Der große Seher des arabischen Kinos

Besessen, streitbar, aber künstlerisch und thematisch seiner Zeit weit voraus: Christopher Resch ergründet, warum der ägyptische Regisseur Youssef Chahine bis heute als Vorbild für die aufstrebende arabische Independent-Filmszene gilt.

Von Christopher Resch

Vor fast genau 50 Jahren drückt sich ein humpelnder Zeitungsjunge in den Hallen des Kairoer Hauptbahnhofs herum. Er ist neu in der Stadt, das Dorf liegt hinter ihm, und vor ihm: Pin-up-Girls. Sie schmücken die Wände des Bretterverschlags, in dem er haust. Doch auch diese leicht bekleideten Frauen helfen ihm in seiner verzweifelten Liebe zur Getränkeverkäuferin Hanouma nicht viel. Qenawi heißt die unglückliche Hauptfigur in "Bab al-Hadid" (Kairo Hauptbahnhof, 1958), gespielt vom Regisseur selbst: Youssef Chahine.

Das Berliner Arsenal-Kino hat den Vater des ägyptischen – sogar des arabischen – Kinos soeben in einer Retrospektive gewürdigt. Nicht jeder seiner 44 Filme war im cineastischen Sinne gut. Aber alle seine Filme sind lebhafte Dokumente der ägyptischen Zeitgeschichte. Vor allem deshalb ist das Gesamtwerk dieses 2008 verstorbenen, leidenschaftlichen Filmemachers so wertvoll für die heutige Zeit.

"Ein Besessener"

"Chahine war ein Besessener", sagt Marianne Khoury. "Es gab nur eine ganz schmale Trennlinie zwischen dem Kino und seinem privaten Leben. Alles war miteinander verwoben, sogar seine Familie." Khoury weiß, wovon sie spricht, sie ist Produzentin, Filmemacherin – und Chahines Nichte. Sein Schaffen habe sich angefühlt, wie einem Kult beizutreten.

Youssef Chahine war ein freier Kopf, Zeit seines Lebens ließ er sich äußerst ungern in etwas hineinreden. Das zeigen auch seine Stoffe: Früh thematisierte er die Konflikte zwischen den einfachen Leuten und Vertretern der Oberschicht oder des Staates.

Filmszene "Cairo station"; Quelle: AL-Film Festival in Berlin
Querdenker und Enfant Terrible des arabischen Films: Youssef Chahine war ein freier Kopf, Zeit seines Lebens ließ er sich äußerst ungern in etwas hineinreden. Das zeigen auch seine Stoffe: Früh thematisierte er die Konflikte zwischen den einfachen Leuten und Vertretern der Oberschicht oder des Staates.

Immer wieder leiden seine Figuren unter sexueller Frustration, die zum Brutboden für Brutalität wird, unter dem prekären Leben in der Großstadt oder unter Repression der Polizei. Mehrere Filme lassen sich teilweise wie seherische Vorgriffe auf die Streiks in der ägyptischen Textilindustrie ab 2007 deuten, die letztlich zur Revolution von 2011 führten.

Alexandria… warum?

Ohnehin sind Arbeiterrechte ein häufiges Thema in Chahines Werk: In einer durchaus witzigen Szene in "Iskindereya… leh?" (Alexandria… warum?, 1978) fragt ein Jugendlicher seinen Oberschicht-Papa nach fünf Pfund. "Fünf Pfund? Das ist ja der Lohn von fünf Arbeitern!" Der Sohn erwidert: "Aber die sind unterbezahlt", worauf der Vater meint: "Soso, der Junge denkt, er sei Kommunist."

Am Ende lässt er seinem Sohn natürlich das Geld zustecken, es wird ihm kaum wehtun. "Alexandria… warum?" wurde 1979 mit dem Silbernen Bären der Berlinale ausgezeichnet. Chahines Ruhm war damit endgültig auch weltweit gefestigt.

Internationale Bekanntheit war dem Regisseur immer wichtig. Darauf zielt der Vorwurf ab, er habe stets viel zu sehr nach Frankreich oder in die USA geschielt, und die ägyptischen Massen seien ihm im Grunde egal gewesen. Vor dem Hintergrund seiner filmisch behandelten Themen ein überzogener Vorwurf.

Im Dienste Nassers?

