Achtung Tunnelblick! 

Die Zeitenwende in der deutschen Politik muss mit Weitblick erfolgen. Unabhängigkeit von Russland darf nicht zur Abhängigkeit von anderen autoritären Regimen im Nahen und Mittleren Osten führen
Die Zeitenwende in der deutschen Politik muss mit Weitblick erfolgen. Unabhängigkeit von Russland darf nicht zur Abhängigkeit von anderen autoritären Regimen im Nahen und Mittleren Osten führen

Die Zeitenwende in der deutschen Politik muss mit Weitblick erfolgen. Unabhängigkeit von Russland darf nicht zur Abhängigkeit von anderen autoritären Regimen im Nahen und Mittleren Osten führen. Von Kristin Helberg 

Von Kristin Helberg

Zeitenwende. Auch wenn wir immer noch nicht wissen, was genau sie bringen wird außer den 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, scheint eines klar: Sie geht einher mit einer fundamentalen Neubewertung unserer Außen- und Energiepolitik gegenüber Russland. Diese ist dringend nötig, birgt aber gleichzeitig das Risiko, Fehler der Vergangenheit zu wiederholen statt zu korrigieren.  

Denn sogenannte Zeitenwenden führen oft zu einem Tunnelblick, zu einer in unserer vielfältig vernetzten und interdependenten Welt problematisch verengten Sichtweise. Davor zu warnen, bedeutet nicht, dass Deutschland sich weiter wegducken sollte, sondern im Gegenteil: Es braucht mehr Mut, mehr Führung, mehr Verantwortung, aber bitte mit Weitblick. 

Das Risiko der aktuellen deutschen Selbstfindung besteht darin, sich von einer fixen Idee treiben zu lassen, statt selbst gesteckten Parametern zu folgen. Diese fixe Idee, eine Art neues außenpolitisches Denkmuster, beruht auf zwei Erkenntnissen aus dem Krieg gegen die Ukraine, die zunächst einmal vollkommen richtig sind:  

Erstens muss Deutschland sich mit seinen Bündnispartnern gegenüber Russland verteidigen können, zweitens sollten wir so schnell wie möglich unabhängig von russischem Gas werden, was die klimapolitisch gebotene Entwicklung erneuerbarer Energien umso dringlicher macht.  

Die weiteren Schritte liegen scheinbar auf der Hand: mehr Geld für die Bundeswehr, mehr Waffen für die Ukraine, eine Aufwertung der Nato und Energiepartnerschaften mit Staaten, die Europa möglichst bald mit CO₂-neutral erzeugtem Wasserstoff versorgen können. Aus diesen Schritten ergeben sich jedoch neue Abhängigkeiten, und zwar von Staaten, die ähnlich autokratisch sind wie Putins Russland.

Habeck mit dem katarischen Minister für Handel, Scheich Mohammed bin Hamad bin Kasim al-Abdullah Al Thani; Foto: Bernd von Jutrczenska/dpa/picture-alliance
Deutschland muss so schnell wie möglich unabhängig von russischem Gas werden, was die klimapolitisch gebotene Entwicklung erneuerbarer Energien umso dringlicher macht.  Aus den Bemühungen um Energiepartnerschaften mit Staaten, die diese erneuerbaren Energien liefern können - hier Wirtschaftsminister Habeck beim katarischen Minister für Handel, Scheich Mohammed bin Hamad bin Kasim al-Abdullah Al Thani - ergeben sich jedoch neue Abhängigkeiten. Die Golfstaaten und Länder Nordafrikas haben so viel Sonne, Wind und Fläche, dass sie grünen Wasserstoff bald zu extrem günstigen Preisen anbieten können – noch dazu in der Nähe Europas. Schon jetzt werden in den Vereinigten Arabischen Emiraten, in Saudi-Arabien und Ägypten gigantische Solarkraftwerke und Windparks gebaut, weil die dortigen Regime erkannt haben, dass sie ihre Macht auf Dauer nur mit der Entwicklung und dem Ausbau erneuerbarer Energien sichern können. 



