Vom Wanderprediger zum Lenker der islamischen Geschichte

Ibn Tūmart gilt als geistiger Begründer der Berber-Dynastie der Almohaden im 12. Jahrhundert. Seine einstigen revolutionären Ideen lösten in den gesamten arabischen Gesellschaften wahre Schockwellen aus, die sich auch gewaltsam entluden. Von Mohamed Yosri

Von Mohamed Yosri

Ibn Tūmart reiste 1106 aus seinem Heimatort Sousse im heutigen Marokko nach Andalusien und später in den islamischen Orient, um sich weiterzubilden und mehr über die Welt zu erfahren. Etwa zwölf Jahre später kehrte der einst einfache junge Mann als Rechtsgelehrter in die karge Wüstenlandschaft von Sousse zurück.

Bei seiner Rückkehr stand der Maghreb an der Schwelle zu einem goldenen Zeitalter. Hier wurden die Grundlagen zu einem großen Reich gelegt, dessen Gründer jener junge Mann mit den grenzenlosen Ambitionen war.

Von Córdoba nach Bagdad

Von Marokko führte Ibn Tūmarts Reise zunächst nach Andalusien, dessen Städte und Dörfer damals als wichtige wissenschaftliche und theologische Zentren galten.

Er machte Station in Córdoba, der antiken Hauptstadt des Kalifats der Umayyaden und Mekka der Wissenschaften. Die Stadt gehörte damals zum Herrschaftsbereich der Berberdynastie der Almoraviden. Dort studierte Tūmart einige Zeit bei renommierten Mentoren, wie dem angesehenen Rechtsgelehrten Ibn Hamdine.

In Córdoba wurde Ibn Tūmart stark von der Revolte des Klerus gegen das Buch Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften des bekannten persischen Theologen Imam al-Ghazali geprägt. Im Zuge dieser Revolte brachte der Klerus unter Leitung von Ibn Hamdine den Almoravidenherrscher Prinz Ali ibn Yusuf dazu, die öffentliche Verbrennung des besagten Buchs in den Straßen von Córdoba anzuordnen.

Dieses Erlebnis hatte offenbar entscheidenden Einfluss auf die intellektuelle Entwicklung von Ibn Tūmart. Er weigerte sich, sein Studium in Andalusien abzuschließen und beschloss, in den islamischen Orient zu gehen, um sich von den dortigen Gelehrten weiter ausbilden zu lassen.

Bildnis Ibn Tūmarts; Quelle: Wikimedia
Muhammad ibn Tūmart wurde 1077 als Mitglied des Masmuda-Stammes in Sousse im äußersten Süden des heutigen Marokko geboren. Er setzte im 11. Und 12. Jahrhundert eine der größten Umwälzungen der islamischen Geschichte in Gang und wurde zum Begründer der Almohaden-Dynastie. Er strebte die Errichtung eines großen islamischen Kalifats an, das alle Länder und Gebiete der Welt umfassen sollte – vom Orient bis zum Okzident.

Im ägyptischen Alexandria besuchte er den Unterricht von Imam Abu Bakr at-Turtushi und studierte dessen Buch Kitāb Sirāj al-Mulūk (Die Lampe der Könige), das sich ausführlich mit Macht, Regierungsführung und der Notwendigkeit zur Gründung eines islamischen Staates auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Gleichheit auseinandersetzte.

Von dessen revolutionären Ideen beeinflusst, ging er auf Pilgerfahrt nach Mekka und von dort aus weiter in die Levante und in den Irak.

In Bagdad traf er sich mit einer Reihe hochrangiger islamischer Gelehrter. Einer von ihnen war Abu Hamid al-Ghazali. Verschiedene historische Quellen bestätigen Al-Ghazalis großen Einfluss auf Ibn Tūmart.

Der Historiker Ibn Abī Zar' al-Fāsī vermerkte in seinem Buch Rawd al-Qirtas, dass Al-Ghazali eines Tages seinen Schüler zur Rezeption seines Buchs Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften im islamischen Westen befragt habe, worauf Ibn Tūmart antwortete, es sei in Córdoba öffentlich verbrannt worden.

Darüber sei Al-Ghazali derart verärgert gewesen, dass er Gott anrief, der Almoravidendynastie ein Ende zu setzen. Ibn Tūmart bat ihn darum, derjenige sein zu dürfen, der seinen Wunsch erfüllt.

