Keine Zauberformel für den demokratischen Wandel

Paul Salem, Direktor des Carnegie Middle East Center in Beirut, ist der Auffassung, dass sich aus den weltweiten historischen Erfahrungen mit demokratischen Transformationsprozessen keine fertigen Konzepte für den Übergang von autoritären zu demokratischen Systemen in der arabischen Welt ableiten lassen.

Von Paul Salem

Zwar hat der Arabische Frühling die Regierungen in der Region völlig überrumpelt, doch stand eigentlich zu erwarten, dass die weltweite Welle der Demokratisierung letztlich zwangsläufig auch die arabische Welt erreichen musste. In den letzten 200 Jahren nämlich ist die Demokratie ja in allen Teilen der Welt heimisch geworden, womit sich eine kurze Darstellung der verschiedenen Erfahrungen mit Demokratisierung geradezu aufdrängt. Welche Umstände haben sie begünstigt, welche dagegen eher behindert?

In der Moderne hat sich die Demokratie immer wieder wellenförmig ausgebreitet, ganz so wie es sich jüngst auch in der arabischen Welt beobachten lässt. Die erste Welle folgte auf die amerikanische und französische Revolution, als im 19. Jahrhundert, insbesondere nach dem "europäischen Frühling" von 1848, sowohl in Europa als auch in Amerika eine Ära der Demokratisierung anbrach.

Ausschnitt aus Eugene Delacroix: Die Freiheit führt das Volk, Julirevolution 1830; Foto: dpa/picture-alliance
Startschuss für den Aufbruch in die Moderne: "Die erste Demokratie-Welle folgte auf die amerikanische und französische Revolution, als im 19. Jahrhundert, insbesondere nach dem "europäischen Frühling" von 1848, eine Ära der Demokratisierung anbrach", so Paul Salem.

​​Anfang der 1920er Jahre waren weltweit immerhin schon 29 Demokratien zu verzeichnen. Doch durch den dann aufkommenden Kommunismus und Faschismus wurde diese Welle so weit zurückgedrängt, dass 1942 nur mehr 12 demokratische Länder verblieben.

Eine globale Demokratie-Welle

Eine zweite Demokratie-Welle ergriff nach dem Zweiten Weltkrieg parallel zur Re-Demokratisierung Westeuropas nun auch Japan, Indien sowie einige entkolonialisierte Staaten. So lag die Zahl der demokratischen Staaten weltweit bald wieder bei 36.

Eine dritte Welle nahm ihren Ausgang Anfang der 1970er Jahre mit dem demokratischen Wandel in Südeuropa (Spanien, Portugal, Griechenland) und Brasilien, dem sich andere Länder Mittel- und Südamerikas anschlossen, was die Zahl der Demokratien schlagartig auf 60 steigen ließ.

Durch den Zerfall der Sowjetunion und den Fall der Berliner Mauer 1989 konnte sich diese Welle noch weiter ausbreiten, so dass innerhalb weniger Jahre fast ganz Mittel- und Osteuropa – einschließlich Russland – einen demokratischen Umbruch vollzogen hatten. Zeitgleich wurden auch in vielen subsaharischen Staaten autokratische Herrscher gestürzt und ein demokratischer Kurs eingeschlagen. Damit ergab sich zum ersten Mal in der Geschichte eine weltweite Mehrheit demokratischer Staaten, nämlich 117 von 191.

Der Arabische Frühling hat nun in diesem Jahr den Vormarsch der Demokratie erneut vorangetrieben. Er hat gezeigt, dass der Kampf für politische und soziale Rechte kein künstlich oktroyiertes, westliches Konzept ist, sondern genuiner Bestandteil des natürlichen Verlaufs der Geschichte der Menschheit.

Aus einer Rückschau auf die wissenschaftliche Literatur zu Demokratisierungsprozessen weltweit lassen sich folgende Anregungen und Schlussfolgerungen ziehen:

Erstens: Der Sturz eines autokratischen Regimes bedeutet nicht unmittelbar, dass damit eine Demokratie geschaffen wird, gelang doch zahlreichen Ländern Ersteres nur, um in der Folge in Bürgerkriegen zu versinken, zu sogenannten "gescheiterten Staaten" zu zerfallen oder anstelle der alten Diktatur lediglich eine neue zu etablieren.

Lateinamerika, Europa, Afrika, ja selbst die arabischen Staaten haben bereits in der Vergangenheit immer wieder erste Ansätze zur Demokratisierung erlebt, wo sich die neuen demokratischen Regierungen letztlich als zu schwach erwiesen, um die gewaltigen Herausforderungen zu meistern, und zusammenbrachen. Ein solches Risiko besteht derzeit beispielsweise in Libyen, im Jemen und in Syrien.

Zweitens: Der Art der präexistenten politischen und sozioökonomischen Strukturen kommt zwar große Bedeutung zu, noch wichtiger jedoch ist der nationale Zusammenhalt.

