Sind wir Komplizen?

Die Massaker von Paris haben gezeigt, welch eine Katastrophe das Al-Baghdadi-"Kalifat" darstellt und wie es ganze Generationen in einen "Clash der Kulturen" zu ziehen droht. Zeit für Araber und Muslime, nach den Wurzeln von Fanatismus und Wahn zu suchen, die sich seit 9/11 ausgebreitet haben, meint der libanesische Publizist der Tageszeitung "Al-Hayat", Zuheir Quseibati.

Essay von Zuheir Quseibati

Als das syrische Regime sein Chemiewaffenarsenal abgegeben hatte, hatte Präsident Obama es eilig, gleich den nächsten Deal abzuschließen: ein Atomabkommen mit Iran als "Garant für eine friedlichere Welt" und mehr Sicherheit für Israel. Unterdessen ging der Vernichtungsfeldzug in Syrien weiter. Obama war mit einem Masernausbruch in den USA beschäftigt, während das syrische Regime täglich Dutzende unbewaffneter Zivilisten in ihren eigenen Wohnungen tötete.

Der Herr des Weißen Hauses wurde zwar nicht müde, dass Assad-Regime zu verurteilen, doch vor allem ging es ihm darum, amerikanische Soldaten von den Kampfzonen im Gefolge des "Arabischen Frühlings" fernzuhalten. Mit seiner Zögerlichkeit und Schwäche ermunterte er unterdes Teheran und Moskau, dem syrischen Regime mit allen Mitteln unter die Arme zu greifen – durch Kampftruppen, ethnische Säuberungen und Vertreibung, alles unter dem Vorwand, Syrien "von Terroristen zu säubern".

Selbst bei der Bekämpfung des IS und seiner Schandtaten begnügte sich das Weiße Haus mit einem Krieg aus der Luft, indes die Terrormiliz sich immer weiter ausbreitete, wohl in der Annahme, Europa würde seinerseits mutigere Schritte zur Auslöschung der Miliz unternehmen. Obamas Desinteresse gegenüber einer Verwicklung von Europäern im Kampf auf syrischem Boden ist seit den Massakern von Paris kaum noch zu übersehen. Geschähe dies, so ließe sich dadurch elegant die Schmach überspielen, dass die US-Administration in einem ganzen Jahr nur 50 syrische Oppositionskämpfer ausbilden konnte.

Das syrische Regime und seine Verbündeten sind entsprechend zuversichtlich, dass Amerika auch weiterhin unfähig bleiben wird, die syrische Tragödie zu beenden und dass Russland nur zu gern die Gelegenheit ergreifen wird, sich nach dem Konflikt um die Ukraine am Westen zu rächen. Assad ist bereits zum Angriff auf Gebiete unter Kontrolle der Opposition übergegangen.

Alle wollen nur noch Krieg gegen den IS

Sich darauf zu verlassen, Putins Interessenlage könnte sich irgendwann ändern und er würde Assad fallen lassen, stellt sich derzeit immer deutlicher als verfrüht heraus. Währenddessen spricht Teheran von einem "Recht" Assads, bei künftigen Wahlen erneut zu kandidieren. Russland und Iran versuchen die Optionen für die syrische Tragödie auf zwei Faktoren zu verkürzen: Politische Reformen unter Einbindung lediglich der "patriotischen" Opposition, während die Aufständischen bitteschön zusammen mit dem Regime gegen "Terroristen" kämpfen sollen.

Staatsbesuch Assads am 20.10.2015 in Moskau bei Putin; Foto:
Unzerbrüchliche Allianz zwischen Moskau und Damaskus: "Sich darauf zu verlassen, Putins Interessenlage könnte sich irgendwann ändern und er würde Assad fallen lassen, stellt sich derzeit immer deutlicher als verfrüht heraus", meint Zuheir Quseibati.