Er beendete seine Reise und bereitete sich auf die Rückkehr in seine Heimat vor. Doch der Mann, der in die ferne Stadt Sousse zurückkehren sollte, war jetzt nicht mehr der einfache junge Mann, der vor Jahren die Wüste verlassen hatte.

Rückkehr in den Maghreb

Muhammad ibn Tūmart wurde 1077 als Mitglied des Masmuda-Stammes in Sousse im äußersten Süden des heutigen Marokko geboren. Er genoss zunächst eine einfache Ausbildung.

Maghrebinische Koranausgabe aus dem 13.-14. Jahrhundert, The Chester Beatty Library; Quelle: Wikimedia
Auf den Grundfesten des Korans und der Hadithe: Als Rechtsgelehrter sah Ibn Tūmart die größten Erfolgschancen für die von ihm ausgerufene Revolution darin, sich selbst zum wahren Mahdi zu erklären. Der Mahdi ist nach islamischer Glaubensauffassung ein Nachkomme des Propheten Mohammed, der das Unrecht der Welt besiegen wird.

Dennoch setzte er einige Jahre später eine der größten Umwälzungen der islamischen Geschichte in Gang und wurde zum Begründer eines großen Reiches.

Nach seiner Rückkehr aus dem Irak war Ibn Tūmart beseelt von Revolutionsgedanken und dem Gelübde gegenüber Al-Ghazali. Gleichzeitig wurde er von einem religiösen Spiritualismus getragen, den er mit Herz und Geist verinnerlicht hatte.

Diese drei Faktoren prägten seine spirituelle Haltung und ließen in ihm ein reformistisches Konzept reifen, das auf Bildung, Unterrichtung und Führung beruhte. Später entwickelte sich daraus auch der Einsatz oder zumindest die Duldung von Gewalt zur Durchsetzung des Guten und zur Bekämpfung des Bösen.

Ibn Tūmart strebte die Errichtung eines großen islamischen Kalifats an, das alle Länder und Gebiete der Welt umfassen sollte – vom Orient bis zum Okzident.

Schon auf seiner Reise zurück nach Sousse begann Ibn Tūmart in allen Städten und Dörfern, die er durchquerte, für sein reformistisches Konzept zu werben. Seine Ideen lösten in der gesamten Gesellschaft wahre Schockwellen aus, die sich auch gewaltsam entluden.

Gemeinsam mit seinen Anhängern soll er Geschäfte verwüstet haben, in denen Alkohol verkauft wurde. Er hielt Reden und führte Debatten mit örtlichen Rechtsgelehrten. Die letzte Station war Marrakesch, wo er sich mit Ali ibn Yusuf, dem Emir der Almoravidendynastie, ein Wortgefecht lieferte. Dieser war dafür bekannt, die absolute Deutungshoheit in religiösen Fragen zu beanspruchen.

Aufruf zur Revolution

Während seiner Reise von Marrakesch nach Sousse konnte Ibn Tūmart viele Unterstützer und Anhänger gewinnen, die wiederum schnell eine aktive Rolle in seiner Bewegung übernahmen.

Als Rechtsgelehrter sah er die größten Erfolgschancen für die von ihm ausgerufene Revolution darin, sich selbst zum wahren Mahdi zu erklären. Der Mahdi ist nach islamischer Glaubensauffassung ein Nachkomme des Propheten Mohammed, der das Unrecht der Welt besiegen wird.

Ibn Tūmart verbreitete die Hadithe (Überlieferungen) des Propheten über den erwarteten Mahdi und behauptete, er sei alawitischer Abstammung und Nachkomme der Söhne von Al-Hassan ibn Abi Talib, eines Enkels des Propheten Mohammed.

Dann, im Ramadan des Jahres 1121, erklärte er sich unter Gefährten und Anhängern schließlich zum unfehlbaren Mahdi, wie in den Hadithe des Propheten angekündigt.