Die Türkei etwa unterdrückt nicht nur Gegner und Kritiker im Inneren, sondern besetzt völkerrechtswidrig Teile Nordsyriens. Weil Europäer und US-Amerikaner die Türkei aber als Nato-Mitglied so dringend brauchen, loben sie Präsident Recep Tayyip Erdoğans konstruktives Krisenmanagement, was dessen Selbstbewusstsein weiter stärkt. Die Zustimmung zu den Nato-Aufnahmeanträgen Schwedens und Finnlands lässt sich Erdoğan teuer bezahlen – mit F16-Kampfjets aus den USA, einer Aufhebung des Waffenembargos, das einige EU-Staaten nach dem türkischen Einmarsch in Nordsyrien 2019 verhängt haben, und einem Ende der Unterstützung für kurdische Dissidenten. 



Unersetzlich ist Erdoğan bereits als Türsteher, der Geflüchtete von Europa fernhält. Denn die EU ist noch immer nicht in der Lage, Migration zu gestalten, statt abzuwehren. Jetzt hindert der türkische Präsident nicht mehr nur Flüchtende an der Weiterreise, sondern auch russische Kriegsschiffe an der Fahrt durch den Bosporus.  

Und seitdem Wladimir Putin angekündigt hat, zusammen mit der Türkei den Warenverkehr im Schwarzen Meer zu regeln und womöglich die in ukrainischen Häfen festsitzenden Getreideexporte freizugeben, hat Erdoğan einen weiteren Trumpf im Ärmel. 

Im Gegenzug erwartet die Regierung in Ankara freie Hand in Nordsyrien, wo die Türkei mit ihren Militärinterventionen bereits mehrere Hunderttausend Menschen – vor allem Kurden – zur Flucht gezwungen hat. Die vierte Invasion steht unmittelbar bevor, sie soll die türkisch kontrollierten Gebiete entlang der Grenze miteinander verbinden. In diese sogenannte Sicherheitszone möchte Erdogan dann bis zu einer Million syrische Geflüchtete zurückschicken – eine Form der ethnischen Säuberung, da Kurden vertrieben und Araber angesiedelt werden. 

Mehr Nato bedeutet mehr Abhängigkeit von Erdoğan 

Bei den Energiepartnerschaften sieht es leider nicht besser aus. Denn die Golfstaaten und Länder Nordafrikas haben so viel Sonne, Wind und Fläche, dass sie grünen Wasserstoff bald zu extrem günstigen Preisen anbieten können – noch dazu in der Nähe Europas. Schon jetzt werden in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), in Saudi-Arabien und Ägypten gigantische Solarkraftwerke und Windparks gebaut, weil die dortigen Regime erkannt haben, dass sie ihre Macht auf Dauer nur mit der Entwicklung und dem Ausbau erneuerbarer Energien sichern können. 

Roland Busch, Vorstandschef der Siemens AG, hier bei einem Treffen in München im Februar; Foto: Sven Hoppe/pool via AP/picture-alliance
Größtes Geschäft der Firmengeschichte: Roland Busch, Vorstandsvorsitzender der Siemens AG verkündet stolz in München einen Milliardenauftrag zum Ausbau des ägyptischen Bahnnetzes. Doch hat sich als Illusion entpuppt, dass solche Wirtschaftskooperationen zu einer Öffnung autoritärer Regime führen würden. "Wer also glaubt, Ägyptens Präsident Al-Sissi würde Menschenrechtler freilassen, weil Siemens dem nordafrikanischen Land eine neue Eisenbahn mit 2.000 Kilometer Schienennetz für Hochgeschwindigkeitszüge baut, der hat noch immer nicht verstanden, dass diese Despoten so lange am längeren Hebel sitzen, wie wir uns von ihnen abhängig machen,“ schreibt Kristin Helberg. "Zumal sie uns längst nicht mehr so dringend brauchen wie früher, weil sie ihre Außenbeziehungen bereits diversifiziert haben.“ 



Geblendet von so viel Fotovoltaik kann auch Wirtschafts- und Umweltminister Robert Habeck nicht widerstehen, der sich im März bei dem Besuch einer Solarstromanlage in den VAE deutlich wohler fühlte als beim Einkauf von Flüssiggas in Katar. Doch für die angestrebte wertebasierte Außenpolitik seiner Parteikollegin Annalena Baerbock ist beides problematisch, denn angesichts der Menschenrechtslage in Nahost und Nordafrika verbietet sich eine energiepolitische Abhängigkeit von den dortigen Herrschern. 

