Erdoğan als Profiteur

Dass die Europäische Union auch nach der Ratstagung Anfang Oktober an ihrer Beschwichtigungspolitik gegenüber der Türkei festhält, könnte sich letztlich als strategisches Risiko erweisen. Von Marc Pierini

Von Marc Pierini

In den letzten Monaten hat die Türkei mehrere gewagte außenpolitische Initiativen in Gang gesetzt – oft mit starker militärischer Komponente. Nach eingehenden Debatten beschloss der Europäische Rat am 1. Oktober, Ankara gegenüber weiterhin eine weiche Linie zu verfolgen. Man vereinbarte Anreize und verabschiedete sich vorerst von der Idee, Sanktionen zu verhängen. Birgt ein solches Vorgehen strategische Risiken für Europäische Union und NATO?

Die Europäische Union ist von ihrer Konzeption her ein Staatenverbund, der sich zur friedlichen Lösung von Konflikten verpflichtet hat – ob untereinander oder im Verhältnis zu den Nachbarstaaten. Unter den europäischen Staats- und Regierungschefs steuert insbesondere Bundeskanzlerin Angela Merkel einen versöhnlichen Kurs gegenüber der Türkei. Dies zeigte sich mehrmals deutlich, u. a. bei der Aushandlung des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei im Jahre 2015/2016 und zuletzt in den Schlussfolgerungen zur Tagung des Europäischen Rates vom 1. Oktober.

Anlass zur Sorge

Insbesondere diese offiziellen Schlussfolgerungen geben Anlass zur Sorge. Die europäischen Staats- und Regierungschefs waren zu einer außerordentlichen Tagung zusammengekommen, um sich u. a. über die Türkei zu beraten: Ankara ist seit Monaten auf Kollisionskurs zur EU – ob in Syrien, Libyen, im östlichen Mittelmeerraum oder in der Frage der Abgrenzung des Festlandsockels zu Griechenland.

Nach ausführlichen Gesprächen über Sanktionen entschied sich der Europäische Rat jedoch, der Türkei eine Atempause einzuräumen. Mit keinem Wort wurde der dortige trübe Zustand der Rechtsstaatlichkeit des Landes erwähnt. Und das zu einer Zeit, in der die europäischen Staats- und Regierungschefs offen die Lage in Weißrussland kritisieren und die mutmaßliche Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Navalny öffentlich machen, während in der Türkei die Zivilgesellschaft und die politische Opposition unvermindert unterdrückt werden. Mögliche Sanktionen wurden höchstens vorsichtig angedeutet.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen; Foto: AP/picture-alliance
Im diametralen Gegensatz zur politischen Kultur der EU: Aus einer umfassenden Perspektive betrachtet, stehen die expansionistischen Aktivitäten und die destruktiven außenpolitischen Initiativen der Türkei klar im Widerspruch zu den Interessen der Europäischen Union und der NATO, schreibt Marc Pierini.

Nach ausführlichen Gesprächen über Sanktionen entschied sich der Europäische Rat jedoch, der Türkei eine Atempause einzuräumen. Mit keinem Wort wurde der dortige trübe Zustand der Rechtsstaatlichkeit des Landes erwähnt. Und das zu einer Zeit, in der die europäischen Staats- und Regierungschefs offen die Lage in Weißrussland kritisieren und die mutmaßliche Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Navalny öffentlich machen, während in der Türkei die Zivilgesellschaft und die politische Opposition unvermindert unterdrückt werden. Mögliche Sanktionen wurden höchstens vorsichtig angedeutet.

Ein ähnliches „Silbertablett“ überreichten die europäischen Staats- und Regierungschefs der Türkei während der Flüchtlingskrise 2015, als sie Ankara zahlreiche Vorteile anboten, wie die Modernisierung der Zollunion mit der EU, Fortschritte bei der Visaerteilung und die Aussicht auf mehr Geld für syrische Flüchtlinge. Offenbar glaubte man, Präsident Erdoğan damit besänftigen zu können.

Handel mit der Türkei bleibt wichtig

Selbstverständlich steht Bundeskanzlerin Merkel vor einer besonderen Herausforderung. Die Stimmung unter den 3,5 Millionen türkischstämmigen Deutschen ist nicht zu vernachlässigen. Der Handel mit der Türkei und die Investitionen dort sind wichtig. Außerdem könnten wieder mehr Migranten nach Deutschland drängen, falls die EU eine härtere Linie gegen Richtung Ankara fährt. Abgesehen von diesen Überlegungen fehlte während der Beratungen am 1. Oktober eine klare Diagnose zur Entwicklung der Türkei und der Folgen für Europa und die NATO.

Die militärisch flankierte Diplomatie Ankaras wurzelt tief in der Innenpolitik des Landes. Angesichts der dramatisch schlechten wirtschaftlichen Entwicklung und des schwindenden Rückhalts der islamistisch-nationalistischen Koalition in der Bevölkerung stellt sich Erdoğan als Retter einer von allen Seiten bedrohten Nation dar. Er hofft, sich auf diese Weise bis zu den Wahlen 2023 und den Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Republik hinüberzuretten.

