Für wen gelten westliche Werte?

Der Westen reagiert mit mehr Empathie auf das Leid in der Ukraine als auf die Tragödien in der arabischen Welt. Das verweist auf eine tiefe Kluft zwischen den Kulturen. Ein Essay von Michael Young 

Essay von Michael Young

Der Ukrainekrieg öffnet uns die Augen über das Denken in vielen westlichen Gesellschaften. Blickt man hinter die Empörung über die russische Invasion, sieht man dahinter keine Botschaft über die angemessene Antwort der liberalen Demokratien auf den Autoritarismus. Vielmehr lernen wir etwas darüber, wie selektiv Menschen wahrgenommen werden, für die liberale Werte ebenfalls gelten sollten. 

Der liberale Internationalismus war eine Reaktion auf die europäische Machtpolitik des 19. Jahrhunderts, die in erster Linie nach dem Gleichgewicht der Kräfte suchte. Ihm liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Ausbreitung einer liberalen, demokratischen Staatsform und einer offenen Diplomatie - entsprechend der Offenheit, die wir in allen Menschen suchen - von entscheidender Bedeutung sind.

Liberale Werte sollten auf der ganzen Welt gelten, da sie in ihren moralischen Implikationen universell sind. Dies gilt umso mehr, als eine auf demokratischen Systemen beruhende internationale Ordnung angeblich stabiler ist als eine, die auf amoralischen, reinen Machtverhältnissen beruht. 

Die Idee des Internationalismus ist nicht auf den westlichen Liberalismus beschränkt. Auch der Kommunismus und die meisten großen Religionen werden von starken internationalistischen Impulsen angetrieben. Mit Ausbruch des Ukrainekriegs hat sich im Westen die Botschaft durchgesetzt, dass in der Ukraine die Idee der liberalen Demokratie an sich verteidigt wird. Vertreter der Ukraine greifen diese Vorstellung in ihren Appellen geschickt auf und argumentieren, dass die vom Westen so hochgehaltenen universellen Werte ohne Bedeutung sind, wenn sie nicht in der Ukraine verteidigt werden. Diese Botschaft findet beim westlichen Publikum großen Widerhall. 

Ein Mann und ein Kind werden nach einem Chemiewaffenangriff in Ost-Ghouta, Syrien, mit Sauerstoff behandelt (Foto: Reuters/B. Khabieh)
Zu fern, zu fremd? Selbst als das syrische Regime im August 2013 chemische Waffen gegen Zivilisten einsetzte, waren laut einer Umfrage von New York Times und CBS News 60 Prozent der Befragten in den Vereinigten Staaten gegen militärische Vergeltungsmaßnahmen. Gleichzeitig zeigten sich 75 Prozent der Befragten davon überzeugt, dass die Streitkräfte von Baschar al-Assad solche verbotenen Waffen tatsächlich eingesetzt hatten.Offensichtlich sah man hier nicht die Notwendigkeit zu intervenieren. 

Man kann es den Ukrainern nicht verdenken, dass sie die hohe Meinung, die westliche Länder von sich selbst haben, für ihre Zwecke instrumentalisieren. Dennoch ist es merkwürdig, dass der Westen nur verhalten reagierte, als sich die arabischen Gesellschaften 2011 und auch danach gegen ihre autokratischen Regime erhoben. Das mag daran liegen, dass man im Westen seit langem der Überzeugung ist, die arabische Welt sei weder wirklich auf die Demokratie vorbereitet, noch habe sie eine demokratische Tradition. Francis Fukuyama brachte diese Auffassung in seinem Buch Scheitert Amerika? Supermacht am Scheideweg (2006) zum Ausdruck, als er schrieb, die arabischen Gesellschaften würden nicht über die notwendigen Institutionen verfügen, die ihnen den Schritt von einer vagen Sehnsucht nach Freiheit hin zu einem gut funktionierenden, stabilen demokratischen politischen System mit einer modernen Wirtschaft ermöglichen. 

Die demokratische arabische Welt - eine Fiktion?

Der konservative amerikanische Autor Lee Smith teilt Fukuyamas Skepsis über die Demokratiefähigkeit der arabischen Welt. In seinem Buch The Strong Horse: Power, Politics, and the Clash of Arab Civilizations (2010) kritisiert Smith die Vorstellung der USA von einer arabischen Demokratie. "Die Araber haben die Grundsätze einer repräsentativen Regierung nicht verstanden“, so Smith, "aber das Freiheitspaket des Weißen Hauses enthielt keine Anleitung dazu, wie Demokratie tatsächlich funktioniert. Stattdessen hat man dieses Paket wie ein Spielzeug an Heiligabend überreicht, ähnlich wie bei einem iPhone, bei dem die Araber selbst herausfinden sollen, wie es funktioniert.“ 

Man kann darüber streiten, ob Fukuyama und Smith Recht haben. Aber ein Jahrzehnt, nachdem sich arabische Gesellschaften gegen ihre autokratischen Herrscher erhoben haben, belächeln viele im Westen immer noch die Vorstellung von einer demokratischen arabischen Welt. Wenn man bedenkt, welchen Preis die Menschen in der arabischen Welt für ihren Einsatz bezahlt haben, kann man sich nur darüber wundern.

