Algerische Revolution in der Sackgasse

Im Sudan scheint es geschafft: Nach 30 Jahren Repression soll die Zivilbevölkerung die Geschicke des Landes künftig mitbestimmen. Anders in Algerien: Hier demonstriert das Volk seit Monaten vergeblich gegen das Militär. Von Khaled Salameh

Von Khaled Salameh

Sudan und Algerien: In beiden Ländern hatte das Militär die Macht jahrzehntelang fest im Griff. In beiden Ländern hat die Zivilgesellschaft unter der jahrzehntelangen staatlichen Repression enorm gelitten. In beiden Ländern fordern die Menschen Gerechtigkeit und Demokratie. Während im Sudan mittlerweile eine Einigung mit der Armee erzielt werden konnte, dauern die Massenproteste in Algerien immer noch an. Hunderttausende Menschen erobern jeden Freitag die Straßen, um zu zeigen, dass sie auch nach einem halben Jahr nicht aufgegeben haben und weitermachen werden, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Das südafrikanische Institut für Sicherheitsstudien stellte kürzlich fest, dass Demonstranten in Algerien "weit mehr erreicht haben, als Beobachter prognostiziert hatten."

Die wichtigste Errungenschaft der Aufstände war der Rücktritt von Präsident Abdelaziz Bouteflika nach zwanzig Jahren im Amt. Statt sich wie geplant für eine fünfte Amtszeit aufstellen zu lassen, trat er zurück und verzichtete auf eine erneute Kandidatur. Eine ganze Reihe von Politiker und Geschäftsleuten, die seit langem der Korruption verdächtig werden, wurden festgenommen.

Doch seitdem hat die Protestbewegung keine Erfolgserlebnisse mehr zu verzeichnen. Einem echten politischen Neuanfang sind die Algerier nicht nähergekommen. Das Regime um den Algeriens Generalstabschef Ahmed Gaid Salah zeigt sich den Forderungen der Demonstranten gegenüber taub. So plädiert der Armeechef für baldige Präsidentschaftswahlen, die Protestbewegung aber will mit der Wahl warten, bis Gaid Salah und Interimspräsident Abdelkader Bensalah zurückgetreten sind. Das wiederum lehnt das Regime ab.

Armee scheut tiefgreifende Änderungen

Eine Verfassungsdiskussion und tiefgreifende Strukturreformen will das Militär unter allen Umständen verhindern. Stattdessen drängt es darauf, möglichst rasch Neuwahlen abzuhalten. Um diese zu realisieren, wurde im Juli eine "Nationale Dialogkommission" geschaffen. "Wir dürfen keine weitere Zeit verlieren", polterte der 79-jährige Gaid Salah und behauptete, "sämtliche fundamentalen Forderungen" der Demonstranten seien mittlerweile "zur Gänze erfüllt", lediglich die letzte Etappe der Präsidentenwahl sei noch offen. "Irrationale Forderungen", wie etwa die nach einem Rücktritt aller Staatsbeamter, müsse die Protestbewegung aufgeben.

Freitagsproteste in der algerischen Hauptstadt Algier; Foto: picture-alliance/dpa
Gibt es einen Ausweg für die Demonstranten in Algerien aus der festgefahrenen Situation?

Diese wiederum lehnt die geschaffene Dialogkommission ab und beharrt auf der Auflösung eben jenes Machtzirkels, der seit Jahrzehnten mit Ex-Präsident Bouteflika das Land beherrscht hat. Dass es der Volksbewegung bisher nicht gelungen ist, sich eine eigene Führung zu geben, um Forderungen zu präzisieren und an Verhandlungen teilzunehmen, erschwert die Lage. Und so ist die politische Situation sechs Monate nach Beginn der friedlichen Massenproteste in Algerien unhaltbar geworden. 

Der Sudan als Vorbild

Rachid Ouaissa, Leiter des Centrums für Nah- und Mittelost-Studien am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Marburg, sieht für den Stillstand die Armee verantwortlich. Sie sei nicht bereit, ihre Privilegien aufzugeben. Dabei könnte der Weg, den der Sudan gegangen sei, auch für Algerien möglich sein, sagt Ouaissa: "Ein Dialog zwischen der Armee und den Demonstranten, eine Machtteilung in der Übergangsphase, um der Armee die Möglichkeit zu geben, sich schrittweise aus dem politischen Geschehen zurückzuziehen, dann eine Übergangsregierung und schließlich eine Verfassung."

General Abdel Fattah al-Burhan, Chef des Souveränen Rates im Sudan, dem auch Zivilisten angehören; Foto: Imago
General Abdel Fattah al-Burhan, Chef des Souveränen Rates im Sudan, dem auch Zivilisten angehören.

Auch die oppositionelle "Socialist Forces Front" forderte erst vor wenigen Tagen die algerischen Behörden und die Armee auf, sich vom Sudan inspirieren zu lassen, um die gegenwärtige Krise in Algerien zu überwinden. "Das sudanesische Beispiel sollte die Machthaber Algeriens animieren, einen seriösen, inklusiven, transparenten und bedingungslosen Dialog für einen demokratischen Übergang zu eröffnen. Es wurden bereits notwendige Schritte unternommen, um den Erfolg dieses Dialogs sicherzustellen, wie die Freilassung von politischen Gefangenen", heißt es in der Erklärung. 

Unterschiede zum Sudan

Bei aller Vorbildfunktion und allen Gemeinsamkeiten: Es gibt gravierende Unterschiede zwischen dem Sudan und Algerien, konstatiert Ouaissa. So sei die algerische Opposition  "weitaus zerstreuter als ihr sudanesisches Pendant. Die Armee hat es außerdem geschafft, einen Teil der Opposition abzuwerben." Ebenfalls ein Problem sei, dass die algerische Opposition jede Einmischung von außen ablehne. Der sudanesische Durchbruch jedoch gelang nicht ohne ausländische Vermittlung. Die Verhandlungen fanden mit Unterstützung Äthiopiens und der Afrikanischen Union statt.

Ouaissa sieht vor allem grundlegende Unterschiede in der Geschichte und Zusammensetzung der Armeen beider Länder: "Erstens wurde die algerische Armee durch eine Revolution legitimiert. Zweitens ist sie gesellschaftlich sehr präsent."

Anders als der isolierte Sudan unterhalte das algerische Militär außerdem Beziehungen zum Westen und spiele im Mittelmeerraum und in Afrika eine strategisch relevante Rolle, wie beispielsweise in Libyen und Mali. Und es werde von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützt. Die Königreiche am Golf sind nicht gerade als Horte der Demokratie bekannt. Dort dürfte man daher den Ausgang des demokratischen Experiments in Algerien ganz genau beobachten. Denn, davon zeigt sich Ouaissa überzeugt: Ein Erfolg der Demokratie in Algerien würde sich auf den Rest der arabischen Welt definitiv auswirken.

Khaled Salameh

© Deutsche Welle 2019