Zauber am Ende der Welt

Der bildmächtige experimentelle Spielfilm "Tlamess" des tunesischen Regisseurs Ala Eddine Slim lässt zwei Aussteiger zu einer Lebensgemeinschaft in der Wildnis zusammenfinden: ein desillusionierter desertierter Soldat und eine schwangere Frau, die ihrem scheinbar perfekten Leben entflieht. Von Adela Lovric

Von Adela Lovric

Inmitten einer verwüsteten Landschaft jagt eine tunesische Armeeeinheit Terroristen. Die Atmosphäre ist düster, die Tage so stumm wie sinnentleert. Da vertraut sich ein Soldat einem anderen an: "Ich habe die Nase voll! Terrorismus. Das ist doch Blödsinn! Es gibt hier nichts, gar nichts. Wir hungern Menschen aus und töten sie ohne Grund." Der Gedanke verbreitet sich wie ein Virus, das die Protagonisten dazu drängt, ihrer trostlosen Realität irgendwie zu entfliehen.

Als der junge Soldat S. (Abdullah Miniawy) wegen des Todes seiner Mutter Heimaturlaub erhält, ergreift er die Gelegenheit und desertiert. Doch die Behörden kommen ihm auf die Schliche und nehmen ihn fest. In seiner Verzweiflung flieht S. erneut – diesmal völlig nackt, als wolle er den letzten Rest seiner Identität und seiner gesellschaftlichen Zugehörigkeit ablegen. Wie ein wundes Tier schleppt er sich durch verwüstetes Ödland in einen dunklen Wald. Es scheint, als steigere er sich in den Wahnsinn hinein.

Unter langen, dunklen und beeindruckenden Aufnahmen aus einer Drohne über einer nächtlichen Stadtlandschaft und in den Wäldern blendet der erste Teil des Films ab und suggeriert damit ein bedrohliches, apokalyptisches Ende. Doch das Gegenteil folgt.

Stille Revolution in einem geheimnisvollen Wald

Im deutlichen Unterschied zur hereinbrechenden Dunkelheit beginnt der zweite Teil des Films mit hellen Pastellfarben. F. (Souhir Ben Amara), eine junge werdende Mutter, zieht um in ein neues Haus. Ihre Wirklichkeit – ein reicher Ehemann, ein luxuriöses Haus auf dem Land und die baldige Ankunft ihres  Kindes – verkörpert den mutmaßlichen Traum vieler Frauen. Doch trotz ihrer scheinbaren Privilegien kann F. ihr Missfallen an ihrem letztlich sinnentleerten Leben nicht hinter der schönen Fassade verbergen.

Eines Tages streift F. ziellos im Wald umher. Dies ist der Ort, an dem S. einst verschwand. Und hier prallen beide Geschichten unvermittelt aufeinander. F. wird zur Geisel von S. Dieser ist mittlerweile zu einem zerzausten bärtigen Einsiedler geworden, der in einem höhlenartigen Unterschlupf lebt. Nach anfänglichem Widerstand von F. gehen beide eine Lebensgemeinschaft ein und halten sich mit primitivsten Mitteln über Wasser, während sie die Geburt des Kindes erwarten.

S. und F. lösen sich allmählich von ihren auferlegten gesellschaftlichen Rollen und finden zu einer neuen Lebensform. In einer ungewöhnlichen Dekonstruktion der Geschlechterrollen befreien sie sich von den Zwängen einer traditionell verordneten Männlichkeit und Weiblichkeit.

Telepathische Kommunikation

Sprache als weiteres Identitätsmerkmal und Instrument der Repression wird hinfällig. Beide kommunizieren fortan telepathisch – durch Blickkontakt. Auch wenn ihr Leben zunächst sehr unterschiedlich verlief, so spiegelt es in beiden Fällen die gleiche Perfidie. Das ist der Grund, warum sie einander so gut verstehen – auch ohne Worte – und warum sie diesen verzweifelten Schritt zusammen unternehmen.

