Erbarmungslose Justiz

Dogan Akhanli wurde zwar seit gestern aus seiner Gefängniszelle in Istanbul entlassen, doch die dramatische Geschichte seiner Inhaftierung liest sich wie eine Parabel auf die absurde Grausamkeit der türkischen Justiz. Von Kai Strittmatter

Dogan Akhanli; Foto: Wikimedia Commons
"Sibirien nennen sie den Zellenblock im Metris-Gefängnis, in den Akhanli gebracht wird. Es ist derselbe Block, in dem er schon vor 24 Jahren einsaß, vor seiner Flucht aus dem Land, das ihn eingekerkert und gefoltert hatte", schreibt Strittmatter.

​​ Es ist der 10. August 2010. Der Schriftsteller Dogan Akhanli, deutscher Staatsbürger, wohnhaft in Köln, ist wieder in Istanbul. Zum ersten Mal seit beinahe fast 20 Jahren. Zum ersten Mal seit seiner Flucht. Die Türkei ist seine alte Heimat. Hier kam er zur Welt, hier lebt sein Vater, 87 Jahre alt.

Der Vater hat nicht mehr lange zu leben, ihn möchte er noch einmal sehen. Dogan Akhanli kennt das Risiko, er verlangsamt seinen Schritt. Passkontrolle. Später macht er diese Aufzeichnungen, gibt ihnen die Überschrift "Sibirien":

"Dogan Bey, haben Sie auch Ihren türkischen Ausweis dabei?", fragt mich der Beamte. "Nein. Ich bin deutscher Staatsbürger. Aus der türkischen Staatsbürgerschaft hat man mich rausgeworfen." - "Nein, efendim. So etwas gibt es nicht. Man wird nicht aus der Staatsbürgerschaft rausgeworfen." - "Ich schon. Offiziell. Mit dem Urteil des Ministerrats. Vor 12 Jahren." - "Unmöglich. Das nennt man nicht Rauswurf, sondern Verlust, Verlust der Staatsbürgerschaft. Wie Geld. Wirft man Geld raus? Man verliert es. Genauso. Werfen Sie Ihr Geld raus? Nein. Sie verlieren es. Sie werden Ihre Staatsbürgerschaft verloren haben. Sind Sie dann und dann geboren?" - "Ja." - "Und Sie stammen von da und da?" - "Ja." - "Dann müssen Sie mit uns kommen. Es liegt ein Haftbefehl gegen Sie vor."

Anklage: Versuchter Umsturz

Sibirien nennen sie den Zellenblock im Metris-Gefängnis, in den Akhanli gebracht wird. Es ist derselbe Block, in dem er schon vor 24 Jahren einsaß, vor seiner Flucht aus dem Land, das ihn eingekerkert und gefoltert hatte. "Schöne Idee", schrieb seine deutsche Lebensgefährtin Ulla Kux damals, "eigentlich mag er Witze".

Mit zwei, drei Tagen Haft hatte Dogan Akhanli gerechnet, ähnlich war es anderen politischen Flüchtlingen ergangen, die die Heimkehr gewagt hatten. Dann, so glaubte er, würden sie ihn freilassen. Vier Monate später ist Dogan Akhanli noch immer nicht frei. Er sitzt im Hochsicherheitsgefängnis von Tekirdag. Am 8. Dezember beginnt sein Prozess. Die Anklage: Raubüberfall mit Todesfolge. Und versuchter Umsturz.

Ungläubiges Staunen bis heute bei Freunden, Anwälten, Journalisten. Nicht über Dogan Akhanli, sondern über die türkische Justiz. Verteidiger Haydar Erol sagt, auf die Anklagebank gehöre hier nicht Dogan Akhanli: "Da gehören die Polizisten, die Staatsanwälte und die Richter hin."

Und Ulla Kux erzählt leise, wie sie morgens beim Aufwachen, immer wieder von neuem überrascht sei. "Es fehlt einem die Phantasie für die Art und Weise, wie die sich über alle Regeln hinwegsetzen. Man sagt sich immer wieder: Das können die doch gar nicht!" Können sie doch.

Zweifelhafte Zeugenaussagen

Die Staatsanwaltschaft wirft Akhanli vor, 1989 an einem Überfall auf eine Istanbuler Wechselstube beteiligt gewesen zu sein. Bei dem Überfall wurde ein Mensch getötet. Die Polizei versuchte schnell, den Überfall als das Werk linksradikaler Gruppen darzustellen. Akhanli wurde erstmals drei Jahre nach der Tat mit dem Überfall in Verbindung gebracht.

Deutscher und türkischer Pass; Foto: dpa
"Dogan Bey, haben Sie auch Ihren türkischen Ausweis dabei?", fragt mich der Beamte. "Nein. Ich bin deutscher Staatsbürger. Aus der türkischen Staatsbürgerschaft hat man mich rausgeworfen. Mit dem Urteil des Ministerrats. Vor 12 Jahren", notiert Akhanli nach seiner Einreise.

​​ Bloß: Die Aussage des ersten Zeugen, die die Vorwürfe gegen Akhanli ins Rollen brachten, hatte die Polizei 1992 unter Folter erpresst - der Zeuge hat sie längst widerrufen. "Die Polizei hat mich schwerer Folter ausgesetzt", heißt es in dem schriftlichen Widerruf. Akhanli habe er damals nur deshalb als Täter angegeben, "weil ich wusste, dass er im Ausland war". Also in Sicherheit.

