Im Visier religiöser Eiferer

Mustafa Öztürk, Professor für Koranexegese an der Marmara-Universität in Istanbul, wurde kürzlich der Blasphemie beschuldigt. Als Urheber dieser Kampagne sieht Öztürk verschiedene islamische Gruppen, die versuchen, die türkische Politik zu beeinflussen. Mit ihm sprach Ayşe Karabat.

Von Ayşe Karabat

Sie haben kürzlich Morddrohungen erhalten. Wie kam es dazu?

Mustafa Öztürk: Religion ist meiner Ansicht nach nicht dazu da, die Details des täglichen Lebens in Übereinstimmung mit den heiligen Texten zu regeln. Vielmehr begreift Religion den Menschen als eine Schöpfung aus Grundprinzipien und Theoremen auf der Grundlage von Moral und Ethik. Hinzu kommen Einflüsse aus Philosophie, Wissenschaft und anderen Erkenntnissen, denen sich auch Muslime öffnen sollten. Schließlich sind religiöse Texte nicht auf alle Zeiträume und gesellschaftlichen Verhältnisse anwendbar.

Für die Verfechter einer traditionellen Sichtweise verhalten sich die Dinge jedoch genau andersherum. Sie pochen darauf, dass der Text, selbst wenn er 1.440 Jahre zurückliegt, weiterhin gültig ist. Ich hingegen glaube, dass Gott die Menschen in und aus jener Zeit im Einklang mit bestimmten Grundprinzipien angesprochen hat, wie Gerechtigkeit, Einheit Gottes und gesellschaftliche Solidarität.

Betrachten wir zum Beispiel die im Koran erwähnte Sklaverei. Nach der Denkweise der Traditionalisten könnten wir behaupten, dass die Sklaverei nicht abgeschafft werden kann, weil sie im Koran als Teil der göttlichen Ordnung erwähnt wird. Doch Sklaverei ist keine universelle Norm. Ihre Abschaffung war aber damals kaum möglich. Die Religion sah lediglich eine Regulierung und Humanisierung des Systems vor. Mich stimmt traurig, dass der Koran zwar die Abschaffung der Sklaverei nahelegt, es aber die westliche Zivilisation war, die sie letztendlich verbot.

Sie vertreten diese Ideen und Positionen schon seit langer Zeit. Warum mehren sich Ihrer Ansicht nach die Angriffe jetzt?

Öztürk: Mein Bauchgefühl sagt mir, dass sich diejenigen, die hinter den Attacken stehen, durch mich in ihren traditionellen Auffassungen bedroht fühlen. Denn mit meinen Ideen kann ich ihre althergebrachten Argumente widerlegen. Ich schlage sie mit ihren eigenen Waffen. Und immer mehr Menschen schließen sich meiner Auffassung an, was meinen Gegnern nicht verborgen bleibt. Außerdem stehen in der Türkei bald Kommunalwahlen an. Diejenigen, die mich angreifen, fordern auch die öffentliche Ordnung des Landes heraus, indem sie sagen: „Seht, wie mächtig unsere Gruppe ist. Wenn wir wollen, können wir jedem schaden, den wir als Ziel ausmachen. Also gebt Acht!“

Sayın @aysekarabat'ın yaptığı röportaj, https://t.co/KTy55fN0gG adresinde İngilizce olarak yayınlanacak. pic.twitter.com/YC0UTTVlhh

— Mustafa Öztürk (@ozturktefsir) 12. Januar 2019

Warum zielen einige islamische Gruppen auf eine Stärkung ihrer politischen Einflussnahme ab?

Öztürk: Sie wollen die Kontrolle über bestimmte staatliche Institutionen übernehmen, wie beispielsweise über das Amt für Religiöse Angelegenheiten in der Türkei (Diyanet), das alle islamischen Fragen im Zusammenhang mit dem öffentlichen Leben und dem Land als Ganzes regelt. Ich bin auch nicht der einzige Islamwissenschaftler, der ins Visier genommen wird. Auffallend ist, dass alle Betroffenen in einem bestimmten Verhältnis zur Diyanet stehen.

Die Gegner machen Stimmung unter frommen Muslimen und behaupten: "Diyanet unterstützt und verbreitet die Ideen derjenigen, deren Ideen unseren Glaubensgrundsätzen widersprechen. Also wehrt Euch dagegen!" So wollen sie die religiösen Institutionen einheitlich hinter sich bringen und die Religionspolitik der Türkei steuern. Hinzu kommt das enorme wirtschaftliche Potenzial. Wenn Diyanet zum Beispiel ein Buch von jemandem veröffentlicht und alle seine Mitglieder anweist, eines zu kaufen, kann diese Person an einem einzigen Tag ein wahres Vermögen verdienen.

Nach Überzeugung der Regierung war es aber doch eine Religionsgemeinschaft, nämlich die Gülen-Bewegung, die angeblich staatliche Institutionen unterwanderte und dann 2016 einen Militärputsch organisierte. Wurden denn daraus keine Lehren gezogen?

Öztürk: Der Staatsapparat hat ganz sicher seine Lektion gelernt. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass in der Türkei vor allem die frommen Massen eine konservative Politik unterstützen. Diese Massen sind nicht individualistisch; sie überlassen das Denken gerne anderen. Und wem das Denken zu anstrengend ist, der ist für einschlägige Einrichtungen und Organisationen eine leichte Beute. In der Türkei gibt es zwischen 40 bis 50 solcher Organisationen. Politiker können es sich kaum leisten, deren Wünsche zu ignorieren.

