Der musikalische Rebell vom Nil

Am 2. Juli 2018 jährt sich der Geburtstag des ägyptischen Protestsängers Sheikh Imam zum 100. Mal. Martina Sabra hat den legendären Künstler in den 1990er Jahren mehrfach besucht und beobachtet, wie er auch viele Jahre nach seinem Tod noch immer in den Straßen Ägyptens präsent ist.

Von Martina Sabra

Februar 2011, auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Inmitten der Menschenmenge trägt die kleine Band "Eskenderella" bekannte ägyptische Protestlieder vor. Junge Medienaktivisten filmen die Auftritte, stellen sie ins Netz, die Fans klicken sie tausendfach an. Besonders beliebt sind die Lieder von Sheikh Imam – und das, obwohl der legendäre Protestsänger zu jenem Zeitpunkt schon über 15 Jahre tot ist und seine großen internationalen Auftritte gemeinsam mit dem Dichter Ahmad Fuad Nigm (verstorben im Dezember 2013) fast 40 Jahre zurückliegen.

Gute Tonaufnahmen von den beiden sind extrem selten – da sie während ihrer gemeinsam Karriere immer wieder inhaftiert und die Lieder immer verboten waren, wurden mit wenigen Ausnahmen nur Amateur-Mitschnitte produziert, die als Tonkassetten auf den Markt kamen. Dennoch scheint die Faszination der Lieder von Sheikh Imam ungebrochen – auch im Jahr 2018, sieben Jahre nach den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz.

Bei privaten Treffen in Nordafrika und dem Nahen Osten kann es passieren, dass jemand plötzlich ein Lied anstimmt wie "Errichte deine Paläste" (Shayyid Qusurak). Darin heißt es: "Errichte deine Paläste auf unseren Äckern! Baue Spielhöllen neben die Fabriken! Und Gefängnisse an Stelle von öffentlichen Parkanlagen! Du kannst uns unseren Schlaf rauben – das macht nichts, denn wir wollten sowieso nicht lange schlafen". Eine 25jährige Studentin aus Marokko summt die Melodie und meint spöttisch: "Klar, das hörten schon meine Großeltern in den 1970er Jahren. Aber was hat sich denn geändert? Nichts. Die Texte passen zu hundert Prozent zu unserer heutigen Situation."

Sheikh Imam während eines privaten Treffens im Jahr 1994 in Kairo; Foto: Martina Sabra
Bis heute populär bei Ägyptens politisch ambitionierter Jugend: Der Oud-Spieler und Sänger Sheikh Imam und der berühmte Dichter Ahmad Fuad Nigm landeten mehrfach im Gefängnis, weil sie in ihren Songs u.a. auch den früheren ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat kritisiert hatten. Ihre Musik wurde auch während des Volksaufstands gegen Mubarak im Jahr 2011 auf vielen Plätzen in Kairo gespielt.

Ärger mit der konservativen Geistlichkeit

Geboren wurde Sheikh Imam Muhammad Issa vor hundert Jahren, am 2. Juli 1918, in einem Dorf bei Kairo. Als er mit vier Monaten erblindete, schickten ihn die Eltern auf die Koranschule, zur Ausbildung als Rezitator. Da er eine starke Stimme hatte, sang er auch bei Familienfeiern.

Als er zwölf Jahre alt wurde, holte ein Onkel den musikalisch talentierten Jungen nach Kairo und schrieb ihn an der Azhar-Universität ein. Fünf Jahre blieb Sheikh Imam dort, er sollte eigentlich Vorbeter werden. Doch dann setzten ihn die konservativen Geistlichen vor die Tür – mutmaßlich, weil er heimlich Radio gehört hatte.

Auf sich allein gestellt, arbeitete Sheikh Imam als Gelegenheitssänger auf Hochzeiten und anderen Familienfesten.

Schnell wurde er in seinem Quartier, dem traditionsreichen Kairoer Viertel Ghouriya bekannt.

Da er als blinder Mensch keine Aussicht auf feste Arbeit und Einkommen hatte, stellten ihm einige Nachbarn und entfernte Verwandte kostenlos eine einfache Bleibe zur Verfügung.

Sheikh Imam brachte sich das Spiel auf der arabischen Laute selbst bei, nahm Unterricht bei dem damals berühmten Komponisten Zakariya Ahmad. Und irgendwann entdeckte auch das Radio den blinden Künstler, sodass er gelegentlich auch im Hörfunk auftrat.

1962 begegnete er schließlich Ahmad Fuad Nigm. Nigm, ein hochbegabter Lyriker und Autodidakt aus ärmlichen Verhältnissen, hatte wegen Protestaktionen gegen Korruption bereits drei Jahre im Gefängnis gesessen.

Der Humor der ägyptischen "Straße"

Die beiden begannen, zusammen aufzutreten: Imam vertonte die Gedichte von Nigm, die zunehmend politischer wurden und die aus mehreren Gründen leicht zu behalten sind: Erstens schrieb Nigm in der ägyptischen Umgangssprache ("amiyya"), zweitens benutzte er  populäre Liedformen wie das "zajal" oder das "mawwal", die jedes ägyptische Kind kennt, und drittens nahm er in vielen seiner Verse Bezug auf ägyptische orale Alltagsliteratur wie Rätsel, Sprichwörter und Kinderlieder.