Zutreffender war da schon die Kritik, er habe sich zeitweise von Gamal Abdel Nasser, dem vom Volk zutiefst verehrten ägyptischen Präsidenten von 1954 bis 1970, einspannen lassen: Der Film "Al Nil wal Haya" (Es war einmal… der Nil, 1969) war eine von Nasser beauftragte Koproduktion zwischen der Vereinigten Arabischen Republik und der Sowjetunion.

Dennoch: In seinem ganzen Wesen blieb Youssef Chahine stets unabhängig. Seine Vision vom Kino sei zu persönlich und zu kompromisslos gewesen, um sich dauerhaft instrumentalisieren zu lassen, schreiben die Kuratoren der Arsenal-Retrospektive im Begleitheft.

Die erste Version von "Es war einmal… der Nil" stieß bei den sowjetischen Geldgebern nicht auf Gegenliebe, und auch in der Folge wurden immer wieder Filme zensiert – bis heute stehen sie in vielen arabischen Ländern auf dem Index. Auch deshalb gründete Chahine Anfang der 1970er seine eigene Produktionsfirma, Misr International, die heute von seiner Nichte Marianne Khoury geleitet wird. Das verschaffte dem weiter gereiften Regisseur größere künstlerische Freiheit.

Parodie auf das Mainstream-Kino

"So eine Entwicklung vom Mainstream-Filmemacher bis zum engagierten Autorenfilmer haben nur wenige arabische Regisseure gemacht", beschreibt die Filmwissenschaftlerin Viola Shafik das Werk des ägyptischen Regisseurs. Sein Filmstil parodiere das Mainstream-Kino, beziehe es aber zugleich mit ein. "In diesem hybriden Stil ist er durchaus mit Federico Fellini vergleichbar", sagt Shafik. Fellini gilt als einer der größten Autorenfilmer des 20. Jahrhunderts.

Es ist vor allem die künstlerische Freiheit im Schaffen Chahines, die ihn für heutige arabische Filmemacher als leuchtendes Vorbild erscheinen lässt. Als Knotenpunkt spielt hier das Kairoer Zawya-Kino eine große Rolle, seit seiner Gründung 2014 das erste und vielleicht einzige Arthouse-Kino in Ägypten. Hier werden Werke von Größen wie Chahine, aber auch von weniger bekannten, unabhängigen Filmemachern gezeigt.

Independent-Filme entstanden in Ägypten etwa seit Mitte der 2000er Jahre mit der beginnenden Digitalisierung: Plötzlich konnten junge Regisseure viel günstiger und niederschwelliger Filme drehen. "Diese Entwicklung hat in die Filmlandschaft große Bewegung gebracht, die aber leider nur parallel zur Filmindustrie läuft", sagt Viola Shafik – also weitgehend abgeschnitten von den Finanzierungsmöglichkeiten innerhalb des Landes. Mehr noch als in anderen Weltregionen sind arabische Filmemacher von ausländischen Geldgebern abhängig – und die setzen etwa ihre Themenvorstellungen häufig durch.

Brücken zwischen West und Ost

Einer der letzten Filme von Youssef Chahine war "Al-Massir" (Das Schicksal, 1997). In diesem für ihn untypischen, weil sehr formelhaften Historienfilm zeigt er am Beispiel des im 12. Jahrhundert lebenden Philosophen Ibn Rushd, wie schnell freiheitliches Denken von Intoleranz und Hass bedroht werden kann.

"Er wollte Brücken bauen, auch zwischen West und Ost", sagt Marianne Khoury. Dieses Vereinende erwuchs aus Chahines eigener Biografie. Sein Vater war Libanese, seine Mutter Griechin. Muslime, Juden und Christen, zu letzteren gehören die Chahines, lebten noch recht problemlos zusammen. Seine Geburtsstadt Alexandria galt als kosmopolitisch.

Youssef Chahine, dieser große arabische Regisseur, stand und steht für Weltoffenheit und Toleranz. Sehr früh griff er zum Beispiel Homosexualität auf – bis heute in Ägypten wie in vielen anderen Staaten der Region ein Tabuthema.

Ob die arabischen Gesellschaften bereit sind, einer solchen Pluralität der Identitäten, wie sie Chahine in seinem Werk zeigte, Raum zu geben, ist die große Frage. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Filmemacher ihrer Zeit weit voraus sind. Aber die Realität darf durchaus aufholen.

Christopher Resch

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