Hört auf zu pfeifen!

Die Kritik an İlkay Gündoğan und Mesut Özil wegen ihres Treffens mit Erdoğan ist berechtigt, aber bei der Debatte geht es um mehr als um Menschenrechte in der Türkei: Wie vielfältig will Deutschland sein? Ein Essay von René Wildangel

Essay von René Wildangel

Mitte Mai trafen die beiden deutschen Nationalspieler İlkay Gündoğan und Mesut Özil gemeinsam mit dem ebenfalls in Deutschland geborenen Fußballprofi Cenk Tosun, der sich für die türkische Nationalmannschaft entschieden hat, den türkischen Präsidenten Erdoğan und überreichten ihm Trikots ihrer Vereine. Im Fall von İlkay Gündoğan mit Widmung: "Für meinen Präsidenten". Erdoğans AKP nutzte die Bilder, um in den sozialen Medien zu werben, schließlich stehen in der Türkei Ende Juni Präsidentschaftswahlen an, für die Erdoğan scheinbar mehr Unterstützung mobilisieren muss als gedacht.

Seit dem Treffen hält die massive Kritik an den beiden Nationalspielern an und beherrscht seit Tagen die Nachrichten in Deutschland. Bei den letzten beiden WM-Tests gegen Österreich und Saudi-Arabien wurden beide Spieler von eigenen Fans ausgepfiffen – die Tatsache, dass Özil gegen Österreich frühzeitig ein Tor erzielte, änderte daran nichts. Geht es bei den Reaktionen wirklich nur um die Menschenrechtsbilanz des türkischen Präsidenten oder spielen möglicherweise noch andere Faktoren eine Rolle?

Diese Kritik müssen sich die beiden deutschen Nationalspieler gefallen lassen: Sie haben in naiver Weise Wahlkampfhilfe geleistet für einen Präsidentschaftskandidaten, der in den letzten Jahren zunehmend die Pressefreiheit und die Menschenrechte in der Türkei beschnitten hat.

Seit dem Putschversuch 2016 und einer Verfassungsänderung im April 2017 hat Erdoğan seine eigene Machtbasis ausgebaut, Menschenrechtler und regierungskritische Journalisten ins Gefängnis gesteckt, Zehntausende vermeintliche Regierungsgegner aus dem Staatsdienst entlassen und Oppositionelle, vor allem Politiker der oppositionellen kurdischen HDP, unter Vorwänden strafrechtlich verfolgen lassen.

Das hat Erdoğan, Präsident des drittgrößten NATO-Mitglieds, international keineswegs zur persona non grata gemacht – in London war das Treffen mit den Fußballern ein Nebenschauplatz während eines Staatsbesuchs mit Empfang durch die britische Regierungschefin Theresa May und Queen Elisabeth II.

Erdogan mit Özil und Gündogan am 13.5.2018; Foto: picture-alliance/dpa
Wahlkampfhilfe für den türkischen Präsidenten: Erdoğans AKP nutzte die Bilder, um in den sozialen Medien zu werben, schließlich stehen in der Türkei Ende Juni Präsidentschaftswahlen an, für die Erdoğan scheinbar mehr Unterstützung mobilisieren muss als gedacht.

Als Erdoğans Büro bei Gündoğan und Özil für das kurzes Treffen anklopfte, waren sich die Nationalspieler der nachfolgenden hohen Wellen daher wohl trotz der angespannten deutsch-türkischen Beziehungen nicht bewusst. Zumal Özil und Gündoğan aufgrund ihrer Herkunft und Identität sowie vieler Verwandte und Freunde in der Türkei nochmal anders auf den türkischen Präsidenten schauen als die meisten ihrer deutschen Landsleute.

Dass wiederum die AKP dieses Treffen für ihre Zwecke ausschlachtet, hätten die medienerprobten Sportler wissen müssen – Özil gehört mit dem Rekordwert von über 31 Millionen Likes auf Facebook zu den prominentesten Social-Media-Multiplikatoren weltweit und Selbstvermarktung ist für die hochbezahlten Profis und ihre Beraterstäbe tägliches Brot.

Musterbeispiel der "Integration"?

Aber nicht nur an der Wahlkampfhilfe für Erdoğan und dessen autoritäre Tendenzen entzündete sich die Kritik in Deutschland, oft schien ein anderes Motiv durch: das Infragestellen der Loyalität der deutschen Nationalspieler zu ihrem Land.

Das passt zu einem gesellschaftlichen Klima, in dem sich Teile der Politik daran machen, zu einem überwunden geglaubten monolithischen Verständnis deutscher Identität und Kultur zurückzukehren. Als "Heimatminister" will z.B. Horst Seehofer Deutschland deutsche "Leitkultur" durchsetzen, in der er für den Islam keinen Platz sieht.

Abweichungen von der vermeintlichen Norm sind nicht erwünscht, und "Integration" ist zu einem Schlagwort geworden, das immer öfter von den Gegnern einer von kultureller Vielfalt geprägten Gesellschaft vereinnahmt wird.

