"Dialog unter Menschen"

Im Dialog zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen plädiert Hartmut Fähndrich für einen Abbau der 'Überislamisierung' auf beiden Seiten. Die Katholische Nachrichten-Agentur führte ein Interview mit dem namhaften Übersetzer arabischer Literatur.

Sie sind Dozent für Islamwissenschaft an der ETH Zürich. Doch diese offizielle Bezeichnung ihrer Tätigkeit mögen Sie nicht sonderlich ...

Hartmut Fähndrich: Weil der Begriff Islamwissenschaft Ausdruck der verkürzten und einseitigen Art ist, wie der Nahe Osten im Westen wahrgenommen wird. Unser Blick auf die arabische Welt erfolgt primär durch die Brille der Religion, wir setzen den Nahen Osten automatisch mit dem Islam gleich und betrachten alle Araber in erster Linie als Muslime. Das halte ich für fatal.

Können Sie das näher erläutern?

Fähndrich: Es ist eine Verengung der Perspektive, die der vielfältigen kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation im arabischen Raum nicht gerecht wird. Zum einen leben im Nahen Osten auch Christen, vor allem aber ist der Islam längst nicht für alle Araber der einzige oder entscheidende Identifikationsfaktor. Viele meiner arabischen Bekannten und Freunde bezeichnen und fühlen sich als Araber oder Ägypter und nicht in erster Linie als Muslime. Außerdem sind auch nicht alle Normen, Werte und Verhaltensweisen im arabischen Raum «islamisch», sondern auch durch Traditionen, Politik und soziale Situation bedingt.

Die im Westen verbreitete Vorstellung des Islam als eines homogenen Blocks ...

Fähndrich: ... ist falsch. Dahinter verbirgt sich auch viel diffuse Angst. Der Westen könnte wohl viel unverkrampfter mit Muslimen umgehen, wenn bewusst wäre, wie vielfältig und auch zerstritten die islamische Welt ist. Innerhalb des Islam gibt es Fundamentalisten genauso wie liberale Reformer und Menschen, die dem Religiösen distanziert gegenüber stehen.

Auch bekennende Atheisten?

Fähndrich: Es gibt Araber, für die Religion keine Rolle spielt, und die das im privaten Gespräch auch betonen. Aber sich öffentlich als Atheist zu bekennen, ist heute in der arabischen Welt noch undenkbar. Die gesellschaftliche Erwartung und der Druck, sich zu einer Religion - nicht unbedingt der islamischen - zu bekennen, ist dazu noch zu stark. Außerdem muss, wer sich atheistisch äußert, auf Grund der in vielen Ländern existierenden Blasphemieartikel auch mit einer gerichtlichen Verurteilung rechnen. In dieser Beziehung sollte sich noch einiges ändern: Auch in einem arabischen Land sollte es möglich sein, sich öffentlich als nicht gläubig zu bekennen.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass in den westlichen Medien keine arabischen Experten zu Wort kommen und Bücher arabischer Autoren nur geringe Auflagen erreichen, während «europäische» Nahost-Bücher zu Bestseller werden?

Fähnrich: Unter anderem daran, dass wir durch unsere Schulbildung und unsere Kultur eine fixe, aber falsche Vorstellung davon haben, wie der Orient und die Araber zu sein haben. Unser Nahost-Bild ist bis heute stark durch die europäische Romantik geprägt: Die Welt von «1001 Nacht», die Düfte und Farben, der Harem, der Dolch im Gewand des Arabers als Symbol für seine Hinterhältigkeit - diese Klischees prägen und trüben unseren Blick auf die arabische Welt heute noch und erschweren damit auch die differenzierte Auseinandersetzung.

Inwiefern?

Fähnrich: Die meisten Leute wollen ihre Vorstellungen und Klischees erfüllt sehen und sind nicht bereit, sich auf etwas einzulassen, das diesem Bild widerspricht. Bei Lesungen mit arabischen Autoren in Europa spüre ich oft Enttäuschung beim Publikum, weil die zeitgenössische arabische Literatur ihre Erwartungen vom märchenhaften Orient nicht erfüllt.

Sie haben verdeutlicht, wie stark unser «Wissen» über den Nahen Osten und den Islam von Klischees und fixen Erwartungen geprägt ist. Äußert sich das auch im Umgang mit Immigranten aus der arabischen Welt?

Fähndrich: Absolut. Man glaubt zu wissen, wie diese Menschen sind und wie sie funktionieren. Auch hier ist die «Überislamisierung» von Muslimen durch Europäer das Problem. Wir tendieren dazu, für jegliches von unseren Normen und Vorstellungen abweichende Verhalten bei muslimischen Immigranten den «Islam» verantwortlich zu machen. «Die sind eben so, weil sie Muslime sind», lautet die einfache Erklärung für alles.

Diese «Überislamisierung» gibt es auch auf muslimischer Seite. Gerade einfachere Muslime tendieren dazu, ihr Verhalten als typisch muslimisch zu legitimieren, weil das der Diskurs ist, den sie kennen. Dass dieses abweichende Verhalten ganz verschiedene Ursachen haben kann, wird dabei von beiden Seiten übersehen.

