Wenn es die Lage erlaubt...

Kristin Helberg hat ein fundiertes Buch über Syrien geschrieben. Darin erklärt sie, warum der dortige Konflikt noch lange nicht vorbei ist. Doch die Debatten in Deutschland sind nicht von Fakten, sondern zunehmend populistischen Rückkehrphantasien geprägt. Von René Wildangel

Von René Wildangel

Ende April 2019 tauchten in Berlin an verschiedenen Orten wie aus dem Nichts Plakate auf, die eine erstaunliche Botschaft verkündeten: "Der Krieg ist vorbei. Syrien braucht Dich."

Hinter den illegal platzierten Botschaften steckte die rechtsradikale Splittergruppe der "Identitären Bewegung", die dazu auffordern wollte, syrische Flüchtlinge in ihr Herkunftsland abzuschieben. Mit einer Sprache, die ihre menschenfeindlichen Ziele zu verschleiern sucht und an einen Diskurs andockt, der in Deutschland bereits an Popularität gewonnen hat. Denn nicht nur aus rechtsextremen Kreisen mehren sich mittlerweile Stimmen, die eine Rückkehr nach Syrien ins Spiel bringen.

Der jüngste Vorstoß kam von Innenminister Horst Seehofer in der BILD-Zeitung: "Wenn es die Lage erlaubt, werden wir Rückführungen durchführen." Dabei reagierte er auf Berichte über Syrerinnen und Syrer, die für kurze Reisen nach Syrien zurückkehrten.

Redakteur Mohammed Rabie behauptete ebenfalls in der BILD: "Für mich sind diejenigen, die nach Syrien in den Urlaub fahren, Assad-treue Flüchtlinge, sonst würden sie nicht nach Damaskus oder Latakia fliegen."

Populismus, der für Syrerinnen und Syrer gefährliche Konsequenzen haben kann. Zum Beispiel für jene, die einen nicht ungefährlichen Heimatbesuch antreten, um kranke Familienmitglieder zu besuchen oder Verstorbene zu beerdigen.

Kein Ende des Konflikts in Sicht

Buchcover Kristin Helberg: "Der Syrien-Krieg. Lösung eines Weltkonflikts" im Verlag Herder
Helberg macht als langjährige Beobachterin auch in ihrem neuen Sachbuch deutlich, mit welchen Mitteln der Assad-Clan in Syrien bereits seit Jahrzehnten die Macht sichert und Loyalitäten schafft: Äußerste Brutalität und eine ausgeprägte Klientelwirtschaft.

"Der Krieg scheint militärisch entschieden, aber ist er deswegen vorbei?", fragt Helberg zu Beginn ihres bereits 2018 im Herder-Verlag erschienenes Buch "Der Syrien-Krieg. Lösung eines Weltkonflikts".

Nein, lautet ihre klare Antwort, und die Gründe dafür sind zahlreich: Die Beharrungskräfte des syrischen Regimes, die Zerstrittenheit der Opposition und die zahlreichen ausländischen Interessen. Diese Gründe analysiert sie detailreich und liefert damit genau jene Fakten, die Voraussetzung für eine sachliche Debatte wäre. Es spricht Bände, dass dieses Buch kaum wahrgenommen wurde in Deutschland: nicht eine einzige Rezension war es den deutschen Redaktionen wert.

Helberg macht als langjährige Beobachterin deutlich, mit welchen Mitteln der Assad-Clan in Syrien bereits seit Jahrzehnten die Macht sichert und Loyalitäten schafft:

Äußerste Brutalität und eine ausgeprägte Klientelwirtschaft. Neben den klassischen Säulen der syrischen Herrschaft wie Partei, Militär, Geheimdienste und Wirtschaftselite hat der Krieg zudem den Aufstieg neuer krimineller Netzwerke ermöglicht: Kriegsgewinnler, die sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht und rücksichtslos bereichert haben. Und paramilitärische Kräfte, die zur Bekämpfung der Gegner eingesetzt werden und sich durch eine besondere Nähe zum Regime auszeichnen.

Gegeneinander ausgespielte Konfessionen

Dabei zeigt Helberg, wie lernfähig das syrische Regime im Umgang mit der eigenen Gesellschaft ist und es bei der Unterdrückung seiner Gegner zu regelrechter Meisterschaft gebracht hat. Das gilt insbesondere auch für die Art und Weise, wie die wichtigsten Konfessionen und Volksgruppen geschickt vom Regime gegeneinander ausgespielt werden.

Dabei war die syrische Gesellschaft schon lange vor Beginn des aktuellen Konflikts zerrüttet. Die schon traditionelle Zurückhaltung und Angst, politische Themen anzusprechen, hat sich im Krieg und angesichts der willkürlichen Verfolgung durch die Regierung, aber auch durch den lokalen Machtgewinn dschihadistischer Gruppen nochmal massiv verstärkt.

Zurecht weist Helberg darauf hin, dass unabhängige Meinungsäußerungen über die Regierung angesichts omnipräsenter Spitzel und drohender Strafen lebensgefährlich sind. In den Gebieten, die zeitweise unter oppositioneller Kontrolle standen, ist das Misstrauen der Menschen am größten. Aber selbst im klassischen Stammland der Assad-Familie gibt es heute keine umfassende Sicherheit.