Die Annahme, arabische Gesellschaften seien nicht reif für die Demokratie, ist widersprüchlich und führt zu einem Zirkelschluss. Diese Skepsis stärkt indirekt die Diktaturen und lässt eine Demokratie noch unwahrscheinlicher werden. Das macht die Vorstellungen der Skeptiker so widersprüchlich. Die Befürchtung, die Gesellschaften des Nahen Ostens seien institutionell nicht auf die Demokratie vorbereitet, ermutigt die Autokraten dazu, auch weiterhin dafür zu sorgen, dass ihre Gesellschaften genau diese Institutionen für eine Demokratie nicht aufbauen. 

Diese argumentative Unschärfe erklärt auch, warum die universelle Botschaft des Liberalismus nur mit Vorbehalten auf Araber oder Muslime angewandt wird, während sie für die Ukraine so mühelos funktioniert. Angesichts des andauernden Krieges in der Ukraine sehen manche Beobachter Verbindungen zu anderen Kriegsschauplätzen, während andere immer noch herablassende, spöttische Bemerkungen über den Nahen Osten und Nordafrika machen.

 

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Man denke an die vielen Berichterstatter, die zu Beginn des Ukrainekriegs den Schock angesichts der russischen Invasion damit zu erklären versuchten, dass der Krieg mitten im "zivilisierten“ Europa stattfinde und nicht im Irak oder in Afghanistan, wo die Kämpfe "seit Jahrzehnten wüteten“, Ländern – so darf man wohl hinzufügen – die im Umkehrschluss von diesen Beobachtern als "unzivilisiert“ eingestuft werden.



Eigentlich sollte man erwarten, dass es schockierend ist, wenn Kriege jahrzehntelang wüten. Doch das ist offenbar nicht der Fall. Seit 2011 sind fast sieben Millionen Syrer zu Flüchtlingen geworden. Der Westen nahm das mit mäßigem Interesse zur Kenntnis, wenn man von den Bemühungen der Europäischen Union absieht, die Flüchtlinge von ihren Grenzen fernzuhalten. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 die Initiative ergriff und ankündigte, dass Deutschland Flüchtlinge aufnehmen werde, ging ein Riss durch die EU, da die Länder die Bitte der Kanzlerin zurückwiesen, ebenfalls Flüchtlinge aufzunehmen. Mittlerweile starben mehr als 350.000 Menschen im Syrienkrieg und weitere 233.000 Menschen im Jemenkrieg. Etwa vier Millionen Jemeniten wurden vertrieben. Im September 2021 waren über fünf Millionen Menschen im Jemen von einer Hungersnot bedroht. 

Eine Frage der Identifikation 

Auf diese Tragödien hat der Westen nicht annähernd so solidarisch reagiert, wie mit der Ukraine. Selbst als das syrische Regime im August 2013 chemische Waffen gegen Zivilisten einsetzte, waren laut einer Umfrage von New York Times und CBS News 60 Prozent der Befragten in den Vereinigten Staaten gegen militärische Vergeltungsmaßnahmen. Gleichzeitig zeigten sich 75 Prozent der Befragten davon überzeugt, dass die Streitkräfte von Baschar al-Assad solche verbotenen Waffen tatsächlich eingesetzt hatten. 

Solche doppelten Standards werden gerne als "rassistisch“ angeprangert. Doch das sagt nicht viel aus. In allen Kulturen gibt es mehr Rassismus, als es die Menschen wahrhaben wollen. Aber solche Reaktionen sagen uns durchaus, dass die universalistische Rhetorik, die die Bewertung der ukrainischen Tragödie im Westen so stark prägt, nicht für alle gilt.  Menschenrechte und humanitäre Anliegen sind für viele im Westen nur dann von Bedeutung, wenn sie Menschen betreffen, mit denen sie sich identifizieren. Das gilt auch für die Werte der liberalen Demokratie. 

Das ist eine Schande. Für einen Moment schien die moralische Entrüstung über den Angriff auf die Ukraine den liberalen Internationalismus in einer Welt wiederzubeleben, die sonst unter einem engstirnigen Nationalismus leidet. Daraus wurde nichts. Vielleicht sollten wir uns eingestehen, dass der von Kosmopoliten so gefürchtete territoriale Nationalismus möglicherweise nicht die größte Bedrohung ist.




 

Der Siegeszug der Globalisierung wird die Träumereien von einem Rückzug ins Nationale verblassen lassen. An seine Stelle tritt eine Art zivilisatorischer oder kultureller Nationalismus. Hier sympathisieren die Menschen vorrangig mit jenen, die ihre kulturellen Merkmale teilen. Auf Kosten universeller Werte. Dieser Nationalismus könnte zu einem größeren Problem werden, weil er größere geografische Räume umfasst. Genau darauf zielt Samuel Huntington in seinem Buch "Kampf der Kulturen“ (1996) ab, was bisher kaum infrage gestellt wurde. 

Wer die Sympathie des Westens für die Notlage der Ukraine mit der recht gleichgültigen Haltung vergleicht, die im letzten Jahrzehnt Arabern und Muslimen entgegengebracht wurde, greift gerne zu einer Redewendung aus George Orwells Farm der Tiere.  Die Aussage, dass alle Tiere gleich seien, aber einige gleicher als andere, lädt dazu ein, sich über die westliche Doppelmoral lustig zu machen. Doch wenn wir das Wort "Tiere“ durch "Kulturen“ ersetzen, kommen wir der Wahrheit hinter den aktuellen Ereignissen näher. 

Michael Young

© Carnegie Middle East Center 2022

Michael Young ist leitender Redakteur und verantwortet den Blog Diwan am Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center.  

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers