Ein Teil von uns

Vor dem Hintergrund der politischen Krise zwischen Deutschland und der Türkei hat Außenminister Gabriel in einem offenen Brief betont, dass die Änderung der Politik gegenüber Ankara sich nicht gegen Bürger mit türkischen Wurzeln in Deutschland richte. Ein richtiger Ansatz, meint Alexander Görlach

Von Alexander Görlach

Was wird aus dem deutsch-türkischen Verhältnis? Die Bestandsaufnahme gibt wenig Anlass zur Euphorie: die türkische Führung entfernt das Land vom Westen und seinen Institutionen, setzt auf Islamisierung und auf einen osmanischen Erinnerungskult. Die Inhaftierung von Türken und Ausländern gleichermaßen, ohne Anklage und Verfahren, wird von der AKP zu einem legitimen Mittel gegen Terrorismus erklärt.

Deutsche DAX-Konzerne landeten vorübergehend auf einer Auskunftsliste von Interpol, gemeinsam mit Dönerbuden und anderen eher kleineren Unternehmen. Alle sah die Türkei in den Terror gegen das Land verstrickt. Nur die Androhung, dass künftig Investitionen deutscher Firmen ausbleiben könnten, hat die Türkei dazu bewogen, diese Liste zurückzuziehen.

Die unmenschlichen und nicht-rechtstaatlichen Bedingungen, unter denen nicht nur der deutsche Journalist Denis Yücel und der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner, sondern auch viele weitere türkische Journalisten und andere Personen in der Türkei einsitzen, entfremden das Land von seinen bisherigen Partnern in Berlin und anderen europäischen Hauptstädten.

Die Behauptung der türkischen Führung, dass die Bewegung des Predigers Fetullah Gülen hinter dem Staatsstreich aus dem Sommer 2016 stecke, wird durch keine Beweise belegt. Ebenso führt das hegemoniale Streben Ankaras gegen die Kurden zu der unsäglichen Rhetorik der AKP, dass Deutschland Terroristen, Kurden wie Gülen-Anhänger sind damit gemeint, schütze und somit gegen die Türkei agiere.

Deutsche und türkische Fahne/Symbolbild; Foto: picture-alliance/dpa
Spannungsgeladenes Verhältnis: Angesichts der zahlreichen Konflikte mit der Türkei - zuletzt die Inhaftierung des deutschen Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner - hatte Außenminister Gabriel vergangene Woche eine "Neuausrichtung" der Politik gegenüber Ankara angekündigt. Neben einer Verschärfung der Reisehinweise, die nun auch für Urlauber gelten, sollen unter anderem staatliche Bürgschaften für Investitionen deutscher Unternehmer in der Türkei auf den Prüfstand kommen.

Zwischen den Fronten

Die Leidtragenden dieser erschreckenden Ent-Demokratisierung in der Türkei sind die türkischen Gemeinden in der europäischen Diaspora. Sie drohen aufgerieben zu werden zwischen den Fronten der alten und der neuen Heimat.

Die Harvard-Professorin Jocelyne Cesari hat schon vor Jahren in Studien herausgestellt, dass beispielsweise junge türkische Muslime, die in Deutschland leben, sich zur gleichen Zeit deutsch, türkisch und muslimisch fühlen. Identitäten, und diese Erkenntnis wollen die Radikalen aller Arten unterdrücken, können vielschichtig und mehrdimensional sein: nicht alle Deutschen müssen Christen sein und nicht alle Türken Muslime.

Die Behauptung, dass Türke-Sein und Muslim-Sein ein und das selbe darstellen, führt in dem Land, in dem für lange Zeit im Osmanischen Reich eine Art multi-religiöses Zusammenleben praktiziert wurde, zur Verschärfung der Rhetorik gegenüber den Minderheiten.

Die Deutschen ihrerseits sind beileibe keine Weltmeister im Anerkennen mehrdimensionaler Identitäten. Es passiert nicht selten, dass jemand, der in Deutschland geboren und aufgewachsen, aber nicht blond ist, gefragt wird, wo er oder sie denn "wirklich herkomme".

Die Anerkennung gesellschaftlicher Pluralität fällt vielen Menschen in Deutschland schwer – was  allein schon durch den Umstand sichtbar wird, dass das Land seit zwölf Jahren von einer konservativen protestantischen Kanzlerin geführt wird, die sich, im Einklang mit dem Weltbild ihrer Partei, weigert anzuerkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Der Streit um ein Einwanderungsgesetz (nein!) und die doppelte Staatsbürgerschaft (nein!) belegen dies nachdrücklich.

Der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu; Foto: dpa/picture-alliance
Positive Resonanz auf Gabriels offenen Brief bei den in der Bundesrepublik lebenden Türken: "Wir würden uns wünschen, dass wir in dieser Krise näher zusammenrücken", sagte der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, der die "versöhnenden Worte" des Außenministers in seinem offenem Brief begrüßte. Gabriel hatte in seinem Brief erklärt: "Gleichgültig, wie schwierig die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind, bleibt für uns klar: Sie, die türkischstämmigen Menschen in Deutschland, gehören zu uns - ob mit oder ohne deutschen Pass."

Deutschlands mehrdimensionale Identitäten

Umso mehr ist der Vorstoß von Außenminister Gabriel richtig, der auf die Türkischstämmigen in Deutschland zugeht, und sie bittet, sich nicht gegen ihre hiesige Heimat in Stellung bringen zu lassen. Damit muss der öffentliche Zuruf aus der deutschen Politik korrespondieren, dass in Deutschland zu leben nicht Aufgabe all dessen bedeutet, was einem sonst an seiner Herkunft und seinem Erbe wichtig ist.

Für die türkische Gemeinde in Deutschland, aber auch in anderen Ländern der Europäischen Union, ist nun ein Moment gekommen, in dem sie sich als Brückenbauer zwischen der christlichen und der islamischen Welt positionieren kann. Dabei wird sie, aller Voraussicht nach, in Konflikt mit dem derzeitigen Staatslenker geraten. Sie haben bei dieser Konfrontation die Geschichte auf ihrer Seite.

Dass wir, trotz mancher Schwierigkeiten, seit über einem halben Jahrhundert in Deutschland friedlich und gut zusammenleben, kann allen Seiten als Beleg dafür gelten, dass Angst und Abschottung, so wie sie gerade in vielen Teilen der Welt als Mittel der Politik zur Einschüchterung der Bevölkerung wieder entdeckt wird, keinen Platz haben in der Welt des 21. Jahrhunderts. Mehrdimensionale Identitäten wie die der Deutsch-Türken werden in unserer Zeit immer mehr zur Regel, als dass sie eine Ausnahme blieben.

Alexander Görlach

© Qantara.de 2017

Alexander Görlach ist Gastwissenschaftler an der Harvard Universität, wo er am "Center for European Studies" im Bereich Politik und Religion forscht. Görlach ist Senior Fellow des "Carnegie Council for Ethics in International Affairs" und u.a. Autor für die "New York Times".