Ein marokkanischer Jude mit arabo-berberischen Wurzeln

Im vergangenen Jahr ist der jüdisch-marokkanische Autor Edmond Amran El Maleh im Alter von 93 Jahren gestorben. Die Nationalbibliothek in Rabat widmet dem antikolonialistischen Freiheitskämpfer jetzt eine große Ausstellung. Regina Keil-Sagawe berichtet.

Edmond Amran El Maleh; Foto: privat
Nestor und großer Außenseiter des franko-marokkanischen Literaturbetriebs: der jüdisch-marokkanische Autor Edmond Amran El Maleh starb im Alter von 93 Jahren im marokkanischen Essaouira.

​​Sein Tod hat Marokko mit der Wucht eines Phantomschmerzes getroffen: Edmond Amran El Maleh, am 30. März 1917 in Safi geboren, Spross einer alteingesessenen jüdischen Kaufsmanns- und Rabbinerfamilie aus Essaouira, wurde am 16. November ein veritables Staatsbegräbnis zuteil.

Vom nördlichen Stadttor Bab Doukkala zog sich der Trauerzug bis zum alten jüdischen Friedhof Essaouiras hin; der mit der roten marokkanischen Fahne bedeckte Sarg des Ex-Kommunisten und Unabhängigkeitskämpfers wurde vom königlichen Ratgeber (André Azoulay) und dem königlichen Historiographen (Hassan Aourid), vom Direktor der Nationalbibliothek (Driss Khrouz) und mehreren marokkanischen Künstlern (Hassan Bourkia, André El Baz) getragen.

Es war sein Wille, dort beigesetzt zu werden, inmitten "all dieser Gräber, die, dem Wildwuchs, dem Wind, dem Ansturm des Ozeans ausgesetzt, sich stumm verschließen über hebräischen Inschriften und rätselhaften Zeichen".

In der Tat überrascht das Emblem der punischen Göttin auf den verwitterten Stelen – Indiz dafür, dass es seit Nebukadnezars Zeiten Juden in Marokko gab, die auf phönizischen Handelsschiffen der babylonischen Gefangenschaft entronnen waren.

Wider eindimensional-identitäre Fixierung

Hommage an den marokkanischen Schriftsteller Edmond Amran El Maleh; Foto: Regina Keil-Sagawe
Ein Autor, der sich selbst als "Geschichtendieb" und "Hüter der Wörter" bezeichnete: Hommage an den marokkanischen Schriftsteller Edmond Amran El Maleh

​​El Malehs Grabstein vermehrt das Sprachengewirr: vier Schriftbilder hat er sich ausbedungen, Arabisch, Berberisch, Hebräisch und Französisch. Reflex eines Lebens- und Zugehörigkeitsgefühls, dass sich jeder eindimensional-identitären Fixierung entzieht, bis hinein in seine Autobiographie, Lettres à moi-même (2010), einem literarischen Versteckspiel, das seine Zeit im Pariser Exil (1965–2000) reflektiert.

"Ich hoffe, Sie haben nichts gegen Frankreich unternommen?", wird er 1965 beim Vorstellungsgespräch als Philosophie-Lehrer im sakrosankten Pariser Collège Sainte-Barbe gefragt.

Dass er, der nach der blutigen Niederschlagung des Volksaufstands in Casablanca am 23. März 1965 durch König Hassan II. mit dem Vermerk "Agitator und Nationalist" im Dossier Marokko verlässt und zwischen 1945 und 1959 Chef des Politbüros der illegalen marokkanischen KP im Kampf gegen das französische Kolonialregime war, behält er für sich. Denn, klar doch, "marokkanische Juden machen keine Politik."

Unbequemer Humanist und Querdenker

Dafür, dass er sich nicht an diese goldene Überlebensregel hält, ebenso wenig wie Marokkos legendärer Linksoppositioneller, Abraham Serfaty (1926–2010), der nur drei Tage nach ihm gestorben ist, dafür wird er im Jahr 2004 vom König mit dem Nationalen Verdienstorden geehrt.

Ihm, dem unbequemen Humanisten und Querdenker, Kritiker des Zionismus und Fürsprecher der Palästinenser, wird es im neuen Marokko hoch angerechnet, dass er, der französisch assimilierte Jude, seine arabo-berberischen Wurzeln nie verleugnet hat.