Mustafa Abdul Jalil, der Vorsitzende des libyschen Übergangsrates in Tripolis; Foto: picture-alliance/dpa spricht
Schwere Ausgangsbedingungen für einen demokratischen Wandel in Libyen: "Die arabischen Staaten haben bereits in der Vergangenheit immer wieder erste Ansätze zur Demokratisierung erlebt, wo sich die neuen demokratischen Regierungen letztlich als zu schwach erwiesen", so Salem.

​​Schließlich ist Demokratie die Herrschaft des Volkes – und wenn keine Einigkeit darüber herrscht, wer denn dieses "Volk" sein soll, dann wird sich eine stabile Demokratie nur äußerst schwer errichten lassen. So hat im Libanon und im Irak ein nur schwacher nationaler Zusammenhalt der demokratischen Entwicklung entgegengewirkt und könnte in ähnlicher Weise auch die demokratischen Vorhaben in Ägypten, in Libyen, im Jemen sowie in Syrien gefährden.

Bedingungen für eine demokratische Transition

Über diesen nationalen Zusammenhalt hinaus erfordert eine stabile Demokratie allerdings auch ein Erbe an verfassungsrechtlichen Traditionen, gewählte Staatsorgane, politischen Pluralismus, eine funktionierende Bürokratie, eine institutionalisierte staatliche Gewalt, eine lebendige Zivilgesellschaft, eine real existierende Judikative, eine freie Presse und Institutionen einer zugleich freien und gesetzlich geregelten Wirtschaft. In Ländern, in denen viele dieser Voraussetzungen gegeben waren, gestaltete sich der demokratische Übergangsprozess wesentlich unproblematischer als in Ländern, denen eine derartige Grundlage fehlte.

Beispielsweise verfügte Spanien in den letzten Jahren der Franco-Herrschaft bereits über viele der genannten Voraussetzungen, so dass bei dessen Tod lediglich noch die reale politische Macht in die Hände eines gewählten Amtsträgers zu übergeben war. Im Rumänien Ceausescus dagegen war beim Sturz des Diktators nichts dergleichen ausgebildet. In der arabischen Welt sind in Ägypten und Tunesien mittlerweile eine ganze Reihe der erwähnten Voraussetzungen gegeben, während sie in Libyen wiederum völlig fehlen.

Drittens: Auch die Art und Weise, auf die das frühere Regime zu Fall kommt und der demokratische Wandel eingeleitet wird, spielen eine Rolle. Ergibt sich der Wandel aus einer regime-internen Entscheidung (wie es in Brasilien, Portugal, Spanien und Griechenland der Fall war), so geht die Transition meist reibungsloser vonstatten und ist beständiger.

Im Arabischen Frühling haben wir zwar nicht genau dies, aber immerhin etwas Ähnliches erlebt. Als nämlich die Aufstände in Ägypten und Tunesien ausbrachen, begriffen die jeweiligen Armeen rasch, dass es nun an der Zeit und im wohlverstanden Eigeninteresse war, der Diktatur den Garaus zu machen, um so Teil des Transformationsprozesses zu werden, anstatt von diesem überrollt zu werden.

Obwohl dadurch natürlich einerseits ein gewisses Maß an Sicherheit und Stabilität gewährleistet ist, besteht jedoch andererseits das Risiko, dass der demokratische Wandel selbst gefährdet ist, weil das Militär in der Folge auf einem eigenen Anteil an der politischen Macht besteht und sich gegen dessen demokratische Kontrolle sträuben könnte.

Einheiten der Freien Syrischen Armee in einem Vorort von Damaskus; Foto: AP
Aufstand mit ungewissem Ausgang: Der bewaffnete Konflikt mit dem Assad-Regime in Syrien währt inzwischen 14 Monate. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind bislang mindestens 9.000 Menschen ums Leben gekommen.

​​Die Erfahrungen weltweit lehren auch, dass in den Fällen wiederum, wo ein Volksaufstand den Wandel bringt, sehr viel davon abhängt, ob die Revolte friedlich oder bewaffnet stattfand und ob die Revolutionäre geeint waren oder sehr gespalten.

In Fällen friedlicher Umstürze wie in den meisten Ländern Lateinamerikas, Osteuropas sowie auf den Philippinen war der folgende Demokratisierungsprozess nachhaltiger, insofern das staatliche Gewaltmonopol intakt blieb und somit Gewalt aus dem politischen Leben herausgehalten werden konnte. In Fällen dagegen, wo der Wandel mit Waffengewalt erzwungen wurde, wie in Costa Rica, Bolivien oder auch in Castros Kuba, führte dies dazu, dass die neuen herrschende Eliten sich zum Machterhalt ganz auf Waffengewalt stützen mussten.