FDP-Chef Lindner verstieg sich gar zu der Forderung, Mesut Özil müsse die Nationalhymne mitsingen, da sich sonst ein "Identitätsproblem, das dann zu Integrationsproblemen führe" zeige. Zu allem Überfluss führte Lindner noch das Grundgesetz an: Im Grundgesetz ist allerdings weder die Nationalhymne erwähnt, noch verpflichtet es zu ihrem Absingen.

Diese große Gruppe Deutscher mit migrantischen Wurzeln- mittlerweile sind das fast ein Viertel der Deutschen – hat aber das Recht über ihre eigene Identität zu bestimmen.

Solche Identitäten sind mitunter komplex: Mesut Özil wurde in Gelsenkirchen als türkischstämmiger Deutscher geboren und spielte beim FC Schalke, wurde zum globalen Weltstar und führte Deutschland zum Gewinn der Weltmeisterschaft 2014; als gläubiger Muslim betet er vor jedem Spiel und pilgerte nach Mekka.

FDP-Parteichef Christian Lindner; Foto: Getty Images/AFP
Mit erhobenen Zeigefinger: FDP-Parteichef Christian Lindner hat die beiden deutschen Fußball-Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündoğan dafür kritisiert, dass sie mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan für Fotos posiert und ihm Trikots geschenkt hatten. "Als Sportidole haben Fußballstars eine Vorbildfunktion. Es ist sehr bedauerlich, dass sich Gündoğan und Özil nun mit Erdoğan zeigen, der die einst laizistische Türkei in eine islamistische Präsidialdiktatur verwandelt", ereiferte sich Lindner.

Das wäre ebenso wenig der Rede wert, wie die Tatsache, dass er seit Jahren aufgrund seiner Herkunft die deutsche Nationalhymne nicht mitsingt. Wären da nicht die Seehofer, Lindner und Co. die bestimmen wollen, was Deutsch ist und was nicht – exklusiv, ohne Mitsprache von Migrantinnen und Migranten.

Ausgerechnet Özil wurde besonders oft, auch vom DFB, die Etikette "Beispiel für gelungene Integration" verliehen. Aber warum muss man das einem Deutschen, der wie Özil und Gündoğan in Gelsenkirchen geboren und aufgewachsen ist, überhaupt bescheinigen? Dass er den türkischen Präsidenten trifft hat damit jedenfalls eigentlich nichts zu tun. Es mag politisch dumm sein und für einen Nationalspieler mit Vorbildfunktion unpassend, aber es ist geradezu absurd wenn dies zu einer Integrationsdebatte gemacht wird. Abgesehen davon, dass auch für Gündoğan und Özil das Recht auf freie Meinungsäußerung gilt – das steht im Gegensatz zur Nationalhymne an prominenter Stelle im Grundgesetz.

Öl auf das Feuer der Rechten und Revisionisten

Längst sind in Deutschland revisionistische und rassistische Positionen wieder salonfähig geworden, die auch vor der Nationalmannschaft nicht halt machen. Jenseits der berechtigten Kritik berichtete Gündoğan auch von verletzenden Beleidigungen nach dem Treffen mit Erdoğan.

Nach Gaulands rassistischer "Nachbar"-Bemerkung gegen Jerome Boateng tat sich auch die AfD wieder mit offen rassistischen Beleidigungen hervor. Alice Weidel, die Vorsitzende der Bundestagsfraktion, sagte der rechten Wochenzeitung Junge Freiheit: "Sie sollten am besten gleich ihr Glück in der türkischen Nationalmannschaft suchen."

Dass tagelang Özils und Gündoğans Treffen mit Erdoğan in Deutschland zu einer Art Staatsaffäre hochgepuscht wurde – erst meldete sich Kanzlerin Merkel, dann bat Bundepräsident Steinmeier zum klärenden Gespräch – ist mindestens ein Indikator für fehlende Gelassenheit und Selbstvertrauen in der Debatte über die gesellschaftliche Veränderung deutscher Identitäten.

Auch die Pfiffe deutscher Fans gegen Özil und Gündoğan sind dafür ein Indikator, denn dass jene kleine Gruppe pfeifender Fans sich besonders für die Menschenrechte in der Türkei interessieren, ist wenig naheliegend.

Äußerungen wie Lindners Forderung nach Singen der Nationalhymne sind Öl auf das Feuer von Ressentiments, die bei einem Teil der Fans scheinbar noch immer vorhanden sind. Gerade bei der Nationalmannschaft, die als ein Vorbild für das neue und vielfältige Einwanderungsland Deutschland gilt, hinterlassen diese anhaltenden Pfiffe gegen zwei verdiente Nationalspieler mit Migrationsgeschichte einen mehr als faden Beigeschmack.