"Nigms Ausdrucksweise ist einfach und erdig", schrieb der Literaturwissenschaftler Kamal Abdel Malek in seiner bei Brill veröffentlichten englischsprachigen Studie aus dem Jahr 1990, "weil sie im Großen und Ganzen der alltäglichen Umgangssprache entlehnt ist und den Mutterwitz der ägyptischen 'Straße' verkörpert".

Sheikh Imam und Ahmad Fuad Nigm während eines Konzerts in Kairo; Quelle: youtube
Kreativität, Spielwitz und sozialer Protest: Imam und Nigm ließen sich nicht kaufen. Sie sangen gegen Nassers Diktatur, gegen soziale Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Korruption. Als 1968 Tausende Arbeiter und Studierende in Ägypten auf die Straße gingen, und mehr als ein Dutzend von ihnen getötet wurden, stellten sich die beiden hinter die Proteste.

Landesweit bekannt  wurden Imam und Nigm erst nach der Niederlage Ägyptens gegen Israel im Jahr 1967. Sie kritisieren in ihren Liedern die arabische Niederlage und forderten die Rückeroberung des Sinai. Der heftig angeschlagene Diktator Nasser versuchte, die Popularität des Duos für sich zu nutzen und bot ihnen viel Geld für Auftritte im Fernsehen an.

Die Unbestechlichen

Doch Imam und Nigm ließen sich nicht kaufen. Sie sangen gegen Nassers Diktatur, gegen soziale Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Korruption. Als 1968 Tausende Arbeiter und Studierende in Ägypten auf die Straße gingen, und mehr als ein Dutzend von ihnen getötet wurden, stellten sich die beiden hinter die Proteste.

Von da an setzte das Nasser-Regime auf Repression: 1969 wurden Imam und Nigm angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt. 1970 starb Gamal Abdel Nasser. Zwei Jahre später, im Jahr 1972, ließ der neue Präsident Anwar al-Sadat sie frei, doch die Freiheit währt nicht lange, denn Iman und Nigm nahmen sarkastisch Ägyptens wichtigsten Verbündeten aufs Korn – die USA. 1973 landeten Imam, Nigm sowie der Musiker und Maler Mohammed Ali erneut hinter Gittern – und zwar für folgende Zeilen in dem Song "Ich kenne dich, Papa Nixon – Mister Watergate" anlässlich des Nixon-Besuchs am Nil:

"Willkommen, Papa Nixon! Alle arabischen Diktatoren, die Habenichtse und die Ölscheichs, haben dir einen roten Teppich ausgerollt. Ja, sie nennen dich sogar Hadschi, einen frommen Pilger. Kannst dich wie zuhause fühlen, Papa Nixon?".

Musik gegen Willkür und politisches Unrecht

Das Duo Imam-Nigm spielte auch gegen den libanesischen Bürgerkrieg, gegen den israelisch-ägyptischen Friedensschluss von Camp David und für die Rechte der Palästinenser im Nahostkonflikt. Bei ihren Konzerten war oft auch Azza Balbaa mit dabei, eine begabte Sängerin und Schauspielerin.

Ab 1977 konnten Imam und Nigm auch wieder ins Ausland reisen, wo sie Konzerte in der arabischen Welt und in Europa gaben, unter anderem in Frankreich und Deutschland. Doch 1981 kam es zum Bruch. Jahrelang weigert Sheikh Imam sich, die Lieder von Nigm zu singen. Der versuchte sich schließlich als Solokünstler, wenn auch ohne großen Erfolg.  Sheikh Imam verließ das Haus, in dem er viele Jahre gemeinsam mit Ahmad Fuad Nigm gelebt hatte, und zog einige Straßen weiter in einer andere Wohnung, auch wenn er seinem Viertel Hosh Qadam in der Altstadt von Kairo zeitlebens verbunden blieb.

"Islam ist soziale Gerechtigkeit. Punkt"

In seinen letzten Lebensjahren trat Sheikh Imam nur selten auf. Ab und zu nahm er noch Engagements bei privaten Feiern an, doch sein rechter Arm war schwach und er konnte kaum noch die Laute spielen. Frauen aus der Nachbarschaft wuschen seine Wäsche, brachten ihm Essen und halfen ihm, sein bescheidenes Quartier sauber zu halten.

Wenige Jahre vor seinem Tod fand man den blinden Sänger bisweilen tief versunken in Koranrezitationen. Im Alter war der ehemalige Koranschüler wieder gläubiger geworden. Doch Frömmelei und Dogmatismus waren für ihn nach wie vor unakzeptabel. "Islam heißt soziale Gerechtigkeit. Punkt." Das war sein Glaubensbekenntnis. Am 7. Juni 1995 starb Sheikh Imam. Als Musiker und engagierter Mensch lebt er weiter.

Martina Sabra

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