Der richtige König für die falsche Monarchie?

Das politische Dilemma Marokkos besteht darin, dass König Mohammed VI. zwar den Eindruck vermittelt, innenpolitische Reformen anstrengen zu wollen, seine Entourage jedoch dagegen hält, um den gewonnenen Reichtum und Einfluss nicht zu verlieren. Von Mohammed Hashas

Von Mohammed Hashas

Marokko rühmt sich selbst, eine der ältesten Monarchien der Welt zu besitzen. Beachtlich ist, dass es trotz der vielen Unzulänglichkeiten der Monarchie im Verlauf der marokkanischen Geschichte keine Zeit gab, die vergleichbar düster gewesen wäre wie die, die etwa während der absolutistischen Regentschaft Europas an der Tagesordnung war. Der Monarch Marokkos regierte häufig in Absprache mit einem nahezu unabhängigen Gremium von Geistlichen sowie mit Stammesversammlungen in den verschiedenen Regionen des Landes, die als Repräsentanten der Stämme fungierten.

Diese alte Form der Regierungskonsultation verschwand, als sich die Idee des modernen Nationalstaats durchzusetzen begann. Die Unfähigkeit, die alten, lokalen politischen Gebräuche mit den im Kolonialismus entstandenen Strukturen in Übereinstimmung zu bringen, hat zu zwei parallel existierenden politischen Systemen geführt, einem traditionellen und einem modernen. Das macht Marokko zu einer Monarchie mit einer Verfassung, statt zu einer konstitutionellen Monarchie nach dem Modell Großbritanniens, Belgiens oder der skandinavischen Länder.

Der mündige, aber uninformierte Bürger

Die Gesetzgebung lag grundsätzlich nicht in der Hand des Volkes, sondern beim Monarchen, auch wenn bereits seit den 1960er Jahren Wahlen durchgeführt wurden. Im Gegensatz zu den meisten anderen arabischen Ländern entschied sich Marokko seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1956 kontinuierlich für die politische Repräsentation und Partizipation durch lokale und landesweite Wahlen. Einen Bruch dieser Tradition gab es erst in den 1970er Jahren, als das Militär mehrfach vergeblich gegen die Monarchie putschte. Das Wahlrecht wird aber weder durch andere grundlegende Bürgerrechte noch durch allgemeine demokratische Prinzipien gestützt, was es in seiner Substanz wirkungslos macht.

Marokkanische Wählerin bei der Stimmabgabe in Rabat; Foto: dpa/picture-alliance
"Das Wahlrecht in Marokko wird aber weder durch andere grundlegende Bürgerrechte noch durch allgemeine demokratische Prinzipien gestützt, was es in seiner Substanz wirkungslos macht", schreibt Mohammed Hashas.

Im Vergleich zu anderen Ländern der arabischen Welt erfreuen sich die Marokkaner einer beachtlichen Zahl bürgerlicher Freiheiten. Dabei geht es gar nicht in erster Linie um die Frauenrechte, sondern allgemein um Bürgerrechte. Wenn diese Rechte nämlich gleichermaßen von allen beansprucht werden, geht es auch den Frauen besser als es in den Medien für gewöhnlich dargestellt wird, auch wenn sie das "schwächere Geschlecht" sein mögen. Auch wenn einige sozio-kulturelle Kennzeichen es verhindern, dass der Umfang der Meinungsfreiheit zunimmt, so ist es doch das Recht auf Informationen und die politische Bildung, die die Menschen in ihrer politischen Entscheidungsfindung an den Wahlurnen beeinflussen.

Während also der Grad der bürgerlichen Freiheiten durchaus hoch ist, so sind doch die meisten Menschen nur unzureichend informiert. Die hohe Analphabetenrate sorgt dafür, dass die von den Menschen genossenen Freiheiten immer anfällig bleiben, weil sie der ständigen Gefahr von Fehlinformationen ausgesetzt sind, die nicht nur die Wahlergebnisse beeinflussen, sondern auch die Partizipation am grundlegenden Diskurs zur politischen Entwicklung des Landes.

Blockierte rechtstaatliche Prinzipien

Auch leidet Marokko unter der fehlenden Umsetzung rechtstaatlicher Prinzipien. Trotz seiner verschiedenen Verfassungen – einschließlich der heutigen, eigentlich recht vielversprechenden – ist es dem Staat bislang nicht gelungen, die in der Verfassung und verschiedenen Gesetzen verbrieften Aufgaben des Staates mit den Rechten seiner Bürger in Übereinstimmung zu bringen. Es herrscht eine allgemeine Nachlässigkeit, die zu einem Mangel an Verantwortlichkeitsgefühl führt, genauso wie zu Vetternwirtschaft und Korruption in allen Bereichen. All diese Faktoren hemmen natürlich den demokratischen Wandel des Landes.

Proteste der marokkanischen "Bewegung des 20. Februar" in Rabat; Foto: AP
Marokkos "tiefer Staat" regiert mit: In marokko fanden im Juli landesweite Proteste gegen den "Makhzen", Korruption und Vetternwirtschaft sowie für mehr demokratische Teilhabe statt. Jedoch erwies sich der Protest der "Bewegung des 20. Februar" als nicht so nachhaltig wie in anderen Ländern des Arabischen Frühlings.