Aber was hat sich durch die Massaker von Paris und dem durch den IS in Frankreich ausgelösten Ausnahmezustand verändert? Zum einen hat Wladimir Putin es geschafft, dass alle Priorität nun nur noch dem Krieg gegen den IS gilt und das Bestehen auf einer neuen Führung in Damaskus in den Hintergrund getreten ist. Zum anderen hat er in François Hollande einen neuen Verbündeten gefunden, der mit ihm zusammen den Kalifenstaat bestrafen will. Die Autorität des einen ist durch den Anschlag auf ein russisches Flugzeug über dem Sinai beschädigt, und im Land des anderen ist die Sicherheit dadurch bedroht, dass der IS den Kampf nach Frankreich getragen hat.

Mancher Araber mag fragen: Ist eine Absetzung Assads es wirklich wert, dass tausende weiterer Syrer ihr Leben lassen? Dabei ist jedoch zu bedenken, was der voraussichtliche Preis dafür sein wird, wenn man sein Regime weiter bestehen lässt, selbst wenn sich ihm einige Oppositionelle anschließen sollten.

Des Weiteren müssten Araber und Muslime nach den Massakern von Paris, die gezeigt haben, welch eine Katastrophe das "Kalifat" von Al-Baghdadi darstellt und wie es ganze Generationen in einen "Clash der Kulturen" zu ziehen droht, die Frage nach den Wurzeln von Extremismus, Fanatismus und Wahn stellen, die sich seit dem 11. September 2001 ausgebreitet haben.

Die Tyrannei geht auch auf unser Konto

Dieser Frage müssen wir uns auch dann stellen, wenn wir der häufig geäußerten Ansicht sein sollten, dass viele arabische Gesellschaften nur solange stabil waren, wie sie unter Tyrannei standen. Denn wir alle waren Komplizen dabei, diesen tyrannischen Regimen immer neue Generationen zuzuführen.

US-Präsident Barack Obama; Foto: picture-alliance/dpa
Auf dem Rückzug: "Obamas Desinteresse gegenüber einer Verwicklung von Europäern im Kampf auf syrischem Boden ist seit den Massakern von Paris kaum noch zu übersehen. Geschähe dies, so ließe sich dadurch elegant die Schmach überspielen, dass die US-Administration in einem ganzen Jahr nur 50 syrische Oppositionskämpfer ausbilden konnte", schreibt Zuheir Quseibati.

Nur zu gerne haben wir in Parolen zur Befreiung Palästinas eingestimmt und uns damit gebrüstet, auf der Seite der Armen zu stehen. Fabriken, die ihnen Einkommen und Würde gebracht hätten, haben wir jedoch nicht gebaut. Stattdessen haben wir hunderte von Moscheen errichtet, und als Usama bin Laden erschien, blieb tausenden Universitätsabsolventen scheinbar nichts anderes übrig, als ihr Wissen in die Dienste von Al-Qaida zu stellen und in Terrorcamps zu gehen.

Das arabische Denken ist noch immer in einem rückständigen Muster von "Rache für Armut durch Selbstmord" gefangen, und dieses Schema geht heute einher mit einem schwunghaften Handel mit religiösen Parolen aller Art.

Die Verbrechen in Syrien gehen auf unser aller Konto. In jedem syrischem Haushalt gab es ein verkleinertes Baath-Regime, denn jeder wollte sich den Schutz des Regimes erkaufen, und sei es um den Preis, dass Kinder angeleitet wurden, die Loyalität des eigenen Vaters auszuspähen.

Hätte es nicht viele zehntausend Leben gerettet, wenn die Syrer schon vor zwanzig oder dreißig Jahren revoltiert hätten? Und wären die Libyer schon vor zwei Jahrzehnten oder vorher gegen Gaddafi aufgestanden, wäre auch dann eine Reise vom Westen in den Osten des Landes heute schwieriger als vom Nord- zum Südpol?

Wir alle sind schuld an der Katastrophe. Vielleicht sind wir sogar noch feiger als Obama.

Zuheir Quseibati

© Qantara.de 2015

Der Verfasser ist Büroleiter der Tageszeitung "Al-Hayat" in Beirut.

Aus dem Arabischen von Günther Orth