Sämtliche Staaten, die die Bundesregierung in der arabischen Welt als Partner der Energiewende betrachtet, bilden im internationalen Vergleich die Schlusslichter bei Presse- und Meinungsfreiheit, zivilgesellschaftlichen Handlungsspielräumen und Korruption. Laut Reporter ohne Grenzen sind der Nahe Osten und Nordafrika weltweit die Regionen mit der geringsten Pressefreiheit, in zehn Staaten sei die Lage für Journalisten "sehr ernst", darunter Ägypten, Bahrain, Saudi-Arabien, Oman und Kuwait.  

Der Atlas der Zivilgesellschaft zeichnet ein ähnliches Bild. In neun Ländern – Saudi-Arabien, Ägypten, Irak, VAE, Bahrain, Iran, Jemen, Syrien und Libyen – gilt der zivilgesellschaftliche Raum als rechtlich und praktisch komplett geschlossen. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst, weil staatliche und nicht-staatliche Akteure ungestraft davonkommen, wenn sie Menschen, die ihre Meinung frei äußern oder herrschende Regime kritisieren, inhaftieren, misshandeln oder töten. Besonders betroffen sind davon Verteidigerinnen und Verteidiger der Menschenrechte. 

Am Anfang steht die Beschwörung einer Gefahr 

Nun sind diese Länder seit Langem wichtige Handelspartner Deutschlands. Und natürlich ist es besser, Rotorblätter, Windturbinen und Solarzellen nach Saudi-Arabien zu liefern als Verbrennungsmotoren. Aber im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen unterliegt der Energiesektor naturgemäß einer starken staatlichen Einflussnahme. Betrachtet man die Investoren, Bauunternehmen und Betreiber der geplanten Megaprojekte, zeigt sich, dass sie sämtlich den herrschenden Eliten nahestehen, deren Macht sie sichern sollen. Das bedeutet: Im Energiesektor kommt man am Staat nicht vorbei, in autoritär geführten Ländern dient jedoch der Staat dem Regime und das Regime den Machthabenden. 

 

 

Das Argument der Klimaschützer, vom Ausbau erneuerbarer Energien würden mehr Menschen profitieren als von fossilen Brennstoffen, weil es Sonne und Wind im Gegensatz zu Öl und Gas an vielen Orten der Welt gibt, gilt nur, solange der grüne Strom dezentral und in kleinen Mengen erzeugt wird. Sobald die massenhafte und kostengünstige Herstellung grünen Wasserstoffs im Mittelpunkt steht, weil das energiehungrige Europa seinen Bedarf nicht allein decken kann, profitieren die Länder, die möglichst viel möglichst billig produzieren. Und das sind ziemlich genau die Staaten, die seit Jahrzehnten den Markt für fossile Brennstoffe dominieren. Dass Deutschland vorübergehend Flüssiggas aus Katar braucht – geschenkt. Aber für die eigene Energiewende auf grünen Wasserstoff aus Saudi-Arabien und die VAE zu bauen, ist fahrlässig. 

Die Lehre aus dem Krieg gegen die Ukraine lautet deshalb nicht einfach: "Macht euch unabhängig von russischem Gas." Nein, die tiefere Erkenntnis lautet, dass wir uns in Energiefragen von keinem zweifelhaften Regime dieser Welt abhängig machen sollten. Wie das gehen soll? Indem wir diversifizieren. Je mehr Quellen, desto besser, auch wenn es mühsamer und teurer ist. Damit wir auf den Wasserstoff aus Saudi-Arabien problemlos verzichten können, wenn der erste saudische Oppositionelle tot im Berliner Tiergarten liegt. 