Helberg ruft nochmal in Erinnerung, wie weitreichend die Hoffnungen in verschiedenen Landesteilen auf einen demokratischen Wandel waren. Sie erinnert an die zivilen Kräfte der gescheiterten Revolution, die ohne ideologische Scheuklappen auf die Straße gegangen waren, weil sie vor allem eines wollten: Veränderung und ein Ende der Gängelung durch die Diktatur.

Darunter waren viele, die längst vor 2011 an Reformbemühungen oder politischem Protest beteiligt waren. So wie Yassin al-Haj Salah, einer der wichtigsten säkularen, demokratischen Vordenker der Revolution. Im ganzen Land kam es zu beeindruckenden Experimenten lokaler Selbstverwaltung und direkter Demokratie.

Versagen auf ganzer Linie

Aber Unterstützung aus dem Ausland gab es hierfür kaum. Die Militarisierung und Radikalisierung des Aufstands rückte andere Interessen in den Mittelpunkt – und hinterließ eine hoffnungslos zerstrittene Opposition.

Während Russland und Iran auf die Assad-Diktatur setzten, wirft Helberg der EU und den USA Unentschlossenheit vor: vor allem im Umgang mit der genuinen demokratischen syrischen Opposition im Lande, die sie früh fallen ließen. Und beim Schutz der Zivilbevölkerung versagten sie auf ganzer Linie. So trug Europa selbst zu der Situation bei, die heute unter dem Begriff "Flüchtlingskrise" so entkontextualisiert wird, als handele es sich um ein Naturereignis.

Zu Ende ist diese Situation längst nicht: Während russisch-syrische Bombardierungen in der Provinz Idlib weitergehen, droht nach UN-Angaben die Flucht von bis zu zwei Millionen Menschen aus der Provinz.

Syrische Demokratieaktivisten aus der nordsyrischen Kleinstadt Kafranbel in der Provinz Idlib; Foto: Dawlati
Helberg ruft in ihrem Sachbuch nochmal in Erinnerung, wie weitreichend die Hoffnungen in verschiedenen Landesteilen auf einen demokratischen Wandel waren. Sie erinnert an die zivilen Kräfte der gescheiterten Revolution, die ohne ideologische Scheuklappen auf die Straße gegangen waren, weil sie vor allem eines wollten: Veränderung und ein Ende der Gängelung durch die Diktatur.

Immer wieder gab es gezielte Angriffe auf humanitäre Ziele wie Krankenhäuser, deren Koordinaten die Vereinten Nationen eigentlich zu deren Schutz an Russland weiter gegeben hatten. Zehntausende, wenn nicht Hundertausende Verschwundene, die in syrischen Gefängnissen gefoltert werden, warten bis heute auf politische Initiativen, die ihr Leiden und das ihrer Angehörigen beenden. Derweil schieben Länder wie die Türkei oder der Libanon, die Millionen Flüchtlinge beherbergen, Syrerinnen und Syrer völkerrechtswidrig in ihr Heimatland ab.

Kein Schutz für verfolgte Personen

So schlimm ist es in Deutschland noch lange nicht. Das Auswärtige Amt urteilte 2018 in einem Lagebericht: "In keinem Teil Syriens besteht ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen."

Dennoch übernehmen auch deutsche Politiker zunehmend das Narrativ vom "Wiederaufbau". Die mittlerweile zahlreichen Syrerinnen und Syrer in Deutschland, die hier politisch aktiv sind, kommen in dieser Diskussion selten zu Wort. Der Diskurs zum Wiederaufbau, erklärt Helberg, wird von Assad gezielt als Herrschaftsinstrument genutzt. Millionen von Geflüchteten will er dabei ausschließen und ihren Besitz per Gesetz enteignen.

Profitieren soll die eigene Klientel. Auch internationale Hilfsgelder drohen über die Vereinten Nationen, die mit der Regierung zusammenarbeiten, indirekt in die Unterstützerkasse des Regimes zu fließen. Die inneren Konflikte des Landes, da ist Helberg sicher, können mit der andauernden Assad-Herrschaft nicht beseitigt werden. Daher ist sie gegen eine "Normalisierung" der Politik gegenüber Assad.

Aber genau daran arbeiten einige Politiker beständig. Nicht nur die rechtspopulistische AfD schickte bereits eine Bundestagsdelegation in die syrische Hauptstadt. Sogar Bayerns Innenminister Hermann forderte schon 2018, "Gefährder" und Straftäter in das Kriegsland abzuschieben.

Vor der jüngsten Innenministerkonferenz im Juni 2019 gab er zu Protokoll, in Syrien "habe sich einiges stabilisiert." Er ist nicht der einzige, für den Kristin Helbergs Buch Pflichtlektüre sein sollte.

René Wildangel

© Qantara.de 2019

Kristin Helberg: "Der Syrien-Krieg. Lösung eines Weltkonflikts", Verlag Herder 2018, 256 Seiten, ISBN: 978-3-451-38145-4

René Wildangel ist Historiker und schreibt unter anderem zum Schwerpunkt Naher/Mittlerer Osten.