
Deutschland und der Nahe OstenAchtung Tunnelblick!
Zeitenwende. Auch wenn wir immer noch nicht wissen, was genau sie bringen wird außer den 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, scheint eines klar: Sie geht einher mit einer fundamentalen Neubewertung unserer Außen- und Energiepolitik gegenüber Russland. Diese ist dringend nötig, birgt aber gleichzeitig das Risiko, Fehler der Vergangenheit zu wiederholen statt zu korrigieren.
Denn sogenannte Zeitenwenden führen oft zu einem Tunnelblick, zu einer in unserer vielfältig vernetzten und interdependenten Welt problematisch verengten Sichtweise. Davor zu warnen, bedeutet nicht, dass Deutschland sich weiter wegducken sollte, sondern im Gegenteil: Es braucht mehr Mut, mehr Führung, mehr Verantwortung, aber bitte mit Weitblick.
Das Risiko der aktuellen deutschen Selbstfindung besteht darin, sich von einer fixen Idee treiben zu lassen, statt selbst gesteckten Parametern zu folgen. Diese fixe Idee, eine Art neues außenpolitisches Denkmuster, beruht auf zwei Erkenntnissen aus dem Krieg gegen die Ukraine, die zunächst einmal vollkommen richtig sind:
Erstens muss Deutschland sich mit seinen Bündnispartnern gegenüber Russland verteidigen können, zweitens sollten wir so schnell wie möglich unabhängig von russischem Gas werden, was die klimapolitisch gebotene Entwicklung erneuerbarer Energien umso dringlicher macht.
Die weiteren Schritte liegen scheinbar auf der Hand: mehr Geld für die Bundeswehr, mehr Waffen für die Ukraine, eine Aufwertung der Nato und Energiepartnerschaften mit Staaten, die Europa möglichst bald mit CO₂-neutral erzeugtem Wasserstoff versorgen können. Aus diesen Schritten ergeben sich jedoch neue Abhängigkeiten, und zwar von Staaten, die ähnlich autokratisch sind wie Putins Russland.

Die Türkei etwa unterdrückt nicht nur Gegner und Kritiker im Inneren, sondern besetzt völkerrechtswidrig Teile Nordsyriens. Weil Europäer und US-Amerikaner die Türkei aber als Nato-Mitglied so dringend brauchen, loben sie Präsident Recep Tayyip Erdoğans konstruktives Krisenmanagement, was dessen Selbstbewusstsein weiter stärkt. Die Zustimmung zu den Nato-Aufnahmeanträgen Schwedens und Finnlands lässt sich Erdoğan teuer bezahlen – mit F16-Kampfjets aus den USA, einer Aufhebung des Waffenembargos, das einige EU-Staaten nach dem türkischen Einmarsch in Nordsyrien 2019 verhängt haben, und einem Ende der Unterstützung für kurdische Dissidenten.
Unersetzlich ist Erdoğan bereits als Türsteher, der Geflüchtete von Europa fernhält. Denn die EU ist noch immer nicht in der Lage, Migration zu gestalten, statt abzuwehren. Jetzt hindert der türkische Präsident nicht mehr nur Flüchtende an der Weiterreise, sondern auch russische Kriegsschiffe an der Fahrt durch den Bosporus.
Und seitdem Wladimir Putin angekündigt hat, zusammen mit der Türkei den Warenverkehr im Schwarzen Meer zu regeln und womöglich die in ukrainischen Häfen festsitzenden Getreideexporte freizugeben, hat Erdoğan einen weiteren Trumpf im Ärmel.
Im Gegenzug erwartet die Regierung in Ankara freie Hand in Nordsyrien, wo die Türkei mit ihren Militärinterventionen bereits mehrere Hunderttausend Menschen – vor allem Kurden – zur Flucht gezwungen hat. Die vierte Invasion steht unmittelbar bevor, sie soll die türkisch kontrollierten Gebiete entlang der Grenze miteinander verbinden. In diese sogenannte Sicherheitszone möchte Erdogan dann bis zu einer Million syrische Geflüchtete zurückschicken – eine Form der ethnischen Säuberung, da Kurden vertrieben und Araber angesiedelt werden.
Mehr Nato bedeutet mehr Abhängigkeit von Erdoğan
Bei den Energiepartnerschaften sieht es leider nicht besser aus. Denn die Golfstaaten und Länder Nordafrikas haben so viel Sonne, Wind und Fläche, dass sie grünen Wasserstoff bald zu extrem günstigen Preisen anbieten können – noch dazu in der Nähe Europas. Schon jetzt werden in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), in Saudi-Arabien und Ägypten gigantische Solarkraftwerke und Windparks gebaut, weil die dortigen Regime erkannt haben, dass sie ihre Macht auf Dauer nur mit der Entwicklung und dem Ausbau erneuerbarer Energien sichern können.

Geblendet von so viel Fotovoltaik kann auch Wirtschafts- und Umweltminister Robert Habeck nicht widerstehen, der sich im März bei dem Besuch einer Solarstromanlage in den VAE deutlich wohler fühlte als beim Einkauf von Flüssiggas in Katar. Doch für die angestrebte wertebasierte Außenpolitik seiner Parteikollegin Annalena Baerbock ist beides problematisch, denn angesichts der Menschenrechtslage in Nahost und Nordafrika verbietet sich eine energiepolitische Abhängigkeit von den dortigen Herrschern.
Sämtliche Staaten, die die Bundesregierung in der arabischen Welt als Partner der Energiewende betrachtet, bilden im internationalen Vergleich die Schlusslichter bei Presse- und Meinungsfreiheit, zivilgesellschaftlichen Handlungsspielräumen und Korruption. Laut Reporter ohne Grenzen sind der Nahe Osten und Nordafrika weltweit die Regionen mit der geringsten Pressefreiheit, in zehn Staaten sei die Lage für Journalisten "sehr ernst", darunter Ägypten, Bahrain, Saudi-Arabien, Oman und Kuwait.