Das bringt uns zur außenpolitischen Herausforderung unserer Zeit: dem Umgang mit autoritären Regimen. In der Vergangenheit waren wir dabei von zwei fixen Ideen getrieben: dem Bedürfnis nach Sicherheit und dem Wunsch, Diktaturen durch mehr Austausch positiv zu beeinflussen. Das erste Paradigma führte zum Krieg gegen den Terror, das zweite zu Wandel durch Handel – beide sind krachend gescheitert, weil unsere Sicht verengt war, Stichwort Tunnelblick. 

Am Anfang steht die Beschwörung einer Gefahr. Etwas Schlimmes ist passiert – Putin hat die Ukraine überfallen – und wir müssen uns schützen. Je bedrohlicher das Szenario, desto mehr bestimmt es unser Handeln. Bis wir der Bekämpfung dieser Gefahr innen- und außenpolitisch alles unterordnen und dabei grundlegende Werte verraten. So geschehen beim Kampf gegen den Terror. 20 Jahre lang haben wir islamisch verbrämten Extremismus mit der Einschränkung individueller Freiheitsrechte, staatlicher Ermächtigung im Inneren und zweifelhaften Antiterrorkoalitionen im Ausland bekämpft.  

Getrieben von der Angst vor Anschlägen in Europa reisten unsere Politiker nach Saudi-Arabien und in die Türkei, nach Ägypten und Katar, Russland und Pakistan, um mit den dortigen Machthabern Allianzen gegen den Terror zu schmieden. Diese frohlockten, denn dadurch konnten sie ihre persönlichen Feinde fortan als Terroristen jagen: Blogger und Journalisten, zivilgesellschaftliche Organisationen und Oppositionelle, Muslimbrüder und die PKK.

Eine saudische Frau hält ihren Führerschein hoch; Foto: picture-alliance/AP Photo/Saudi Information Ministry
Eine saudische Frau zeigt stolz ihren neuen Führerschein. Seit 2018 dürfen saudische Frauen selber am Steuer sitzen. Ist das denn keine positive Entwicklung? „Stimmt. Doch mit deutschen Maschinenexporten hat das nichts zu tun,“ schreibt Kristin Helberg. „Kronprinz Mohammed Bin Salman hat lediglich erkannt, dass Zugeständnisse beim Lifestyle die jungen Saudis ruhigstellen und seine Macht stabilisieren.“ In den Emiraten gibt es sogar eine Ministerin für Klimaschutz. „Frauen in Führungspositionen, die modern auftreten, dabei aber genauso regimetreu sind wie ihre männlichen Kollegen, verbessern das Image im Westen, ohne die eigenen Herrschaftsstrukturen zu gefährden,“ so Helberg.



Der Kampf gegen den Terror diente Demokratien wie Diktaturen als Vorwand für Kriege und Völkerrechtsverbrechen – ob im Irak oder in Tschetschenien, in Myanmar oder China. Er wurde zur Generalvollmacht für staatliche Repression. Dadurch bereitete er den Boden für die Aufstände in der arabischen Welt ab 2011, er bestärkte autoritäre Herrschaftssysteme in Südostasien und am Golf und er ermöglichte den Umbau von einigermaßen demokratischen Staaten in illiberale Autokratien wie in Russland, der Türkei, Ungarn und Brasilien.

Mehr Handel brachte keinen Wandel 

Auslöser dieser verheerenden Entwicklung war ein Ereignis, das damals genauso erschütternd wirkte wie Putins Angriff auf die Ukraine heute: die Anschläge des 11. September 2001 in New York und Washington, D. C. Auch damals war die Rede von einer Zeitenwende, doch am Ende war es nicht das Ereignis selbst, sondern die Reaktion darauf, die eine neue Epoche einleitete und prägte – das Zeitalter des war on terror.

Dieses ging einher mit dem Wunschdenken, Diktaturen ließen sich durch Wirtschaftsbeziehungen innenpolitisch reformieren. Da Europa die Despoten dieser Welt in jener Zeit als Verbündete brauchte und Deutschland seine Außenpolitik gern in den Dienst wirtschaftlicher Interessen stellte, ließ man sich von dem außenpolitischen Paradigma des Wandels durch Handel treiben.  

