Neue geopolitische Grundlinien und Spielregeln

Zum ersten Mal seit der Dekolonisierung ist im Irak-Krieg ein arabischer Staat von einer außerregionalen Macht erobert und besetzt worden. Die USA stellen die stärkste Militärmacht im Mittleren Osten dar und haben regionale Mächte wie Ägypten oder Saudi-Arabien ihres Status beraubt. Volker Perthes berichtet

Zum ersten Mal seit der Dekolonisierung ist im Irak-Krieg ein arabischer Staat von einer ausserregionalen Macht erobert und besetzt worden. Die Vereinigten Staaten stellen die stärkste Militärmacht im Mittleren Osten dar und haben bisherige regionale Führungsmächte wie Ägypten oder Saud-Aarabien ihres Status beraubt. Von Volker Perthes

Foto: Stiftung Wissenschaft und Politik
Dr. Volker Perthes

​​Obwohl der Irak-Krieg auch nach einem Jahr nicht die von seinen amerikanischen Befürwortern versprochenen revolutionären Domino-Effekte gezeigt hat, stellt er eine geopolitische Revolution im Mittleren Osten dar. Zum ersten Mal seit der Zeit der Dekolonialisierung wurde ein arabischer Staat durch eine ausserregionale Macht erobert und besetzt, wobei die umliegenden Staaten hierbei keine nennenswerte Rolle spielten.

Bedeutung erlangten sie allenfalls als logistische Standorte oder als Hindernisse einer zügigen Umsetzung der amerikanischen Kriegspläne. In den neuen politisch-strategischen Verhältnissen im Nahen und Mittleren Osten dürften drei Themenkomplexe von Bedeutung sein: die regionale Machtstruktur, die Zukunft regionaler Institutionen und Organisationen sowie die Chancen externer Ordnungsprojekte.

Obsolete Kräftekalkulationen

Wir gehen hier davon aus, dass die USA sich in näherer Zukunft trotz dem Widerstand gegen ihre militärische Präsenz weder aus dem Irak noch aus der Region zurückziehen werden. Da die Vereinigten Staaten mittlerweile nicht nur "over the horizon", sondern auch am Boden die stärkste Militärmacht im Mittleren Osten darstellen, wird ein Grossteil der traditionellen Kräftekalkulationen obsolet werden - die so beliebten Tabellen über militärische Balancen im Nahen und Mittleren Osten, bei denen syrische Panzer israelischen oder iranische Kampfjets saudischen gegenübergestellt werden.

Zumindest als Erklärungsfaktoren für politische Prozesse können solche Statistiken nicht mehr dienen. Tatsächlich dürfte die Fähigkeit regionaler Akteure, in politischen Balanceübungen ihre Position zu verbessern, sehr viel wichtiger werden als ihre Ausstattung mit bestimmten Waffensystemen.

In diesem Zusammenhang muss auch die nahöstliche Debatte über Massenvernichtungswaffen gesehen werden. Amerikanischer und europäischer Druck ist dabei nicht unwichtig; wichtiger aber dürfte für Staaten wie Libyen und Iran, Syrien oder Saudiarabien sein, dass solche Waffen unter den gegebenen Verhältnissen wenig nutzen, nicht einmal mehr zur Abschreckung überlegener Gegner und sicher nicht als Instrumente regionaler Machtpolitik.

Keine regionale Führungsmacht

Die vielleicht wichtigste Veränderung der strukturellen Machtverteilung innerhalb des regionalen Systems scheint darin zu liegen, dass auf absehbare Zeit kein Staat mehr die Rolle eines regionalen oder subregionalen Hegemons einnehmen wird.

Keine der potenziellen regionalen Vormächte - Ägypten, Saudi-Arabien und selbst Israel - wird in der Lage sein, die Region selbständig zu dominieren oder eine Stellvertreterrolle für die USA zu übernehmen; alle werden ihre Politik im Lichte der direkten Anwesenheit des neuen amerikanischen "Nachbarn" bestimmen müssen.

Kleinere und schwächere Staaten werden ihre Beziehungen zu den USA praktisch gleichgestellt mit den regionalen Mittelmächten und ohne deren Vermittlung gestalten können.