Etwa 15 bis 20 dieser Organisationen bleiben mit ihren Themen unter sich. Die übrigen versuchen allerdings, ihre eigenen Interessen nach außen durchzusetzen. Hinter der Fassade eines Bauunternehmens kann sich beispielsweise durchaus eine religiöse Gemeinschaft verbergen. Diyanet und auch der Hochschulrat (YÖK) sind zwei bevorzugte Ziele.

Was muss getan werden, um den politischen und wirtschaftlichen Einfluss solcher religiösen Einrichtungen in den Griff zu bekommen?

Öztürk: Es wäre extremistisch, die Menschen auf eine einzige offizielle Auslegung ihrer Religion zu verpflichten. Dass man derzeit einer bestimmten Einrichtung oder Organisation angehören muss, um sich bei einigen staatlichen Institutionen leichter akkreditieren zu können oder mit diesen Institutionen Geschäfte machen zu können, ist allerdings ebenso komplett verkehrt. Religiöse Organisationen müssen legalisiert und staatlich anerkannt werden. Sie sollten ihre Konzepte und Ziele offenlegen. Sie müssen in die Pflicht genommen werden und sich der Aufsicht durch eine amtliche Institution wie Diyanet oder vielleicht sogar einem Ministerium öffnen. Sie müssen transparent werden.

Sie haben jüngst erklärt, dass das Klima der Einschüchterung auch Sie aus dem Land treibe. Bis heute erleidet die Türkei einen intellektuellen Aderlass. Allerdings sind es meist die weltlich orientierten Türken, die sich zum Gehen entschließen. Sind jetzt die Konservativen an der Reihe?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ; Foto: Reuters
"Recep Tayyip Erdoğan hat gesagt, dass wir als Land in den Bereichen Bildung und Kultur besser werden müssen. Doch habe ich bisher keine Schritte gesehen, die in dieser Hinsicht eine Änderung bewirken könnten. In der Türkei ist es ja nicht so, dass die Zivilgesellschaft vorangeht und dann den Rückhalt in der Politik sucht. Es ist vielmehr umgekehrt", meint der türkische Islamgelehrte Mustafa Öztürk.

Öztürk: Auch konservative Mitglieder der Gesellschaft sind mit der Lage unzufrieden. Dies sind Menschen, die in keine religiöse Struktur eingebunden sind und dennoch als Individuen ihre Religion ausüben. Menschen, die die Denkfreiheit verteidigen und die die gegenwärtige kulturelle Verödung der Religionswissenschaften beklagen.

Insofern würde ich Ihre Einschätzung teilen. Ich weiß allerdings nicht, wie weit diese Entwicklung bereits fortgeschritten ist und ob man tatsächlich von einem intellektuellen Aderlass sprechen kann. Ich will ja gar nicht gehen, aber ich werde zum Ziel von Lynchangriffen aus der Gesellschaft. In Angst vor Psychopathen zu leben, die glauben, mit dem Mord an mir ihre Eintrittskarte in den Himmel zu lösen, ist nicht so einfach.

Worüber genau sind die Konservativen besorgt?

Öztürk: Die Auseinandersetzung mit kontroversen Themen in den theologischen Fakultäten wird immer schwieriger. Die Studenten nehmen deinen Vortrag auf oder schreiben deine Äußerungen mit und leiten die Abschrift als offizielle Beschwerde an den Hochschulrat weiter. Oder wenn man auf einer Konferenz spricht oder Artikel für eine Zeitung verfasst, gibt es immer einige Bürger, die darauf verärgert reagieren. Und dann sind da noch die Beschwerdebriefe an CİMER. [Ein Webdienst des Kommunikationszentrums des türkischen Präsidialamts, über den Bürger Beschwerden, Nachrichten und Anfragen an den Ministerpräsidenten richten können. 2017 wurden mehr als drei Millionen E-Mails an CİMER verschickt; Anm. der Red.] Täglich werden vier bis fünf Beschwerden gegen mich eingereicht. Das ist schwer zu ertragen. Noch vor fünf bis zehn Jahren war die Lage anders. Offenbar fühlen sich heute mehr Menschen zu solchen Angriffen ermutigt.

Welche Maßnahmen könnten ergriffen werden, um dieser "kulturellen Verödung" entgegenzuwirken und die Menschen wieder frei atmen zu lassen?

Öztürk: Recep Tayyip Erdoğan hat gesagt, dass wir als Land in den Bereichen Bildung und Kultur besser werden müssen. Doch habe ich bisher keine Schritte gesehen, die in dieser Hinsicht eine Änderung bewirken könnten. In der Türkei ist es ja nicht so, dass die Zivilgesellschaft vorangeht und dann den Rückhalt in der Politik sucht. Es ist vielmehr umgekehrt. Natürlich könnten wir darüber sprechen, ob das falsch oder richtig ist. Aber so funktionieren die Dinge nun mal hier. Im türkischen Kulturkodex ist der Staat "der Schatten Gottes auf Erden". Wenn der Präsident seinen Aufruf zur Neuausrichtung des religiösen Verständnisses wiederholen würde, könnten wir plötzlich eine Veränderung des aktuellen Klimas erleben.

Das Interview führte Ayşe Karabat.

© Qantara.de 2019

Aus dem Englischen von Peter Lammers