Indem Slim seine Protagonisten dazu bringt, sich für die Freiheit zu entscheiden, stellt er sich entschieden gegen die heutige gewalttätige gesellschaftspolitische Wirklichkeit.

Während er den Ausbruch aus autoritären Konstrukten schildert – nämlich einerseits aus dem Militär und andererseits aus der patriarchalischen Familie –, versucht er, sich von den üblichen Parametern der cineastischen Bausteine zu lösen: Der Regisseur stellt hier seine idiosynkratische Vision als Phantasma einer wiedergeborenen Zivilisation dar. Eine Anspielung auf die biblische Schöpfungsgeschichte, auf eine neue Art von Adam und Eva in den üppigen Gärten von Eden oder irgendeinem vergleichbaren Ort.

Kapitalismuskritik und dystopische Untertöne

Zur Veranschaulichung des Wesentlichen arbeitet Slim im gesamten Film mit einfachen allegorischen Verweisen, wie beispielsweise einer Schlange und einem Apfel, einem getöteten Hund und einer Hündin, die ihre neugeborenen Welpen beschützt. Das uralte mythologische Symbol der Schlange steht für Wiedergeburt, Transformation und Heilung – also für die Prozesse, die beide Hauptfiguren durchlaufen. Die Schlange wird als Vermittlerin von gegensätzlichen Kräften gesehen.

Dies ist die Dynamik, um die sich die Struktur des Films dreht. Auch symbolisiert sie die Nabelschnur, die alle Menschen mit Mutter Erde verbindet. Doch das Gefühl, das den Film durchzieht, ist weitaus dystopischer und komplexer als die Idee einer bloßen Rückkehr zur Natur.

Dank der Musik, die hier anstelle des Erzählers tritt, kommt der Film ohne Dialoge aus. Die melancholisch summende Textur des Soundtracks der Gruppe Oiseaux-Tempête verstärkt die dystopischen Untertöne und weckt Emotionen und Erwartungen. Durch die Alben der französischen Musiker zieht sich Kapitalismuskritik wie ein roter Faden. Es ist der Versuch, Gewalt und Verunsicherung, aus der sich Unzufriedenheit und Aufstände speisen, Ausdruck zu verleihen. Slims Film kann man als eine Weiterentwicklung dieser Arbeit verstehen.

Ein Appell gegen den Zwang traditioneller Strukturen

Eine brillante Wahl des Regisseurs ist die Besetzung von Abdullah Miniawy als S. Miniawy ist ein gefeierter 25-jähriger Dichter und Musiker, der den Revolutionären und Freiheitskämpfern Ägyptens eine Stimme verlieh und für die leidenschaftliche Jugend des Landes steht. Neben der Verpflichtung von Mitarbeitern, deren Leben und künstlerisches Engagement mit der Erzählung und dem Ethos des Films in Einklang stehen, nutzte der Regisseur auch seine eigene Erfahrung in der Armee für die Inszenierung dieser rebellischen filmischen Reise.

Slim ist ein Filmemacher, der es versteht, eine unverbrauchte, einzigartige und mitreißende filmische Perspektive auf das heutige Tunesien zu vermitteln. Sein ergreifender Erstlingsfilm "The Last of Us" (2016) folgt einem jungen Mann bei seinem Versuch, aus Tunesien mit einem Boot über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen.

Mit "Tlamess" (dt. "Verzauberung") gelingt es dem Regisseur erneut, die Ängste unserer Zeit aufzugreifen und eine besondere Schönheit in der Unwirtlichkeit zu entwickeln und ein Quäntchen Sinn im Chaos zu schaffen. Dies ist ein Film, der den Zeitgeist der Jahrtausendwende veranschaulicht. Ein Appell gegen den Zwang traditioneller Strukturen, deren Zerstörungskraft und Sinnlosigkeit einen Wendepunkt erreicht haben.

Adela Lovric

© Qantara.de 2020

Aus dem Englischen von Peter Lammers