So hat auf der arabischen Halbinsel Saud-Arabien ganz offensichtlich den subregionalen Hegemonialstatus eingebüsst, den es während der siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts innehatte. Damals hätten die kleineren Staaten des Golf-Kooperationsrates keinen signifikanten aussen- oder innenpolitischen Schritt unternommen, ohne bereits im Vorfeld saudische Wünsche und Bedenken in ihre Planungen einzubeziehen.

Der Herrscher von Bahrain etwa hätte sich eben nicht durch Rangerhöhung zum König mit dem saudischen Monarchen auf eine Stufe gestellt oder allgemeine Wahlen abgehalten; das Emirat Dubai hätte keine "Medienfreizone" geschaffen, in der selbst saudische Investoren unzensierte Rundfunk- und Pressefreiheit geniessen.

Heute schauen diese kleineren Staaten eher nach Washington als nach Riad, wenn sie sich Sorgen machen, wie andere auf ihre politischen Initiativen oder Vorhaben reagieren könnten. Und die saudische Führung betrachtet ihrerseits mit einiger Aufmerksamkeit, was sich innenpolitisch bei ihren kleineren Nachbarn tut - nicht zuletzt, um eigene Reformoptionen auszuloten.

Institutionelle Reorientierungen

Auch Ägyptens regionaler Einfluss ist geschrumpft. Nach dem Golfkrieg von 1991 wurde noch über eine sicherheitspolitische Rolle Kairos am Golf diskutiert; heute ist davon keine Rede mehr. Ägypten wird sich darauf konzentrieren müssen, in seinem näheren Umfeld eine konstruktive Rolle zu spielen, sei es als Vermittler zwischen Israeli und Palästinensern oder zwischen den verschiedenen palästinensischen Gruppierungen.

Bezeichnenderweise hatte Ägypten keinen Anteil am Ausgleich zwischen Libyen und den USA und Grossbritannien und ist auch, trotz der enormen sicherheitspolitischen Bedeutung des Themas für Kairo, nicht in die sudanesischen Friedensgespräche eingebunden.

Ähnliches gilt für Syrien, dessen Vorherrschaft über Libanon sich ihrem Ende zuzuneigen scheint, sowohl aufgrund amerikanischen und europäischen Drucks als auch infolge der abnehmenden Überzeugungskraft syrischer Versuche, seine Kontrolle des Nachbarlandes mit Blick auf die sicherheitspolitische Lage in Libanon oder im Nahen Osten zu legitimieren.

Die Arabische Liga ist zwar schon häufiger totgesagt worden; der Irak-Krieg und seine Folgen dürften sie aber tatsächlich auf Dauer geschwächt und als Mitgestalter regionaler Politik aus dem Spiel geworfen haben. Die Verschiebung des für Ende März angesetzten Gipfels der arabischen Staatschefs hat dies nur noch unterstrichen.

Dies könnte zu einer Reorientierung bestehender oder auch zur Gründung neuer regionaler oder subregionaler Organisationen beitragen, die sich im Gegensatz zur Liga nicht über ethnische Identitäten (wie den Panarabismus), sondern über gemeinsame funktionale Interessen definieren.

Ein Beispiel für diese Entwicklungstendenz sind die wiederholten Treffen der Nachbarstaaten des Irak. Diese Gruppe, zu der sowohl die arabischen wie auch die nichtarabischen Nachbarn des Iraks gehören, wurde mit dem begrenzten, aber konkreten Ziel ins Leben gerufen, die Politik dieser Länder im Irak-Krieg und in seiner Folge abzustimmen.

Es wäre zweifellos sinnvoll, wenn das internationale Nahost-Quartett (USA, EU, Russland und die Uno) gemeinsam mit dieser Gruppierung eine "6+4+1-Kontaktgruppe für den Irak" (Nachbarn, Quartett und irakische Regierung) bilden würde. Diese könnte sich zur Basis eines sicherheitspolitischen Koordinationsmechanismus entwickeln, um schrittweise sicherheits-und vertrauensbildende Massnahmen im Mittleren Osten zu vereinbaren und auf den Weg zu bringen.