Und welche Konsequenzen hat diese «Überislamisierung»?

Fähndrich: Mit der beidseitigen Überislamisierung werden vor allem die konservativen Tendenzen innerhalb des Islams als typisch oder wahrhaftig «islamisch» festgeschrieben. Das bringt den Islam generell in Gefahr, Ablehnung als rückwärts gerichtete Religion mit für hiesige Verhältnisse unangemessenen Verhaltensformen zu wecken. Häufig sind es ja jene Verhaltensweisen, die bei Gesprächs- und Dialogrunden als spezifisch islamisch hingestellt werden, die ihre Herkunft aus sozial und wirtschaftlich benachteiligten Regionen nicht leugnen können. Das schadet jenen liberalen Muslimen, die durchaus froh sind, nicht mehr in der islamischen Welt leben zu müssen, weil sie in Europa ihren Glauben ihren Vorstellungen entsprechend leben können - und nicht wie es der Staat oder die Sozialkontrolle durch die Nachbarn ihnen vorschreibt.

Können Sie ein Beispiel für diesen Prozess nennen?

Fähnrich: Nehmen wir zum Beispiel die Frage der Bekleidung. Manche Musliminnen propagieren das Tragen eines Kopftuchs als islamische Pflicht, viele gläubige Musliminnen hingegen lehnen das ab, weil sie finden, dass für sie Religion nichts mit Bekleidung zu tun hat. In den letzten Jahren haben die Medien die konservative Auslegung, was «islamisch» ist, kritiklos übernommen und schreiben nun vom «islamischen Kopftuch». Richtiger wäre es, den Begriff «das von manchen Leuten als islamisch bezeichnete Kopftuch» zu verwenden. Damit würde man all jenen anders denkenden Muslimen einen Gefallen tun, die eben kein Kopftuch tragen und sich doch als Muslime fühlen.

Spätesten seit Hans Küng 1990 sein Projekt Weltethos vorstellte und erklärte, ohne Religionsdialog gebe es keinen Weltfrieden, ist der Dialog der Religionen in aller Munde und wird auch in der Schweiz als integrationspolitische Maßnahme gehandelt. Was halten Sie davon?

Fähndrich: Zuerst einmal frage ich mich, inwieweit die großen Religionen mit ihrem absoluten Wahrheitsanspruch überhaupt friedensfähig sind und Basis für einen Dialog bilden können. Besteht da nicht die Gefahr, dass es bei einem solchen Dialog letztlich nur um die eigene Selbstbestätigung geht, im Sinne von: Wir haben und sind eben doch etwas Besseres als die anderen? Und wie repräsentativ ist ein solcher Dialog der Religionen? Dürfen da auch die Ungläubigen daran teilnehmen und ihre Sicht als eine mögliche Art des Weltverständnisses einbringen? Nur wenn das gewährleistet ist, scheint mir ein solcher Dialog überhaupt relevant.

Ein solcher Dialog kann aber auch positiv wirken, indem dabei scheinbare Parallelen zwischen Christentum und Islam als falsch erkannt werden, was wiederum Missverständnissen vorbeugen kann: Moschee und Kirche zum Beispiel scheinen eins, sind es aber nicht. So ist etwa die Verbindung von religiöser und politischer Aktivität in der Moschee für viele Moslems nichts Abwegiges. Auch Bibel und Koran haben in den beiden Religionen nicht denselben Stellenwert. Außer fundamentalistischen Kreisen glaubt im Christentum niemand mehr daran, dass die Bibel das buchstäbliche Wort Gottes ist. Der Koran hingegen wird von den Moslems als wörtlich inspiriertes Gotteswort verstanden.

Sie haben an anderer Stelle vorgeschlagen, statt einem Dialog der Religionen einen Dialog unter Menschen zu führen. Was meinen Sie damit?

Fähndrich: Ich denke, die Überreligionisierung des Menschen verstellt den Blick auf den einzelnen Menschen und ist irgendwie auch nicht mehr zeitgemäß. Wir Menschen von heute haben vielfältige Identitäten, viele verschiedene Faktoren prägen unsere Identität - Religion kann einer dieser Faktoren sein, aber meiner Ansicht nach sollte er nicht als das zentrale Identifikationsmerkmal verwendet werden.

Einen Dialog unter Menschen zu führen hieße dann, dass sich Menschen begegnen würden, die zwar unterschiedliche Vorstellungen haben, was das Religiöse angeht, aber gewisse gemeinsame Erfahrungen und Probleme, die als Basis für Dialog und Kohäsion dienen.

Interview: Stephan Moser
Quelle: KNA-Dienst "Ökumenische Information", Nr. 22/23 vom 03.06.2003
(Das Interview wurde leicht gekürzt.)

Lesen Sie auch das Interview mit Hartmut Fähndrich über arabische Literatur und die Schwierigkeit des Übersetzens im Dossier 'Deutsch-arabischer Literaturaustausch'