Kampf um Ernährungssicherheit

Arabische Staaten wollen unabhängig von Lebensmittelimporten werden, um der drohenden Weizenknappheit durch den Ukraine-Krieg zu entgehen. Vielversprechende Ansätze gibt es - aber wenig Aussicht auf Autarkie. Von Jennifer Holleis

Von Jennifer Holleis

Angesichts des Kriegs in der Ukraine und der zu erwartenden Ausfälle bei den Weizenimporten in diesem Jahr steht für die Regierungen im Nahen Osten eine unabhängige Nahrungsmittelversorgung ganz oben auf der Tagesordnung.

"Die Anstrengungen sind nach der Corona-Pandemie und seit der russisch-ukrainischen Krise noch mal verdoppelt worden", sagt Neil Quilliam von der Nahost- und Nordafrikaabteilung des Londoner Thinktanks Chatham House gegenüber der Deutschen Welle.

Ein Beispiel ist der Libanon, wo auf 50.000 Hektar Weizen produziert wird. Es werden aber 180.000 Hektar Anbaufläche benötigt, um den Bedarf der 6,5 Millionen Einwohner zu decken.

"Jahrzehntelang hat der Libanon in großem Stil Weizen importiert, weil das preiswerter war, als im Land selbst Weizen anzubauen. Wegen der Krise müssen wir jetzt Alternativen finden", räumt Abdallah Nasreddine ein, Sprecher des Landwirtschaftsministeriums. "Das Agrarministerium hat bereits internationale Organisationen damit beauftragt, fruchtbare Böden zu identifizieren. Aber wir brauchen noch finanzielle Förderung", so Nasreddine im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Bevor aber die Weltbank oder der Internationale Währungsfonds Finanzhilfe leisten, braucht es ökonomische und strukturelle Veränderungen. Die scheinen unwahrscheindlich zu sein, denn das Land steht sowohl politisch als auch wirtschaftlich am Rande des Zusammenbruchs. Das Libanesische Pfund hat in den vergangenen drei Jahren 90 Prozent seines Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren, was Nahrungsmittelimporte für die Bevölkerung fast unerschwinglich macht. Was allerdings dem Lebensmittelanbau im Inland zugute kommt.

Landwirtschaft auf dem Dach in Beirut, Libanon; Foto: DW
Libanon: Vertikale Gärten werden immer beliebter. Statt den benötigten Raum zum Pflanzen in einer ebenen Fläche zu suchen, wird der Anbau der Pflanzen in die Höhe verlegt. So könnten die Vertikalen Gärten ein Schritt zu mehr Ernährungssicherheit sein. Der Libanon pflanzt derzeit auf 50.000 Hektar Weizen an, bräuchte aber 180.000 Hektar Anbaufläche um seine 6,5 Millionen Menschen zu versorgen.



Lokale Produkte seien konkurrenzfähiger und attraktiver geworden, berichtet Michael Bauer von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Beirut der Deutschen Welle. Es gebe mehr Projekte zur Selbstversorgung und mehr Start-Ups: "Es ist tatsächlich so, dass der Bereich Agrartechnologie zu den wenigen Branchen gehört, bei denen es hier zu Wachstum kommt."

Ein Beispiel ist das Projekt Vertikale Gärten, das der Umweltingenieur Ziad Abi Chaker auf den Weg gebracht hat. Er verwandelt die Flachdächer von Häusern in Beirut in Vertikale Gemüsegärten und plant auch Vertikale Gärtnereien. "Lebensmittel sind sehr teuer geworden", erklärt er der Deutschen Welle. "Darum bauen die Leute sie mehr und mehr selber an. Unsere vertikalen Landwirtschaftsprojekte waren im vergangenen Jahr schon auf einem guten Weg, und seit der Krieg begonnen hat, gilt das um so mehr." Ziad Abi Chaker hat 2021 fünf Vertical Farming-Projekte aufgebaut und plant für dieses Jahr sieben weitere.

Ein anderes Beispiel ist eine Kooperative östlich von Beirut, die alte Saatgutsorten herstellt. Buzuruna Juzuruna (Unsere Samen, unsere Wurzeln) hat seit 2016 massiv expandiert. "2021 war die Nachfrage nach unseren Saaten überwältigend", so einer der Bauern. Landwirte freuen sich über die Chance, seltene Sorten vor dem Verschwinden zu bewahren, und über die Möglichkeit, erschwingliches Saatgut für Weizen, Gerste oder Gemüse zu kaufen.

Bisher sind diese erfolgreichen Projekte aber die Ausnahme. Es gibt so viele strukturelle Probleme im Libanon, dass Nahrungsmittelautonomie wohl kaum in naher Zukunft Wirklichkeit wird. Auch der Klimawandel mache keinen Bogen um das Land, betont Neil Quilliam. "Zentrale Herausforderungen wie Dürren, steigende Temperaturen und Wassermangel treffen die ganze Region."

Bessere Saaten, mehr Land

Ägypten ist mit 102 Millionen Menschen das einwohnerreichste arabische Land und hat durch den Krieg in der Ukraine ebenfalls Probleme mit der Weizenversorgung. Prognosen zufolge wird die Bevölkerung dieses Jahr rund 20 Millionen Tonnen Weizen verbrauchen. Derzeit produziert das Land selber zehn Millionen Tonnen pro Jahr. Der Rest wird importiert - und davon stammen 80 Prozent aus der Ukraine und Russland.