Die Schaffung neuer Institutionen macht diese natürlich noch nicht zu besseren oder effektiveren Agenturen als die bereits existierenden Organisationen - ihren praktischen Nutzen bei Krisenprävention und Konfliktlösung müssten sie erst noch unter Beweis stellen.

Externe Ordnungsprojekte

In der internationalen Debatte nach dem Irak-Krieg ist trotz den Schwierigkeiten, denen sich die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten im Irak ausgesetzt sehen, sehr viel von der Erneuerung, Neugestaltung oder Neuordnung des Nahen Ostens die Rede.

Großartige Begriffe wie "Greater Middle East" und "Greater Middle East Initiative" dienen dabei nicht selten dazu, über den Mangel an konkreten Ideen und Instrumenten, solche Veränderung auch tatsächlich in die gewünschte Richtung zu lenken, hinwegzutäuschen.

Bezeichnenderweise scheint das "weiche" Element in der Nahost-Strategie der Bush-Administration, die sogenannte Middle East Partnership Initiative (MEPI), eine blosse Kopie des EU-Barcelona-Prozesses zu sein, die sich lediglich durch ihre umfassendere geopolitische Reichweite und ihre geringere finanzielle Ausstattung auszeichnet.

Regionale Akteure dürften weiterhin einige Energie aufbringen, um Strategien und Projekte, die externe Planer für die Region entwerfen, möglichst effektiv zu unterwandern. Ungeachtet ihrer Abhängigkeiten von internationalen Grossmächten geben diese Staaten regionalen und lokalen Vorgängen hohe Priorität und sind deshalb bereit, für die Verteidigung ihrer darauf bezogenen Eigeninteressen wesentlich höhere Kosten in Kauf zu nehmen als jeder externe Akteur.

In dieser Hinsicht bestätigen die Entwicklungen nach dem Irak-Krieg eine Beobachtung, die Leonard Binder bereits vor 45 Jahren machte, als er feststellte, dass von außen in die Region projizierte Macht durch die Dynamiken des regionalen oder subregionalen Systems "gebrochen" wird.

Während des Kalten Krieges erklärten Wissenschafter wie L. Carl Brown dieses Phänomen, indem sie die Fähigkeit regionaler Akteure aufzeigten, externe Mächte gegeneinander auszuspielen und sie entgegen ihren Interessen in regionale Konflikte hineinzuziehen.

Zwar lassen sich weder die USA noch die EU momentan auf solcherlei Verhaltensmuster ein. Der sogenannte Krieg gegen den Terrorismus dürfte den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens jedoch neue Möglichkeiten eröffnen, Amerika, Europa oder auch Russland in ihre innenpolitischen oder regionalen Konflikte hineinzuziehen.

Amerikanische Truppen, die im Süden Algeriens die algerische Armee im Kampf gegen den Terrorismus unterstützen oder in Jemen Jagd auf mutmaßliche al-Kaida-Anhänger machen, mögen da nur ein Anfang sein.

Politische Psychologie und Geopolitik

Die Entwicklungsperspektiven der Region werden schließlich auch von den politisch-psychologischen Auswirkungen des Irak-Krieges geprägt sein. Auf globaler Ebene lässt sich der Fall des Regimes in Bagdad mit dem Fall der Berliner Mauer vergleichen.

Während jedoch das Ende der kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa von den Einwohnern dieser Länder selbst zustande gebracht wurde, wurden die Statuen und das Regime Saddam Husseins von einer fremden Armee gestürzt.

Welche Auswirkungen dies auf lange Sicht auf die politische Psychologie und Kultur sowohl des Iraks als auch der arabischen Gesellschaften haben wird, ist noch unklar. Sicher ist nur, dass sie beachtlich sein werden.

Volker Perthes, © Neue Zürcher Zeitung 20 April 2004

Dr. Volker Perthes ist Leiter der Forschungsgruppe Naher/ Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sein jüngstes Buch, "Geheime Gärten. Die neue arabische Welt", erscheint in Kürze in einer neu bearbeiteten Taschenbuchausgabe beim Goldmann-Verlag in München.