nur die Fotos aus, manchmal bekommt man einen Pass von einer Person, die dir ähnlich sieht.

Wenige Tage später saß ich schon im Auto des Schleppers auf dem Weg zum Flughafen. Ich durfte nur Handgepäck mitnehmen, damit ich nicht zum Schalter musste. Ich hatte sowieso kaum etwas aus Syrien mitgenommen. Wie auch? Er gab mir meine neue "Identität", einen gefälschten tschechischen Pass, checkte mich an einer der Maschinen im Flughafen-Terminal ein, und sorgte dafür, dass ich wusste, wo mein Gate ist. Dann trennten sich unsere Wege.

In Frankfurt habe ich meinen Pass dann weggeschmissen und mich der Polizei gestellt. Ich wusste, dass ich nicht an ihnen vorbeikommen würde. Die Deutschen sind bekannt dafür, dass sie gefälschte Pässe sofort erkennen. Ich wollte mir die Peinlichkeit ersparen, vor allen Leuten am Flughafen abgeführt zu werden.

Meine Freunde in Syrien fragen mich oft, ob sie diese Fahrt auf sich nehmen sollen. Dann erzähle ich ihnen, wie es gewesen ist. Die Entscheidung muss aber jeder selber treffen, und es ist dem Schicksal überlassen, ob man es lebend schafft oder nicht. Egal, ob Europa oder die Welt etwas gegen Schlepper unternimmt oder nicht: Die Menschen in Not werden immer einen Weg finden, um zu fliehen. Ich würde es jederzeit wieder tun, denn in Damaskus war ich schon lange tot.

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