Der Vorzug parlamentarischer Regierungssysteme

Zwar muss dies nicht zwangsläufig so erfolgen, doch sollten in Hinblick auf Libyen, wo der Aufstand ja bewaffnet war, oder auch Syrien, zumindest die Alarmglocken schrillen. Und wo der Aufstand gleichzeitig bewaffnet und zersplittert vonstatten geht, wie etwa im heutigen Irak, sind natürlich auch die Risiken ganz besonders groß.

Viertens: Eine besondere Bedeutung kommt dem Erfolg oder dem Scheitern einer neuen Verfassung oder der Durchführung freier und fairer Wahlen zu.

Die Erfahrungen lehren, dass die Mechanismen, die zu einer Neugestaltung bzw. Änderung einer Verfassung führen, fast ebenso bedeutsam sind wie deren Inhalt. Für den Fall der Änderung bedeutet dies konkret, dass selbst die besten Verfassungen keine Legitimität haben und damit ihrer Rolle als das politische Leben ordnende Grundgesetz nicht gerecht werden können, wenn sie nicht das Ergebnis umfassender Konsultationen sind und sich auf eine breite Akzeptanz der Bevölkerung stützen.

Bezüglich des Inhalts lässt sich festhalten, dass die meisten Länder in der ersten Zeit nach der unmittelbaren Übergangsphase für parlamentarische Regierungssysteme optieren. Dies trifft beispielsweise auf die meisten Länder Mittel- und Osteuropas zu, die aus dem kommunistischen Totalitarismus heraus den Weg in die Demokratie fanden.

Dies ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass sich in einem parlamentarischen System die meisten Parteien eingebunden sind, während in einem präsidialen System die Gefahr der erneuten Machtkonzentration besteht, so dass schließlich viele Parteien den Eindruck gewinnen, wieder ausgeschlossen und marginalisiert zu werden. Womit nun nicht gesagt sein soll, dass präsidiale Systeme gar nicht in der Lage wären, Transformationsprozesse zu befördern, jedoch müssen sie dazu ganz besondere Anstrengungen unternehmen, die verschiedensten Parteien an der Regierungsverantwortung zu beteiligen.

Ägypterinnen bei der Stimmabgabe während der Parlamentswahl; Foto: AP/dapd
Wahlen als Indikator für den demokratischen Wandel: In Ägypten fanden Ende November 2011 die ersten freien Parlamentswahlen seit Jahrzehnten statt.

​​Was die Wahlen angeht, so zeigen die Erfahrungen, dass deren konkrete Durchführung ebenso wichtig ist wie das Wahlsystem selbst. Es kommt zum Beispiel nicht selten vor, dass Wahlen an sich für das betreffende Land keine Neuheit darstellen – viele autokratische Regierungen in der arabischen Welt und andernorts haben wiederholt Wahlen abgehalten. Die Bedeutung dieser neuen Wahlen liegt aber nun darin, dass sie fair und frei unter Aufsicht einer neutralen, vertrauenswürdigen Instanz stattfinden, auf korrekten Wählerlisten basieren und zu transparent auszählbaren Ergebnissen führen müssen.

Kein demokratischer Königsweg

Inpunkto Wahlsystem ist hinzuzufügen, dass die meisten post-transitionalen Länder dem Verhältnis- gegenüber dem Mehrheitswahlrecht den Vorzug gegeben haben. Dort hatte nämlich die Gesellschaft in der Vergangenheit nicht die Möglichkeit, sich politisch zu organisieren, wohingegen das frühere Regime jahrzehntelang seine Macht und Unterstützerbasis durch Klientelverhältnisse ausbauen konnte. In einer solchen Situation ermöglicht ein Proporzwahlsystem erst die volle Entfaltung des politischen Lebens und integriert des Weiteren die Gesellschaft sehr viel weitgehender in die Institutionen des neuen demokratischen Staates.

Zusammengefasst lassen sich aus den weltweiten Erfahrungen also keine fertigen Konzepte oder Zauberformeln für den Übergang von der Autokratie zur Demokratie ableiten. Sie unterstreichen jedoch die Bedeutung des nationalen Zusammenhalts, der Entwicklung politischer, ziviler, medialer und wirtschaftlicher Institutionen.

Die Geschichte der demokratischen Entwicklungen weltweit lässt hoffen, dass der "Wind des Wandels" tatsächlich genau in die Richtung weht, die sich unsere Völker auch wünschen. Die Erfahrungen anderer sind immerhin ein ermutigendes Beispiel, sich an ihnen zu messen oder, wo immer angebracht, daraus zu lernen. Es sollte uns doch stolz machen, dass unsere arabischen Völker heute weltweit aktiv sind, die weitere Demokratisierung und Achtung der Menschrechte voranzutreiben und nicht mehr länger nur, wie in den vergangenen Jahrzehnten, aus der Ferne zuschauen.

Paul Salem

Aus dem Arabischen von Nicola Abbas

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de