Der lange Schatten der Diktatur

Der Irak besaß vor Saddam Hussein eine funktionierende Zivilgesellschaft und eine lebhafte Debattenkultur. Auf diese Werte muss man sich wieder besinnen, soll die Demokratie wieder verwurzelt werden, meint Sami Zubaida.

Der Irak besaß in der Zeit vor Saddam Hussein eine funktionierende Zivilgesellschaft und eine lebhafte politische Debattenkultur. Auf diese Werte muss man sich wieder zurück besinnen, soll die Demokratie im wieder verwurzelt werden, meint Sami Zubaida.

Soldat und irakische Fahne; Foto: Collage DW
Können die Stützen der Zivilgesellschaft und ihr politischer Spielraum wieder auferstehen aus dem Chaos und den Ruinen, die das Baath-Regime und die Invasion hinterlassen haben?, fragt Sami Zubaida

​​Ich höre jetzt immer häufiger beiläufige Bemerkungen nach dem Motto: "Was der Irak jetzt braucht, ist ein neuer Saddam." Impliziert wird damit, dass eine solch gespaltene und zerrissene Gesellschaft nicht ohne einen gewalttätigen Autoritarismus regiert werden kann. "Saddam hielt den Deckel drauf", ist ein anderer Satz, der zu hören ist.

Zu diesem Bild gehört, dass der Irak als extremes Beispiel einer nahöstlichen Gesellschaft unfähig sei, sich selbst zu regieren. Er wird bestimmt von religiösen Konflikten und Stammesfehden und ist demokratischen Werten nicht zugänglich; jeder Versuch einer Demokratisierung sei deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Meine Antwort darauf ist, dass die Lage heute keineswegs eine "natürliche" Entwicklung der irakischen Gesellschaft oder der nahöstlichen Gesellschaft insgesamt widerspiegelt, sondern vielmehr das Produkt einer ganz besonderen Geschichte ist. Es waren Regime wie die der Baath-Partei oder der Nasseristen in Ägypten, die keineswegs ein Gegengewicht gegen eine "natürliche Anarchie" bildeten, sondern vielmehr selbst diese Wirkung erzielten.

Demokratie erfordert eine "Gemeinschaft, die sich als eine solche selbst versteht, im Normalfall ist dies ein Nationalstaat." Eine der vielen Tragödien des Irak ist es, dass genau in dem historischen Augenblick, als die Vorstellung von einer Nation und ihrem politischen Raum entstand, nämlich zwischen 1940 und 1970, diese sofort brutal unterdrückt wurde und an ihre Stelle religiöse und Stammesfehden traten.

Die alten sozialen Klassen und die Politik

In der modernen Geschichte des Irak kam es zur Vertreibung eines bedeutsamen Teils der Mittelklasse und zur Beschlagnahmung ihres Besitzes, und das zweimal. Zum ersten Mal geschah es bei der Evakuierung der Juden im Jahre 1951. Sie bildeten den Großteil der Mittelklasse Bagdads — im Handel, in den freien Berufen und in der Verwaltung. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blieben die Märkte Bagdads am Samstag meist geschlossen.

Die Juden waren in der Beamtenschaft ebenso stark vertreten wie bei den Eisenbahnen, im Bildungssystem, in der Ärzteschaft, im Bankwesen, aber auch in der Musik, Kunst und Literatur. Dies ist eine Geschichte, die sowohl von Arabern als auch Israelis heute gern verschwiegen wird.

Das durch die Abwanderung der Juden entstandene Vakuum wurde zumindest im Fall der Märkte durch die Schiiten gefüllt. Städtische und wohlhabende schiitische Familien teilten mit den Juden den Ausschluss aus vielen Bereichen des öffentlichen Lebens, weshalb sie ihr Auskommen im Handel und im Finanzsektor finden mussten.

Diese reichen Schiiten, die neue Klasse der Besitzenden, waren es, die von der zweiten Welle der Eliminierung dieser Klasse betroffen waren: die Vertreibung eines Großteils der schiitischen Bevölkerung unter dem Vorwand zu enger Beziehungen zum Iran.

Diese Episode begann 1970 und setzte sich bis in die achtziger Jahre hinein fort. Die meisten der Deportierten waren arme Fayli (kurdische Schiiten), doch Tausende waren auch gut gestellte Schiiten, die einzig aufgrund ihres Reichtums verfolgt wurden und deren Besitz enteignet wurde, welcher den Anhängern des Regimes zugute kam.

Der "Kapitalismus", der sich in der Folge entwickelte, war der klassische Fall eines Staatskapitalismus. Bei der Verteilung und Erteilung von Kaufgelegenheiten, Krediten, Lizenzen und Verträgen ging es um Loyalität, Verwandtschaft und Patronage; ein System, von dem besonders die regierungsnahen Klans und Regionen profitierten.

