Der palästinensische Kosmos

Die Journalistin Amira Hass lebt als einzige Israelin seit zwölf Jahren im palästinensischen Autonomiegebiet. Lennart Lehmann hat ihr auf Deutsch erschienenes Buch gelesen.

​​„Gaza – Tage und Nächte in einem besetzten Land“ von Amira Hass ist sicher eine der besten Innenansichten aus den Palästinensischen Autonomiegebieten. Als einzige israelische Journalistin lebt die Autorin auf palästinensischem Territorium. Sie kam 1991 mit einer Menschenrechtsgruppe in das Gebiet, und seit 1993 berichtet sie von dort für die liberale israelische Tageszeitung „Haaretz“. Für ihre Reportagen wurde sie mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. In ihrem Buch „Gaza“ beschreibt sie die Situation im Gazastreifen zwischen 1991 und 1996. „Doch das Buch ist immer noch relevant, weil es viele Gefühle beschreibt, die im Zuge der Oslo-Frustration zur zweiten Intifada führten.“ Die Tochter osteuropäischer Holocaust-Überlebender kritisiert die Abriegelungspolitik der Israelis und ihre Siedlungspolitik scharf. Sie beschreibt die katastrophalen ökonomischen Folgen für die Palästinenser, die alltägliche Demütigung, das Gefühl völliger Hilflosigkeit. „Das war für die Palästinenser kein Friedensprozess, sondern Besatzung.“ Doch auch bei Arafats Autonomiebehörde ist sie nicht beliebt, seit sie über Menschenrechtsverletzungen, Repressionen und Selbstjustiz palästinensischer Paramilitärs berichtete.

Erlebte Geschichten

Das Angenehme an diesem Buch ist, dass es mittels erlebter alltäglicher Geschichten den palästinensischen Kosmos schildert: Die verfehdeten politischen Gruppierungen, von Fatah über Hamas bis zu den Kommunisten. Das Lavieren der Frauen zwischen traditioneller Rolle und Aufbegehren im Chaos, ausgeschlossen von der Politik und gleichzeitig Beschützerinnen ihrer Männer gegen israelische Polizisten. Die Wunderheiler, von denen sich die vom ständigen Ausnahmezustand Zermürbten Linderung erhoffen. Der sinnlos hinter jeder Ecke lauernde Tod. Die Verzweiflung hinter der Maske des Kriegers. Die Hoffnungen und Resignationen. Der inzwischen fast mystische Glaube an eine Heimat, die es nicht mehr gibt. Die Radikalisierung ganz normaler Menschen.

„Es gab keine Probleme, als ich 1991 nach Gaza zog“, sagt sie. „Ich bekam Kontakt zu anderen Menschenrechtsorganisationen und anderen Journalisten. Ich habe mich immer sofort als Jüdin geoutet, aber es gab nie Schwierigkeiten. Viele Araber konnten Hebräisch, weil sie in Israel arbeiteten. Sie wussten zwischen den Menschen zu differenzieren. Heute wäre es nicht mehr so einfach. Mit der Abriegelungspolitik seit 1991 ist auch der Kontakt und die Fähigkeit zur Differenzierung verloren gegangen.“

Freunde in Gaza und Israel

Nach ihren Gefühlen befragt, spricht sie von „agonisierten Sympathien zu beiden Communities“. „Mir tut der einsame israelische Soldat leid, der einen Posten im Palästinensergebiet bewacht, und ich sehe die Angst in seinen Augen. Ich hasse die palästinensischen Waffennarren, die durch die Straßen patrouillieren. Ich habe Freunde in Gaza und in Israel. Man muss unterscheiden zwischen Ad-hoc-Situationen und dem großen Rahmen, in dem ich lebe.“ Eines ihrer schönsten Erlebnisse war, wie sich Palästinenser für sie einsetzten, als Arafats Geheimdienst sie aus der Zone zwingen wollte. Oder wie ein Hamas-Aktivist einmal zu ihr sagte: „Das Beste, was du für Gaza tun kannst, ist ein Buch zu schreiben.“ Das hat sie getan.

Lennart Lehmann

© 2003, Qantara.de

Amira Hass: Gaza – Tage und Nächte in einem besetzten Land, aus dem Englischen von Sigrid Lanhaeuser, C.H.Beck München 2003, 410 S., 24,90 Euro