Mehr noch, auch die anderen Hauptbelastungszeugen haben ihre Aussage zurückgezogen: die Söhne des Opfers, die den Überfall 1989 miterlebten. "Klar und deutlich" erkläre er, schreibt Zeuge Mustafa Tutum an das Gericht, dass Dogan Akhanli "keine der Personen ist, die an dem Überfall beteiligt waren".

Die Behauptung in der Anklageschrift, er habe Akhanli nach der Tat auf einem Foto identifiziert, nennt er falsch. Seine Erklärung endet mit der Bitte, "die wahren Schuldigen" für den Tod seines Vaters zu finden.

Politische Motivation

Das Erstaunliche: Staatsanwalt Hüseyin Ayar weigerte sich mehrfach, die Aussagen der Zeugen zu den Akten zu nehmen. Weshalb die Richter drei Haftbeschwerden ablehnten.

"Juristisch ist diese Anklage längst in sich zusammen gefallen", sagt Ilias Uyar, der deutsche Anwalt Akhanlis. "Aber die Klage ist politisch motiviert. Wir dringen mit unseren juristischen Instrumenten nicht mehr durch." Es klingt ohnmächtig, ratlos.

Den Tag, da es ihm nicht mehr möglich war, "meinen Frieden mit dem Staat zu schließen", kann Dogan Akhanli genau benennen: Er war 18, kaufte eine linke Zeitung am Kiosk - und landete dafür das erste Mal im Gefängnis. Nach dem Militärputsch ging der Lehrersohn in den Untergrund.

1985 wurde er erneut verhaftet, gemeinsam mit seiner Frau Ayse und dem 16 Monate alten Sohn. Vor den Augen des Kindes seien sie damals gefoltert worden, erzählt Akhanli später. Nach der Freilassung, schreibt er später, "waren wir drei unter dem Erlebten brotkrumenklein geworden".

Voller Widersprüche

Von den orthodoxen kommunistischen Genossen sagt sich Akhanli bald los, aber die Justiz verfolgte ihn weiter. 1991 flieht die Familie nach Deutschland. Erst dort beginnt Akhanli mit dem Schreiben und mit der Menschenrechtsarbeit. Er schreibt Bücher "über das Erinnern und über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit" (so die liberale Zeitung Radikal). Bücher, die auch in der Türkei verlegt werden.

Cengiz Candar; Foto: DW
Die Justiz sei für die Türkei "zerstörerischer als alle Wikileaks-Enthüllungen", schreibt der liberale Kolumnist Cengiz Candar.

​​ In dem 1999 erschienenen Roman "Die Richter des jüngsten Gerichtes" beschäftigt er sich als einer der ersten türkischen Autoren mit dem Völkermord an den Armeniern 1915/15. "Der letzte Traum der Madonna" wird 2005 unter die fünf besten Romane des Jahres gewählt.

2008 traut Akhanli seinen Augen kaum, als er auf der Frankfurter Buchmesse in einer Broschüre der türkischen Regierung über zeitgenössische türkische Autoren sein Foto, seinen Namen und seine Werke wiederfindet: Ein Jahrzehnt zuvor hatte die Türkei ihn ausgebürgert. Ja, so seien sie, sagte er seiner Lebensgefährtin: manchmal etwas unverschämt. Immer voller Widersprüche.

Eigentlich ist die Türkei heute so frei wie nie zuvor. Über die Vernichtung der Armenier schreiben nun auch andere. Ohne dass sie vor Gericht gestellt werden. Die autoritären Kräfte sind auf dem Rückzug. Aber noch haben sie starke Bastionen, die stärksten in Armee und Justiz. Hier ist der Geist des Militärputsches vom 12. September 1980 noch nicht vertrieben. "Der nie enden wollende 12. September", ist ein Artikel in Radikal über Akhanli überschrieben.

Schweigen vor Gericht

Werden hier Rechnungen beglichen mit einem alten Feind, der nicht stillhält? Die Justiz sei "erbarmungslos" und für die Türkei "zerstörerischer als alle Wikileaks-Enthüllungen", schrieb am Mittwoch der liberale Kolumnist Cengiz Candar. Was die türkische Justiz Akhanli und seinem Vater angetan habe, sei eine "Gräueltat".

Ulla Kux durfte Dogan Akhanli am Donnerstag vor einer Woche zuletzt besuchen. Hernach berichtete sie der SZ froh, ihr Freund habe "den Kopf oben". Er werde gut behandelt und sei "verhalten optimistisch". "Und wenn er freikommt, dann bucht er sofort einen Flug, um den Vater zu besuchen!"

Am Samstag flog Kux nach Deutschland zurück. Zuhause im Briefkasten fand sie eine Karte, die ihr Akhanli aus der Zelle geschrieben hatte. "Da hieß es: 'Ich schreibe meinem Vater jeden Tag, aber ich schicke die Briefe nie los. Ich will sie ihm selbst aushändigen'."

Ein paar Minuten später, in der Wohnung, erfuhr Kux: Der kranke Vater, der versprochen hatte, er werde den Tod warten lassen, bis er den Sohn, wiedersehen dürfe, war soeben gestorben. "Das", sagt Kux, "ist unverzeihlich." Dogan Akhanli, berichtet sein Freund und Anwalt Haydar Erol, wolle vor Gericht nun schweigen. Nicht einmal seinen Namen werde er aussprechen.

Kai Strittmatter

© Süddeutsche Zeitung 2010

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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