Wirtschaftliche Öffnung und Austausch mit den liberalen Gesellschaften im Westen würden in Staaten wie China und Russland eine Mittelschicht hervorbringen, die – so lautete die Hoffnung – früher oder später nicht mehr nur Wohlstand, sondern auch politische Mitsprache und individuelle Freiheiten einfordern würde. Doch statt den Bürgern mehr Rechte zuzugestehen, nutzten die Führungen in Peking und Moskau das neu gewonnene technologische Know-how, um die Medien zu zensieren, das Internet zu kontrollieren und die Menschen zu überwachen. Die Einnahmen aus dem Verkauf ihrer natürlichen Rohstoffe und die eigene Marktmacht nutzten sie, um ihre Herrschaft im Inneren zu festigen und als Produzenten und Lieferanten in einem globalisierten Handel unverzichtbar zu werden. 

Aber es gibt auch positive Entwicklungen, mögen manche einwerfen. Die Frauen in Saudi-Arabien dürfen jetzt Auto fahren und die VAE haben eine Ministerin für Klimaschutz! Stimmt. Doch mit deutschen Maschinenexporten hat das nichts zu tun. Kronprinz Mohammed Bin Salman hat lediglich erkannt, dass Zugeständnisse beim Lifestyle die jungen Saudis ruhigstellen und seine Macht stabilisieren. Und Frauen in Führungspositionen, die modern auftreten, dabei aber genauso regimetreu sind wie ihre männlichen Kollegen, verbessern das Image im Westen, ohne die eigenen Herrschaftsstrukturen zu gefährden. 

Wer also glaubt, Ägyptens Präsident Al-Sissi würde Menschenrechtler freilassen, weil Siemens dem nordafrikanischen Land eine neue Eisenbahn mit 2.000 Kilometer Schienennetz für Hochgeschwindigkeitszüge baut, der hat noch immer nicht verstanden, dass diese Despoten so lange am längeren Hebel sitzen, wie wir uns von ihnen abhängig machen. Zumal sie uns längst nicht mehr so dringend brauchen wie früher, weil sie ihre Außenbeziehungen bereits diversifiziert haben. 

Das 2013 eröffnete VW-Werk in Urumqi in der Provinz Xinjiang; Foto: picture-alliance/dpa/S.Scheuer
Mehr Handel aber kein Wandel: Im Nordwesten Chinas, in der Autonomieregion Xinjiang, werden nach Einschätzung von Experten mehr als eine Million Menschen in Lagern festgehalten. Betroffen sind vor allem Angehörige der muslimischen Minderheit der Uiguren. Trotzdem hat der deutsche Autobauer VW in der Region einen Standort. Der einzige internationale Autokonzern, der hier produziert. Auch deutsche Politiker ließen sich von chinesischen Straflagern für die Uiguren nicht beirren. Sie sicherten das China-Geschäft deutscher Unternehmen mit staatlichen Bürgschaften, damit die Chinesen weiterhin deutsche Autos kaufen.  



In Ägypten baut Russland das erste Atomkraftwerk, in den VAE beteiligt sich China am größten Solarkraftwerk der Welt. Für die Regime in Nahost ist Putin kein Kriegstreiber, sondern ein Partner, die Regierungen Moskau und Peking gelten als wichtige Gegenpole zu denen in Washington, D. C., und Brüssel. 



Mehr Handel brachte also keinen Wandel, sondern weniger Demokratie. Deutsche Politiker ließen sich davon nicht beirren – nicht von Putins Annexion der Krim, nicht von chinesischen Straflagern für die Uiguren. Sie blickten stur geradeaus, sicherten das China-Geschäft deutscher Unternehmen mit staatlichen Bürgschaften und bauten Nord Stream 2, damit die Chinesen weiterhin deutsche Autos kauften und billiges Gas aus Russland die deutsche Wirtschaft am Laufen hielt. Am Ende hatten Moskau und Peking sich nicht verändert, sondern hatten uns in der Hand.  