Im Gegenteil, sein literarisches Werk, das er erst im Alter von 63 Jahren in Angriff nimmt und für das er 1996 den "Grand Prix du Maroc" erhält, kreist einzig und allein um Marokko:

In Parcours immobile (1980) um das kommunistische Experiment, von dessen Auswüchsen er sich im Rückblick ironisch distanziert; in Aïlen ou la nuit du récit (1983) um das Leid der kleinen Leute, die Korruption der neuen Machteliten, die Saturiertheit der einstigen Revolutionäre im unabhängigen Marokko; in Mille ans, un jour (1986) um den absurden Exodus der marokkanischen Juden, die zu Hunderttausenden nach Israel strömen, ins Gelobte Land, das vielen von ihnen zum Albtraum wird; in Le retour d'Abou el Haki (1990) um eine Reise durch die arabische Kulturgeschichte, über Fes, Marrakesch und Kairo nach Indien und Andalusien.

Außenseiter des franko-marokkanischen Literaturbetriebs

Buchcover El Maleh: Hommage a l'Ami
Anklänge an Kafka, Canetti, Proust: El Malehs Romane reflektieren eine Suche nach der verlorenen Zeit. Sie evozieren ein vielschichtiges, vielgesichtiges, vielstimmiges Marokko, schreibt Regina Keil-Sagawe.

​​Es sind Romane, die, auf der Suche nach der verlorenen Zeit, ein vielschichtiges, vielgesichtiges, vielstimmiges Marokko evozieren, mit Anklängen an Kafka, Canetti, Proust und immer wieder Walter Benjamin, in gewaltiger, überbordender Fabulierlust, doch stets mit scharfem Blick auf die Gegenwart. Dreh- und Angelpunkt allen Erzählens sind die Orte seiner Kindheit, Essaouira, Safi und Azilah, sind die Sitten und Bräuche, Wörter und Düfte, Legenden und Anekdoten des marokkanischen Judentums.

Der Autor, der sich selbst als Geschichtendieb und Hüter der Wörter tituliert, flicht unversehens Wörter und Wendungen aus dem Jüdisch-Arabischen mit ein, dem Berberischen, Englischen und Spanischen. Wie eine Tätowierung, so Juan Goytisolo, ein großer Bewunderer El Malehs, schreibe der marokkanische Dialekt sich dem Französischen dieses Autors ein, des Nestors und großen Außenseiters des franko-marokkanischen Literaturbetriebs, den es außerhalb Marokkos noch zu entdecken gilt.

Bekenntnis zur pluralen Identität Marokkos

Als großer Entdecker gilt El Maleh selbst, nämlich als engagierter Kunstkritiker und Förderer der marokkanischen Kunstszene. Zu einer Zeit, da Marokkos Kunstkritik noch in den Kinderschuhen steckt beziehungsweise die Künstler selber barfuß gehen, schreibt er schon über Pioniere wie Ahmed Charkaoui und entdeckt Talente wie Khalil El Ghrib. So verwundert es kaum, dass sich Kunst-Events im Dezember 2010, wenige Wochen nach seinem Tod, allenthalben in Hommagen für El Maleh verwandeln, nicht zuletzt die 2. Internationale Biennale Marrakesch.

Deren Gründer, Abderrazak Benchaâbane, spricht vielen Marokkanern aus der Seele, wenn er betont, dass El Maleh ein wertvolles spirituelles Erbe hinterlässt: Treue zu den Wurzeln und der pluralen Identität Marokkos, Werte wie Toleranz und Respekt vor dem Anderssein. "Ich hoffe, meine Generation und die folgenden können seine Flamme weitertragen."

Seinen materiellen Nachlass, Kunstsammlungen und Bücherschätze, hat El Maleh der Nationalbibliothek in Rabat vermacht, die auch Sitz der 2004 gegründeten Fondation Edmond Amran El Maleh ist, einer Stiftung, wie könnte es anders sein, zur Förderung des Dialogs der Religionen und Kulturen.

Seit dem 23. März wird dort sein Nachlass in einer Ausstellung, begleitet von einer Hommage, der marokkanischen Öffentlichkeit präsentiert, als, wenn man so will, postumes Geburtstagsgeschenk – am 30. März 2011 wäre "Hadj Edmond", wie viele Marokkaner ihn liebevoll nennen, 94 Jahre alt geworden.

Regina Keil-Sagawe

© Qantara.de 2011

Redaktion: Lewis Gropp/Arian Fariborz/Qantara.de

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