Profifußball: Menschenrechte klein geschrieben

Bundeskanzlerin Angela Merkel; Foto: picture-alliance/dpa/NDR
Appell zur Mäßigung und Vernunft: Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte wenige Tage vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft die sportliche Bedeutung der angefeindeten Nationalspieler Mesut Özil und İlkay Gündoğan für die deutsche Mannschaft. "Wir brauchen die jetzt alle, damit wir gut abschneiden", sagte die Bundeskanzlerin. "Ich glaube, die beiden Spieler haben nicht bedacht, was das Foto mit dem Präsidenten Erdoğan auslöst."

Die Kritik an Özil und Gündoğan wirkt noch aus einem anderen Grund scheinheilig. Während den beiden zu Recht vorgeworfen wird, Erdoğans Menschenrechtsverletzungen zu beschönigen, sind der Weltfußballverband FIFA, die nationalen Verbände und die Vereine in viel größerem Maße genau daran beteiligt. Zwar wird immer wieder die Mär vom angeblich unpolitischen Fußball beschworen. Aber die Weltmeisterschaften ebenso wie der Clubfußball, genauso wie andere sportliche Großereignisse sind nicht nur wirtschaftliche Schwergewichte, sondern haben auch massive politische Implikationen.

Bereits vor 40 Jahren traten auch deutsche Kicker in Argentinien in einer Militärdiktatur an, die für den Tod von 30.000 Oppositionellen verantwortlich war. Auch bei der bevorstehenden WM in Russland gibt es menschenrechtliche Bedenken zuhauf. Von den Spielern wird erwartet, dass sie sich nicht zur politischen Lage äußern. Plötzlich ist der Fußball angeblich wieder unpolitisch.

Mit der WM in Qatar 2022 rückt zudem ein Turnier nahe, mit dem sogar noch viel weitreichendere Menschenrechtsverletzungen einhergehen, die Organisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch immer wieder dokumentiert haben. Amnesty spricht von einer "Weltmeisterschaft der Schande". Hundertausende Arbeitsmigranten, die auf den WM-Baustellen und an anderen Stellen bei der Vorbereitung und Durchführung der WM beschäftigt sind, werden systematisch ausgebeutet. Hunderte sind bereits angesichts der katastrophalen Arbeitsbedingungen ums Leben gekommen.

[embed:render:embedded:node:20267]Für Qatar ist nicht nur diese WM ein Aushängeschild, sondern auch die Investitionen in europäische Spitzenvereine wie Paris St. Germain. Auch der FC Bayern fährt jährlich ins Trainingslager nach Qatar, die Fluggesellschaft Qatar Airways ist sogar zu einem Hauptsponsor aufgestiegen. Obwohl die Menschenrechtsverletzungen bekannt sind, werden die Missstände systematisch ignoriert. Den Spielern wird weitestgehend Schweigepflicht erteilt.

Mit zweierlei Maß

Während Özil und Gündoğan Empörung ernteten für ihre politische Naivität, werden die Clubs der englischen Premiere League von russischen Oligarchen, autokratischen Herrschern aus Nahost (Manchester City) oder Trump-Unterstützern (FC Arsenal) finanziert. Seit den massiven Korruptionsfällen in der FIFA und dem Rücktritt von Ex-Präsident Blatter blieb der neue Vorsitzende Gianni Infantino die lückenlose Aufklärung der Korruptionsaffären bei diversen WM-Vergaben schuldig, die Veröffentlichung im sogenannten "Garcia"-Report, der 2014 Ansätze dazu liefern sollte, versuchte die FIFA zu verhindern.

Wer wirklich daran interessiert ist, dass der weltweite Fußballbetrieb die Menschenrechte nicht beschädigt, sollte zurecht den Auftritt von Özil und Gündoğan mit Erdoğan kritisieren; dann sollten Verbände und Fans sich aber auch nicht vor den anderen zahlreichen menschenrechtlichen Problem wegducken.

Gelegenheiten gibt es genug: Das letzte Testspiel am 8. Juni gegen Saudi-Arabien wäre so eine Möglichkeit gewesen. Ein Land, in dem es keine Pressefreiheit gibt, Minderjährige für die Teilnahme an Demonstrationen hingerichtet und trotz des wirtschaftsliberalen Kurses des neuen Kronprinzen Andersdenkende gnadenlos verfolgt werden. Gerade erst wurden mehrere Frauenrechtlerinnen verhaftet, darunter die junge Aktivistin Loujain al-Hathloul, die seit Jahren für moderate Reformen eintritt.

Für alle deutschen Fußballfans, denen es bei Özil und Gündoğans Treffen mit Erdoğan wirklich um Menschenrechte ging, ist dies eine Gelegenheit hiergegen lautstark zu protestieren, anstatt weiterhin deutsche Nationalspieler auszupfeifen - für ein Treffen, das sie im Übrigen selbst als Fehler eingestanden haben. Für alle anderen gilt: Hört auf zu pfeifen!

René Wildangel

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