"Dieb von Bagdad"

Zur gleichen Zeit konnten die mächtigen Leute des Regimes jeden Grundbesitz, der ihnen einträglich, und jede Firma, die ihnen profitabel erschien, an sich reißen.

So machte es Saddams Onkel Khairallah Tulfah, als er Gouverneur von Bagdad war und den Spitznamen "Dieb von Bagdad" bekam; so machte es Saddams grausamer Sohn Udai, der, wenn er mit einem Geschäft liebäugelte, dem Besitzer einfach seine "Partnerschaft" aufdrängte. Das Eigentum als Quelle sozialer Geltung wurde abgeschafft und den Launen des Regimes untergeordnet.

Dies ist ein extremes Beispiel dessen, was auch andernorts geschah, etwa in Ägypten, wo sich der Herrscherfamilie und ihren Parteigängern unvergleichliche wirtschaftliche Chancen und "Partnerschaften" boten.

Die Mittelklasse in der Bürokratie, den freien Berufen und in der Verwaltung wurde von der Baath-Partei, in der jeder Mitglied sein musste, rigoros kontrolliert. In den 1970er und frühen 1980er Jahren genoss sie einigen Wohlstand und mannigfaltige Privilegien, vor allem wegen der sprudelnden Öleinnahmen.

Die Kriege und Sanktionen der 1980er und 1990er Jahre führten zum drastischen Niedergang dieser Schicht und zur völligen Subordination unter die Ordnung der Baath-Partei.

Politische Repressionen unter der Baath-Partei löschten jeden freien politischen Raum aus, in dem Debatten und Diskussionen hätten geführt werden können. Diese Neutralisierung wurde verstärkt durch die Eliminierung des Besitzes und des Kapitalismus als Quellen sozialer Macht und der damit verbundenen Konkurrenz.

Grundlage für ein demokratisches System

Die Unterordnung und Erniedrigung der gebildeten Mittelklasse als wichtigste Quelle von sozialer und politischer Betätigung tat ein Übriges.

Dies alles sind die wichtigsten Gründe der derzeitigen Malaise, in der religiöse und Klanführer die einzig einflussreichen Figuren im Spiel der irakischen Politik nach Saddam zu sein scheinen. Dies war aber nicht immer so.

Der Kulminationspunkt der politischen und sozialen Pluralität im Irak fällt in die Jahre Abd al-Karim Qasims, Premierminister von 1958 bis 1963. Wie Nasser in Ägypten ist auch er durch einen Militärputsch an die Macht gekommen, doch aus einer Vielzahl von Gründen wurde die politische Pluralität dadurch nicht unterdrückt, sondern stimuliert.

Es waren die Jahre, in denen die Iraqi Communist Party (ICP) zur vollen Geltung kam (und dabei eine törichte Strategie verfolgte, die schließlich auch zu ihrem Niedergang führen sollte). Doch war die ICP nicht nur eine kommunistische, sondern auch die wichtigste nationalistische Partei im Land, zu der Kurden und Araber fanden, Sunniten und Schiiten, Christen wie Juden.

Die andere nationalistische Partei war die National Democratic Party, eine sehr viel kleinere Gruppierung moderner bürgerlicher Eliten.

Ihnen standen die panarabischen nationalistischen Parteien gegenüber, also vor allem die Baathisten und die Nasseristen, mit einer sehr viel kleineren und homogeneren Anhänger- und Wählerschaft bei Teilen der sunnitisch-arabischen Bevölkerung.

Die meisten anderen Parteien waren häufig nicht mehr als Wahlvereine einer einzelnen Persönlichkeit, deren Wählerschaft sich zumeist einzig auf Verwandtschaftsbeziehungen und Patronage gründete, wie es der Fall bei so vielen der Parteien in den arabischen Ländern ist (dort wo sie zugelassen sind).

Das auffallendste Merkmal der irakischen Politik waren die ideologischen Kämpfe, die zwischen verschiedenen sozialen Kräften und politischen Interessengruppen ausgetragen wurden und nicht so sehr zwischen den Angehörigen einer bestimmten Gemeinschaft oder eines Klans.

Diese Interessengruppen gab es natürlich, jedoch waren auch sie meist einer Partei untergeordnet und so gezwungen, ihre Ziele auf dem Weg durch die Parteigremien zu verfolgen.

Sicher gab es auch in dieser Episode der irakischen Geschichte Gewalt, Misswirtschaft und staatlichen Machtmissbrauch. Es war keine "Demokratie". Und doch war ihr ein Potenzial an politischer Kultur eigen, die zu einem wahrhaft demokratischen und pluralistischen System hätte führen können.