Zudem kann auch die Justiz des Landes nicht als völlig unabhängige Instanz agieren, wenn sie inmitten eines Kontextes schwach ausgeprägter Rechtstaatlichkeit, Vetternwirtschaft und Korruption wirken muss. Zwar wird derzeit das Projekt einer Reform des Gerichtswesens noch immer diskutiert. Und auch die Proteste der Zivilgesellschaft gegen den Missbrauch von Amtsgewalt haben zugenommen. Jedoch reicht dies noch nicht aus, um einen nachhaltigen Wandel zu induzieren.

Marokkos kooptierte Opposition

Eine weitere strukturelle Schwäche lässt sich in der parteilich organisierten Opposition ausmachen. Charakteristisch ist ihre Uneinigkeit – genau wie die Regierungskoalition auch. In der Zeit vor dem Arabischen Frühling wurde die Opposition von der "Sozialistischen Partei" angeführt, die seit den späten 1950er Jahren für bürgerliche Rechte und die Demokratisierung Marokkos kämpft. Im Jahr 1997 wurde die Partei dann Teil der Regierungskoalition, doch war das Ergebnis dieses Schrittes weder im Sinne der Partei noch ihrer Wählerschaft.

Seit den späten 1990ern bis 2010 übernahm die moderat-islamistische Partei PJD die wichtigste Rolle im Kampf gegen Korruption, wirtschaftliche Stagnation und die schleppende Reform der politischen Institutionen. Vor dem Hintergrund des beginnenden Arabischen Frühlings ging die PJD als Siegerin aus den vorgezogenen Parlamentswahlen vom 25. November 2011 hervor.

Da das Wahlrecht keine Alleinregierung zulässt, war die PJD gezwungen, eine Koalition mit zwei anderen Parteien zu bilden. Diese brach nach zwei Jahren auseinander und eine neue Regierung wurde aus Parteien gebildet, die sich in zurückliegenden Wahlkämpfen erbittert bekämpft hatten. Die so entstandene Koalition diente also in erster Linie dazu, in dieser Übergangsphase das Gesicht des politischen Systems zu wahren.

Generell lässt sich festhalten, dass die Parteien der Opposition bereits mehrfach an der Regierung beteiligt waren, jedoch politisch nur sehr wenig erreichten, was ihrer Stimme innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Opposition entsprechend bis heute wenig Gewicht verleiht.

Der "tiefe Staat" als Demokratie-Blocker

All diese genannten Faktoren werfen ein Schlaglicht auf Marokkos blockierte Demokratie. Auch scheint der Demokratisierungsprozess den als makhzen bekannten "tiefen Staat", der alle Bereiche des Staates durchdringt, erfasst zu haben. Ein eklatantes Wohlstandsgefälle, eine hohe Arbeitslosenrate, Mangel an angemessenem Wohnraum, gravierende Unzulänglichkeiten im öffentlichen Gesundheitssektor, wachsende Probleme im Bildungssystem, ein hoher Grad an Bürokratie und eine, im Vergleich zu regionalen wie internationalen Standards hohe Korruption – all dies sind deutliche Zeichen, dass die seit 1999 in Angriff genommenen Reformen die Strukturen des "tiefen Staates" noch nicht ernsthaft herauszufordern vermochten.

König Mohammed VI.; Foto: Getty Images
"Die entscheidende Frage lautet: Inwieweit können sich die Marokkaner einem reform-orientierten König und einer korrupten Entourage anvertrauen? Werden sie eine solche Monarchie wirklich dauerhaft hinnehmen?"

Dabei bedeutet dies keineswegs, dass das Staatsoberhaupt, König Mohammed VI., kein Demokrat wäre. Das Paradoxon dieses Landes liegt darin, dass, während der König den Eindruck erweckt, über großen Reformeifer zu verfügen, es seine Entourage ist, die an ihrem über die letzten Jahrzehnte gewonnenen Reichtum und Einfluss festhalten will.

Der König ließe sich daher wohl auch treffend als "der richtige König in der falschen Monarchie" bezeichnen – womit der makhzen und seine unverminderte Macht gemeint ist. Die entscheidende Frage lautet also: Inwieweit können sich die Marokkaner einem reform-orientierten König und einer korrupten Entourage anvertrauen? Werden sie eine solche Monarchie wirklich dauerhaft hinnehmen? Wäre der sicherste Pfad auf dem Weg zu einer tatsächlichen Vorbildrolle in Sachen Demokratie nicht, wenn Marokko über wirkungsvolle, Institutionen verfügen würde, die auf rechtsstaatlicher Basis funktionieren? 

Auch die politischen Entwicklungen in der Region und darüber hinaus beeinflussen natürlich den Demokratisierungsprozess in Marokko. Der gescheiterte Machtwechsel in Ägypten, das nach wie vor angespannte bilaterale Verhältnis zu Algerien, der ungeklärte Status der Westsahara, die Komplexität der Lage in Syrien und ihre regionalen wie internationalen Auswirkungen – all diese Faktoren beeinflussen massiv die Wirtschaft des Landes und auch, welches Maß an politischem Wandel Interessengruppen innerhalb wie außerhalb Marokkos zulassen.

Im Lichte dieser verschiedenen inneren wie äußeren Herausforderungen besteht die größte Chance für einen demokratischen Wandel des nordafrikanischen Landes darin, dass der König seine Reform-Agenda weiter vertieft. Dies wird jedoch nur dann geschehen können, wenn er dafür genügend Rückhalt erfährt – und dies sowohl von der Zivilgesellschaft wie auch von denjenigen politischen Parteien, die bereit sind, sich vom makhzen im Interesse des Gemeinwohls zu distanzieren. Der Weg, der vor Marokko liegt, ist noch lang und voller Herausforderungen.

Mohammed Hashas

© ResetDoc 2014

Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de