Erdoğan ins Boot holen

Zur Frage der Zukunft Syriens verwies der russische Präsident Wladimir Putin jüngst auf das "Adana-Abkommen", das bereits vor über zwei Jahrzehnten zwischen der Türkei und Syrien geschlossen wurde. Wie es auszulegen ist, hängt allerdings davon ab, von welcher Seite man es betrachtet. Von Ayşe Karabat

Von Ayşe Karabat

Als der russische Präsident Wladimir Putin vor Kurzem auf den Vorschlag der USA angesprochen wurde, östlich des Euphrat eine Sicherheitszone einzurichten – wogegen die Türkei militärisch vorzugehen droht – sagte er, ein solcher Schritt sei nicht legitim.

Stattdessen verwies er auf ein 1998 zwischen Damaskus und Ankara unterzeichnetes Abkommen und versicherte damit der Türkei, dass Russland die türkischen Sicherheitsbedenken verstanden habe. Gleichzeitig vertritt er damit die Interessen Russlands, das eine dauerhafte Präsenz der USA in der Region verhindern will.

Putin thematisierte das "Adana-Abkommen" gezielt während eines Treffens am 23. Januar mit seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdoğan in Moskau. Benannt wurde das Abkommen übrigens nach der südtürkischen Stadt, wo der Pakt unterzeichnet wurde.

Mit dem Abkommen wollte man Ende der 1990er Jahre die Gefahr eines Krieges der Türkei gegen Syrien abwenden. Syrien hatte damals Abdullah Öcalan Zuflucht gewährt, den inzwischen längst inhaftierten Führer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), also jener Organisation, die von der Türkei, der EU und den Vereinigten Staaten als Terrororganisation eingestuft wurde und wird.

Das Abkommen zwang Öcalan seinerzeit, Syrien zu verlassen. Auf seiner Flucht wurde er schließlich in Kenia vom türkischen Geheimdienst festgenommen. Öcalan wurde in der Türkei wegen Hochverrats verurteilt. Er verbüßt eine verschärfte lebenslange Haftstrafe in einem Hochsicherheitsgefängnis auf der abgelegenen Insel İmralı im Marmarameer.

Kooperation im Anti-Terror-Kampf

Einheiten der kurdischen YPG kontrollieren Fahrzeuge syrischer Zivilisten in Manbij, Nordsyrien, im März 2018; Foto: picture-alliance/AP/H. Malla
Die kurdische YPG-Miliz als rotes Tuch für Recep Tayyip Erdoğan: Die Türkei hat bereits mehrfach gedroht, im Norden Syriens militärisch gegen die kurdische YPG-Miliz vorzugehen, die sie als Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit als Terrororganisation ansieht. Die YPG, die Gebiete an der Grenze zur Türkei beherrscht, hat die USA aber entscheidend im Kampf gegen den IS unterstützt und würde bei einem Abzug des mächtigen Verbündeten unter Druck geraten. Trumps Regierung hat sich bislang nicht mit Ankara auf den Schutz der Kurden einigen können.

Das "Adana-Abkommen" verpflichtet die Unterzeichner zur engen Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus. Es sieht zudem die Ernennung von Sonderbeauftragten und hochrangige Kontakte zwischen den Militärs beider Staaten vor. Wichtig war zudem, dass nicht nur die PKK als gemeinsamer Feind bekämpft werden sollte, sondern jede in der Nachfolge umbenannte oder damit verbündete Organisation.

Die Ausführungen zu dem Abkommen erklären auch, warum die Türkei heute die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), auf die sich die USA im Kampf gegen den IS seit Langem stützen, als syrischen Ableger der PKK sieht. Die kurdischen Milizionäre kontrollieren nahezu ein Drittel Syriens in Form einer autonomen Verwaltung entlang der türkischen Grenze, die die Türkei als "Korridor des Terrors" bezeichnet.

Wiederannäherung an Damaskus?

Nach dem Treffen mit Putin sagte Erdoğan, das Abkommen liefere die Antwort auf die Frage, was die Türkei in Syrien unternimmt. Allerdings wies er Behauptungen der Opposition strikt zurück, Putin habe auf das Abkommen mit dem Ziel zurückgegriffen, die unterbrochenen Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien wiederzubeleben, da nur Syrien die Sicherheitsbedenken Ankaras zerstreuen könne.

Auf dem Rückflug von seinem Moskauer Treffen versicherte Erdoğan den anwesenden Journalisten, die Türkei werde keinen Kontakt auf höchster Ebene mit "jemandem haben, der für den Tod von mehr als einer Million Menschen und für die Vertreibung von Millionen anderer Menschen verantwortlich ist", womit sich Erdoğan auf den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad bezog.

Ünal Çeviköz, stellvertretender Vorsitzender der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) und ehemaliger Botschafter, sagte gegenüber Qantara.de, dass Putins Verweis auf das "Adana-Abkommen" zur Lösung der Sicherheitsbedenken Ankaras ein legitimer und logischer Vorschlag sei.

"Russland will, dass Ankara und Damaskus in den Dialog eintreten, was früher oder später unumgänglich sein wird. Die Türkei muss eine Tatsache anerkennen, die alle anderen längst akzeptiert haben: Assad wird an der Macht bleiben. Erdoğan will jedoch nicht einlenken und stemmt sich weiter dagegen. Eine derart starre Haltung ist unvereinbar mit den realpolitischen Gegebenheiten", so Çeviköz.