In seinem Buch Nazm al-Juman berichtet der marokkanische Gelehrte Ibn al-Qattan von der Ansprache Ibn Tūmarts:

"Gedankt sei Allah, der tut, was Er will, und der richtet, was Er will. Es gibt keine Einwände gegen Seine Weisungen. Es gibt keinen Kommentar zu Seinem Urteil. Gott preise unseren Meister Muhammad, der gute Nachrichten über den Mahdi brachte, der die Erde mit Recht und Gerechtigkeit erfüllen wird, die unter Unterdrückung und Ungerechtigkeit leidet. Gott wird ihn senden, wenn die Wahrheit durch Lüge außer Kraft gesetzt und die Gerechtigkeit durch Ungerechtigkeit abgelöst wird."

Moschee von Tinmal, das langjährige Bergexil Ibn Tūmarts; Foto: Wikimedia
Bollwerk gegen die heranrückenden Almoraviden: Ibn Tūmart zog nach Tinmal, einer befestigten Bergstadt, um seine Truppen ausrüsten zu können, ohne einen Angriff der Almoraviden befürchten zu müssen. In Erinnerung an Ibn Tūmarts langjähriges Bergexil gründete dessen Nachfolger Abd al-Mu'min um 1153/54 die Moschee von Tinmal.

Und weiter: "Sein Platz ist der ferne Maghreb und seine Zeit ist die Endzeit und sein Name ist der Name des Propheten, der von Gott und seinen gnädigen Engeln gepriesen wird. Die Erde ist voller Ungerechtigkeit und Unehrenhaftigkeit. Dies ist die Endzeit, der Name ist der Name, die Abstammung ist die Abstammung, und die Aufgabe ist die Aufgabe."*

Man kann den Tag, an dem Ibn Tūmart verkündete, er sei der angekündigte Mahdi, als den entscheidenden Tag in der Geschichte seiner Bewegung ebenso wie in der Geschichte des Maghreb und der gesamten islamischen Welt sehen. Von diesem Tag an soll Ibn Tūmart die "spirituelle Kleidung [angezogen haben], die er für sich beanspruchte, um die Legitimität und Heiligkeit seines Imamats zu dokumentieren".

Der Treueeid der ihm ergebenen Stämme reichte ihm nicht. In kurzer Zeit bereitete er seine Anhänger aktiv auf die erwartete militärische Konfrontation mit den Almoraviden vor. Er zog nach Tinmal, einer befestigten Bergstadt, um seine Truppen ausrüsten zu können, ohne einen Angriff der Almoraviden befürchten zu müssen.

Seine Anhänger, die sich als Almohaden ("Bekenner der göttlichen Einheit") bezeichneten, unterzog er einem ausgefeilten Ausbildungssystem, das die verpflichtende Teilnahme an Unterrichtungen vorsah. Er schrieb zudem Bücher für die Unterweisung seiner Anhänger, die bekanntesten unter ihnen waren Al-Murshada und A'azz Ma Yutlab.

Ibn Tūmart kämpfte gegen die große Stammesgruppe der Berber-Masmuda, die sich seinem Ruf zunächst widersetzten, sich ihm aber später anschlossen. Seinen Jüngern und Anhängern gegenüber blieb er zeitlebens misstrauisch. So ließ er beispielsweise seine Gefolgschaft ausspähen, um stets über alles informiert zu sein. Dieses Misstrauen gipfelte in einer massiven Säuberungswelle, bei der Tausende hingerichtet wurden.

Erfüllte sich Al-Ghazalis Prophezeiung?

In zahlreichen Schlachten kämpfte Ibn Tūmart gegen die Almoraviden. Seine Armeen konnten viele beeindruckende Siege erringen. Und tatsächlich erfüllte sich die Prophezeiung Al-Ghazalis beinahe.

Doch im Jahr 1129 erlitten die Almohaden in der Schlacht von Al-Buhayra vor den Mauern von Marrakesch eine bittere Niederlage gegen die mit dem Mut der Verzweiflung kämpfenden Almoraviden.

Kurz danach starb Ibn Tūmart im Alter von 50 Jahren in Tinmal. Ihm folgte sein Schüler Abd al-Mu'min nach. Dieser eroberte ein großes Reich, das den Maghreb und Andalusien umfasste und zur ersten Dynastie des Kalifats der Almohaden wurde.

Mohamed Yosri

© Raseef 22

Aus dem Englischen von Peter Lammers

*Zitiert und übersetzt aus "The Dearest Quest: A Biography of Ibn Tūmart" von Wilyam Sharif, 2010, S. 91-92