Damit sollten die Zeiten, in denen Außen- und Sicherheitspolitik vor allem den Interessen der deutschen Wirtschaft und Rüstungsindustrie dienten, vorbei sein. Stattdessen braucht es ein neues und umfassendes Konzept der Sicherheit, das den Werten Rechnung trägt, die wir so gern vor uns hertragen: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Chancengleichheit – übrigens keine europäischen Werte, wie in diesen eurozentristisch verblendeten Tagen gern behauptet wird, sondern universelle Rechte. 

Wir müssen den Blick weiten 

Außenministerin Baerbock möchte "Sicherheit nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft heraus" denken. Wunderbar. Um zu beweisen, dass die liberale Idee stärker ist als autoritäre Lösungen, müssten wir unsere Prinzipien noch effektiver in praktische Politik umsetzen, meint sie: "Durch klare Haltung, durch entschiedenes Handeln und mit Instrumenten, die agil, effektiv und auf der Höhe der Zeit sind." 

Das klingt gut, aber wo ist die klare Haltung gegenüber Menschenrechtsverletzungen durch Israel? Wo sind die agilen Instrumente gegenüber Ägypten? Wo ist das entschiedene Handeln gegenüber der Türkei? Und inwiefern ist unsere Strategie gegenüber China auf der Höhe der Zeit? Immerhin: Indem Wirtschaftsminister Habeck staatliche Garantien für Investitionen in China zurückhält, zwingt er deutsche Unternehmen zur Diversifizierung. Das zeigt, wie vielfältig außenpolitische Instrumente sind. 

 



 

Wir müssen den Blick weiten. Die Aggression Putins darf uns nicht blind machen für die Verbrechen anderer. Der Einhegung Russlands dürfen wir nicht alles unterordnen. Bei der Auswahl potenzieller Verbündeter sollte es nicht nur um deutsche Interessen gehen, sondern um die Frage, wie diese ihre Anhänger und Gegner im eigenen Land behandeln. Wie Außenministerin Baerbock richtig feststellte, müssen wir aufhören, zwischen "guten" und "bösen" Diktaturen zu unterscheiden. Denn Unterdrückung ist Unterdrückung und Gewalt ist Gewalt – egal, wo. Wie der Name schon sagt, stehen Menschenrechte allen Menschen zu, auch Jemeniten und Kurden, Uiguren und Rohingya. Waffenlieferungen an Regime, die das Völkerrecht verletzen oder Kritiker gewaltsam zum Schweigen bringen, sind in einer solchen Außenpolitik nicht zu rechtfertigen. 

Was also ist zu tun? 

Um außenpolitisch glaubwürdig handeln zu können, muss Deutschland sich unabhängig von Despoten machen. Das bedeutet weder das Ende der deutschen Exportwirtschaft noch ein Verzicht auf Diplomatie, sondern ein Umsteuern bei den drängenden Problemen Klimaschutz, Welthandel und Migration. 

Erneuerbare Energien müssen möglichst lokal erzeugt werden, zusätzlich benötigter grüner Wasserstoff sollte nicht nur aus dem Nahen Osten importiert werden. Logistische Produktionsfäden dürfen nicht sämtlich in China zusammenlaufen, das neue Lieferkettengesetz bietet die Chance, Unternehmen zu mehr Verantwortung bei der Auswahl ihrer Standorte und Partner zu bewegen. Migration sollte aktiv gestaltet statt mit menschenverachtenden Mitteln verhindert werden. Gegen Menschenhandel und Schleuserkriminalität helfen legale Fluchtwege und eine erleichterte, bedarfsorientierte Einwanderung nach Deutschland. 

Eine Zeitenwende in diesem Sinne würde uns nicht nur unabhängig von Russland machen, sondern auch weniger erpressbar durch die Regierungen in Peking und Ankara sowie die Diktaturen im Nahen Osten.

Kristin Helberg 

© Zeit online 2022 

Kristin Helberg ist Journalistin und Politikwissenschaftlerin. Sie berichtete sieben Jahre aus Damaskus, hat mehrere Bücher zu Syrien geschrieben und lebt heute als Autorin und Nahostexpertin in Berlin. Zuletzt erschien von ihr "Der Syrien-Krieg. Lösung eines Weltkonflikts" im Herder-Verlag.