Das "Adana-Abkommen" verhinderte damals nicht nur einen Krieg zwischen Ankara und Damaskus, es verbesserte auch die Beziehungen so weit, dass die Familien von Erdoğan und Assad gemeinsam Urlaub machten.

Keine Ermächtigung zu türkischen Alleingängen

Das "Adana-Abkommen" blieb bis zum Ausbruch der syrischen Aufstände 2011 in Kraft, wie İsmail Hakkı Pekin gegenüber Qantara.de erklärte. Pekin ist Generalleutnant des Heeres im Ruhestand und ehemaliger Leiter der Nachrichtenabteilung im Generalstab der Türkei. Er betonte, entgegen den Andeutungen Erdoğans gebe das "Adana-Abkommen" der Türkei nicht das Recht, einseitig zu handeln.

"Das 'Adana-Abkommen' schafft die Grundlage für eine Zusammenarbeit und nicht für Alleingänge. Als ich zwischen 2007 und 2011 Leiter der Nachrichtendienstabteilung im Generalstab der Türkei war, besuchte ich Syrien im Halbjahresrhythmus. Syrien lieferte alle PKK-Mitglieder aus, schloss deren Lager und trocknete die Finanzquellen aus. Das letzte Treffen zwischen der Türkei und Syrien fand im Januar 2011 während meiner Amtszeit statt. Im Rahmen des Abkommens reiste ich damals nach Damaskus. Syrien hätte den Besuch eigentlich im August erwidern sollen, was aber unter den gegebenen Umständen nicht geschah", so Pekin.

Pekin berichtete ferner, dass er zwei Tage, bevor Putin das "Adana-Abkommen" zur Sprache brachte, mit einer russischen Quelle sprach, die vorschlug: "Die Türkei dringt aus dem Norden ein, das syrische Regime aus dem Süden. Das Gebiet wird durchkämmt und nach Wiederherstellung der Ordnung zieht sich die Türkei zurück."

Nach Auffassung Pekins ist das der Plan Moskaus, wobei das "Adana-Abkommen" dafür den Boden bereite. Er fügte jedoch hinzu, dass die Türkei ihr Ziel aufgeben müsse, das Assad-Regime abzusetzen. Auch dürfe die Türkei die von Damaskus als terroristische Organisation betrachte Freie Syrische Armee nicht länger unterstützen, wenn diese Lösung funktionieren soll.

Die Suche nach einer Lösung für alle Beteiligten

Nach Ansicht des türkischen Nahost-Experten Oytun Orhan vom "Zentrum für strategische Nahost-Studien" (Orsam) in Ankara versuche Putin mit dem Verweis auf das Abkommen auch, ein Gegengewicht zu der von den USA vorgeschlagenen Sicherheitszone zu schaffen, die die Amerikaner nach ihrem Rückzug aus Syrien planen.

"Sowohl die USA als auch Russland wollen die Türkei an ihrer Seite haben, aber keiner von ihnen möchte auf die YPG verzichten", fügte er hinzu. "Washington macht der Türkei deutlich, dass man deren Sicherheitsbedenken versteht, und schlägt eine Sicherheitszone als Puffer zwischen der Türkei und den kurdischen Milizionären der YPG vor. Gleichzeitig erklärt die USA den Milizen, dass man sie nicht an der türkischen Grenze haben wolle und bietet stattdessen den Süden der Sicherheitszone an."

Laut Orhan unterbreitete Moskau unter Bezugnahme auf das "Adana-Abkommen" ein eigenes Angebot, das auf der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit zwischen Ankara und dem syrischen Regime beruht. Orhan wies jedoch auch darauf hin, dass Putin mit Blick auf das "Adana-Abkommen" zudem verdeutlichen wollte, dass Moskau das Regime dazu ermutige, einen Dialog mit den Kurden aufzunehmen, damit die Einheit Syriens gewährleistet bleibt. Dies könnte eine Botschaft an die YPG sein, dass Moskau bereit ist, den Erhalt einiger kurdischer Erfolge in Syrien zu akzeptieren.

Laut dem Journalisten Gürkan Zengin, Autor mehrerer Bücher zur türkischen Außenpolitik, hat Ankara gute Gründe, den USA, mit denen man noch immer über ein endgültiges Angebot verhandelt, zu misstrauen.

"Wie Erdoğan mehrfach betonte, ist die Türkei nicht bereit, mit Damaskus Gespräche auf hoher Ebene aufzunehmen. Ankara könnte jedoch vorerst den Kontakt auf niedriger Ebene pflegen – zumindest bis klar wird, was genau sowohl die USA als auch Moskau anbieten. In der Zwischenzeit dürfte Ankara versuchen, sich einen gewissen Spielraum zu verschaffen. Andererseits wäre ein Alleingang Ankaras auch keine Überraschung. Denn wie Erdoğan häufig sagt: 'Wir könnten eines Nachts aus heiterem Himmel auftauchen'."

Ayşe Karabat

© Qantara.de 2019

Aus dem Englischen von Peter Lammers