Die neuen Generationen

Als die Baathisten schließlich nach weiteren Putschen an die Macht kamen, wurden all diese Kräfte unterdrückt, und zwar vor allem aus dem einen Grund, weil die Kommunisten und die Linke über etwas verfügten, was den Baathisten fehlte: ein solides Wähler- und Anhängerpotenzial.

Gewalt allein reichte jedoch nicht. Saddams brillante Strategie in den 1970er Jahren bestand darin, die noch immer rührigen Kommunisten in eine Koalition mit der Koalition der Nationalen Front zu holen.

Bis 1979 hatte er es dann geschafft, die kommunistischen Basisorganisationen zusammenzufassen oder auszuschalten. Übrig gebliebene Parteitreue wurden sodann brutal verfolgt, was jetzt ein Leichtes war, da sie, dank der erzwungenen Front mit den Nationalisten, Saddams Gewalt schutzlos gegenüberstanden.

Die 1970er Jahre waren die Zeit der großen Preiserhöhungen auf dem Ölmarkt und bescherten den Regimes, die die Fördermengen kontrollierten, große Reichtümer. Dadurch fiel es dem Regime sehr viel leichter, seine Repressionen durchzuführen und Teile der Mittelklasse und der Intelligenz zu assimilieren. Kurz: das Geld half dem Regime bei der Durchdringung aller Schichten der Zivilgesellschaft.

In der Zeit der Kriege und Sanktionen von den 1980er Jahren bis zum Sturz des Regimes im Jahr 2003 ließ sich in der irakischen Gesellschaft eine immer stärkere Tendenz zur lokalen wie kommunalen Ebene beobachten. Armut und Gewalt zwang die meisten Iraker dazu, sich wieder mehr auf ihre lokalen und kommunalen Ressourcen und Hierarchien zurückzubesinnen.

Eine ganze Generation wuchs unter diesen Bedingungen auf, ohne Erinnerung an eine andere Gesellschaft und Politik. Die lokale und kommunale Politik aber ist meist religiös oder von Klans geprägt. Saddam stützte diese Kräfte, um soziale Kontrolle dort zu erlangen, wo der lange Arm der Baath-Partei nicht mehr hinreichte.

Schaffung regionaler Kleinstaaten

Der beklagenswerte Zustand, in dem sich die irakische Politik heute befindet — beherrscht von religiösen Autoritäten und Partikularinteressen — ist keineswegs der natürliche Zustand eines Irak ohne autoritäre Führung. Er ist das Produkt jenes autoritären Regimes und jener Kräfte, die eine solche autoritäre Führung einst hervorbrachte - und das vor allem dank gewaltiger Einnahmen aus dem Ölgeschäft, die auf direktem Wege dem Regime zuflossen.

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kontakt@qantara.de Die neue irakische Verfassung teilt diesen Reichtum zwischen den Regionen auf, ganz offensichtlich zum Vorteil der Regionalregierungen, deren Machtreichweite nur vage umrissen werden kann. Es handelt sich also weniger um eine richtige, geordnete Dezentralisierung, als vielmehr um die Schaffung regionaler Kleinstaaten mit dem klaren Potenzial neuer autoritärer Regimes.

Dies gilt vor allem für die angestrebte schiitische Region im Süden des Landes, die der Führung durch religiöse Parteien und den Klerus überlassen wird. In der jetzigen Situation fällt es schwer, hier ein demokratisches Potenzial zu erkennen. Nach wie vor gibt es eine gebildete, säkulare Mittelklasse (auch wenn viele von ihnen das Land verlassen wollen, und wer kann es ihnen verdenken?); doch hat diese keine Organisation, keine Führung, keine Stimme.

Können die Stützen der Zivilgesellschaft und ihr politischer Spielraum wieder auferstehen aus dem Chaos und den Ruinen, die das Baath-Regime und die Invasion hinterlassen haben?

Noch ist es schwer, hierauf eine klare Antwort zu geben, da es dafür wohl zu viele Unwägbarkeiten gibt. Eine ganze Generation wuchs unter dem Baath-Regime auf, dann kamen Armut und die Zerstörungen des Krieges, die Sanktionen. Entfremdet und verarmt, welche Perspektiven bieten sich dieser Generation denn noch?

Es bleibt zu hoffen, dass der pure Lebenswille, das Verlangen und das Streben nach Stabilität, Karriere, Spaß und Liebe es eines Tages vermögen, dieser Generation zu einem zivilen Leben zu verhelfen. Was sie dafür brauchen, sind Ressourcen und Sicherheit, also genau das, woran es dem heutigen Irak am meisten mangelt.

Sami Zubaida

Aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Die Originalversion des Artikels erschien zuerst auf Open Democracy.

Sami Zubaida ist emeritierter Professor der Politik und Soziologie am Birkbeck College, London.

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