Im Ramadan sind die Preise massiv in die Höhe geschossen; Foto: Mohammed Huweis/AFP
Ägypten ist mit 102 Millionen Menschen das einwohnerreichste arabische Land und hat durch den Krieg in der Ukraine ebenfalls Probleme mit der Weizenversorgung. Prognosen zufolge wird die Bevölkerung dieses Jahr rund 20 Millionen Tonnen Weizen verbrauchen. Derzeit produziert das Land selber zehn Millionen Tonnen pro Jahr. Der Rest wird importiert - und davon stammen 80 Prozent aus der Ukraine und Russland.



Nach dem Beginn des Krieges hat die ägyptische Regierung einen Drei-Stufen-Plan entwickelt, um die lokale Produktion anzukurbeln. "Dieses Jahr hat die Regierung umgerechnet knapp 102.000 Hektar Land für Weizenanbau bereitgestellt, und nächstes Jahr soll diese Fläche verdoppelt werden", erläutert Aladdin Hamwieh, Biotechnologe beim regierungsnahen International Center for Agricultural Research in the Dry Areas (ICARDA), gegenüber der DW. "Und das ist zusätzlich zu den über 600.000 Hektar, die wir in den vergangenen Jahren kultiviert haben." Weizen wird jetzt nicht nur im fruchtbaren Nildelta angebaut, sondern auch in den Wüstengebieten Oberägyptens, obgleich die trockene Erde dort mehr Dünger braucht.

Die Regierung fördert die heimische Produktion auch, indem sie den Bauern zertifiziertes Saatgut zur Verfügung stellt, das höhere Erträge liefert. Sie hat außerdem zugesagt, den Landwirten mehr als sechs Millionen Tonnen Weizen zu einem festgelegten Preis abzukaufen. So soll das dringend benötigte Nahrungsmittelprogramm abgesichert werden.

Ägypten subventioniert Lebensmittel für 70 Prozent der Bevölkerung - vor allem Brot, das als Grundnahrungsmittel zu jedem Essen dazugehört. Darum gibt es die Überlegung, in Zukunft Weizen mit Gerste zu mischen. "Gerste wächst auf trockenen, kargen Böden mit einem hohen Salzgehalt, das kann Weizen nicht", erklärt ICARDA-Forschungsdirektor Michael Baum.

Wichtig seien auch Veränderungen, die die Bewirtschaftung fördern, fügt sein Kollege Aladdin Hamwieh hinzu: "Immer mehr Weizen wird in Hochbeeten angebaut. Das spart bis zu 25 Prozent Bewässerung, benötigt 15 Prozent weniger Saatgut und erhöht den Ernteertrag um bis zu 30 Prozent."

Eine Unabhängigkeit von Weizenimporten "erreichen wir vielleicht nie", sagt Aladdin Hamwieh, aber eine Erhöhung der einheimischen Produktion bis auf 70 Prozent wäre schon ein Erfolg. Eine 20-prozentige Steigerung könnte die wachsende Nachfrage ausgleichen, die aus dem Bevölkerungswachstum von 2,5 Prozent resultiert.

 



 

Zurück zu den Wurzeln

Die Weltbank ist einer der wichtigsten Anbieter von Krediten und Finanzhilfe in der Region. Sie warnt, dass Ernährungsunsicherheit über Jahre hin eine wachsende Herausforderung bleiben wird - sie sieht aber auch mögliche Lösungen. "Einheimische Landwirtschaft und Lebensmittel können die Motoren für Wirtschaftswachstum sein und Arbeitsplätze für Berufsanfänger schaffen", schreibt Ferid Belhaj, Vizepräsident für Nahost und Nordafrika bei der Weltbank, in einem Beitrag.

Der Nahe Osten und Nordafrika "können ihre historische Führungsrolle bei Innovationen in der Landwirtschaft zurückerlangen, indem sie in wegweisende Methoden und Technologien investieren, die auf ein sich veränderndes Klima reagieren, wie etwa Hydrokultur, bodenschonender Anbau und die sichere Nutzung von aufbereitetem Wasser".

Die Agrartechnologiefirma Pure Harvest in Abu Dhabi gilt als ein solches wegweisendes Unternehmen im Agrarsektor. Es produziert landwirtschaftliche Erzeugnisse mit Hydrokultur, so dass Getreide auf mineralischen Nährlösungen wächst statt in der Erde. Diese Technologie gilt als eine innovative Antwort auf die Ausbreitung von Wüsten, eine weitere Herausforderung in der Region.

Bis jetzt ist Pure Harvest außerdem in einem anderen Bereich die Nummer eins: 2020 hat die Wafra International Investment Company 100 Millionen US-Dollar in das Unternehmen investiert - die bisher größte Summe, die je in eine Agrartechnologiefirma im Nahen Osten investiert wurde.

Jennifer Holleis

© Deutsche Welle 2022

Mit Zulieferungen von Razan Salman.

Adaption aus dem Englischen: Beate Hinrichs