Ankara versucht, den türkischen Nationalstolz auf den Präsidenten zu lenken und lässt hierzu alte (und reale) Konflikte aufleben – wie beispielsweise die Seegrenzen mit Griechenland und Zypern und den  Bergkarabach-Konflikt. Man wagt sich in fremde Gebiete wie Nordsyrien, Libyen und Nordirak vor und setzt zur Unterstützung dieser zerstörerischen Diplomatie auf verstärkte militärische Mittel.

Die EU als Papiertiger?

Aus Sicht der Türkei dürften sich derzeit viele Möglichkeiten eröffnen. Die EU wird als Papiertiger wahrgenommen, der kaum in der Lage ist, sich in außenpolitischen Fragen schnell zu einigen. Die pro-türkische Merkel wird in knapp einem Jahr ihr Amt abgeben. Die USA leiden massiv unter den Folgen der Pandemie und lähmen sich selbst in einem Präsidentschaftswahlkampf, der die Nation spaltet.

S-400-Raketensystem in Armenien im Jahr 2011; Foto: Imago/Itar-Tass
Ankara’s militarised diplomacy: at a time when the economy is at a cliff’s edge and the popularity of the Islamist-nationalist coalition is waning, Erdogan needs to portray himself as the saviour of a nation attacked on all sides so that he can cruise through the 2023 elections and centennial celebrations

Die Türkei kauft das russische Raketenabwehrsystem S-400 und schwächt damit die NATO an einer für die Allianz wichtigen Flanke. Die bilateralen Beziehungen zu Moskau werden zunehmend schwieriger. Sie bieten Ankara jedoch Gelegenheit, auf der internationalen Bühne als Herausforderer Moskaus aufzutreten – ganz gleich, ob in Syrien, Libyen oder jetzt im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan.

Parallel dazu hat die Türkei ihre militärische Schlagkraft gegen konventionelle Streitkräfte durch den Einsatz bewaffneter Drohnen stärken können, so wie in jüngster Zeit in Nordsyrien, im Irak, in Westlibyen und jetzt in Bergkarabach.  Und das ist erst der Anfang: 2021 und darüber hinaus stellt Ankara neue Luft- und Seestreitkräfte in Dienst.

Die türkische Führung steht einerseits innenpolitisch unter Druck, erkennt andererseits aber die aktuellen Chancen und setzt Zeichen für ein Wiedererstarken ihrer militärischen Macht. Während sie unter allen ihren Partnern Verwirrung stiftet, hofft sie, sich selbst als maßgeblichen Akteur zu positionieren, den niemand ignorieren und nur wenige bekämpfen können. In einem solchen Kontext weisen die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in die falsche Richtung.

Eine Modernisierung der Zollunion würde gleiche Wettbewerbsbedingungen für europäische Akteure in der Türkei erfordern. Doch dort gibt es keine unabhängige Justiz mehr. Für Visaerleichterungen wäre ein geändertes türkisches Anti-Terror-Gesetz erforderlich. Das ist jedoch nicht in Sicht. Und das Angebot, eine multilaterale Konferenz über den östlichen Mittelmeerraum einzuberufen, ist eine denkbar schlechte Idee: Die EU würde damit faktisch die Türkische Republik Nordzypern anerkennen, den Vertretern des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad gegenübersitzen und eine Plattform für die Vergeltungsnarrative der Türkei unterstützen.

Reminiszenzen an die politischen Traditionen Russlands

Im Rückblick ist es dem Europäischen Rat lediglich gelungen, den türkischen Ball in der Hoffnung auf ein Einlenken Ankaras etwas weiter vorzulegen, anstatt eine Eindämmung zu erwirken.  Hat man dabei die strategischen Risiken übersehen oder kleingeredet?

Sicherlich beides: Aus einer umfassenden Perspektive betrachtet, stehen die expansionistischen Aktivitäten und die destruktiven außenpolitischen Initiativen der Türkei klar im Widerspruch zu den Interessen der Europäischen Union und der NATO.

Sie sind das genaue Gegenteil der eigenen politischen Kultur der EU und erinnern an die politischen Traditionen Russlands.  Der Kauf der russischen S-400-Raketen birgt große Risiken für die Raketenabwehr der NATO, auch wenn das System in wenigen Tagen an der Schwarzmeerküste aktiviert und getestet werden soll. Die Entsendung syrischer Dschihadisten sowie militärischen Personals und Geräts nach Libyen gefährdet die europäische Energieversorgung und könnte den Terrorismus in der Sahelzone anheizen. Und die Unterstützung und Versorgung der aserbaidschanischen Seite im Kaukasuskrieg wird den Konflikt zementieren und eine humanitäre Katastrophe auslösen. Zumal die Türkei auch dorthin Dschihadisten entsandt hat.

Dass der Europäische Rat einer autokratischen Türkei erlaubt, feindliche Maßnahmen an den südöstlichen Grenzen Europas zu ergreifen, ist kein Ausweis von Strategie. Es ist lediglich ein Ausweichmanöver, das den Staats- und Regierungschefs der EU bald erneut vor die Füße fallen wird.

Marc Pierini

© Carnegie Middle East Center 2020

Aus dem Englischen von Peter Lammers