Ausgrenzung von Muslimen fördert den Islamismus

Kein Kulturkampf mit dem Islam: Nach den jüngsten islamistischen Attentaten warnt der Jüdische Weltkongress (WJC) Europa davor, sich einen Kulturkampf aufzwingen zu lassen.
Kein Kulturkampf mit dem Islam: Nach den jüngsten islamistischen Attentaten warnt der Jüdische Weltkongress (WJC) Europa davor, sich einen Kulturkampf aufzwingen zu lassen.

Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz will den "politischen Islam" unter Strafe stellen. Damit verdächtigt er auch all jene Muslime, die weder gewaltbereit noch radikal sind. Der Islamismus lässt sich eher bekämpfen, wenn man mit Muslimen auf Augenhöhe zusammenarbeitet, meint Waslat Hasrat-Nazimi in ihrem Kommentar.

Von Waslat Hasrat-Nazimi

"Der Islam muss aufgeklärt werden!" Mit Nachdruck redete mein Sportlehrer auf mich ein und hielt mir dabei seinen Zeigefinger vors Gesicht. In der Sporthalle war es laut. Während der Rest meiner Klasse weiter Übungen machte, hatte er mich grundlos aus der Gruppe herausgeholt, um einen Monolog über den Islam in Europa zu halten. Für tiefgehende theologische Gespräche war er eigentlich nicht bekannt. Daraus, dass er überzeugter Christ war, machte er jedoch kein Geheimnis. "Nur durch die Aufklärung, so wie bei uns Christen, können Muslime in Deutschland richtig integriert werden", fuhr er dann fort. Ich versuchte ihm zu erklären, dass dieser Vergleich so nicht einfach gezogen werden könne, doch er ließ mich gar nicht zu Wort kommen. Also nickte ich nur stumm.

Mit der damals 15-Jährigen habe ich heute nur noch wenig gemein. Aber die Debatte über die angeblich fehlende Aufklärung im Islam hat sich seit meiner Jugend nicht verändert. Kopftuch, Parallelgesellschaften, Schwimmunterricht, Minarette oder Beschneidung - regelmäßig werden die immer gleichen Themen diskutiert. So drehen wir uns ganz offensichtlich im Kreis, denn eine Lösung der "Islam-Frage" hat die Politik bis heute nicht gefunden.

Kommt es zu einem grausamen islamistischen Terrorakt, wird sofort die Notwendigkeit einer Diskussion betont. Dann wird aber wieder vor allem mit dem Finger auf die Muslime gezeigt. Das dauert kurze Zeit, dann ebbt das Thema ab, bis das Spiel irgendwann wieder von vorne losgeht.

Zuhören statt Bevormunden

In diesen Diskussionen über die Gefahr des Islamismus und den Islam in Deutschland kommen jedoch Muslime selbst fast nie zu Wort. Man spricht über sie, aber selten mit ihnen. So wie mein Sportlehrer, der überhaupt nicht an meiner Meinung interessiert war und mir mit seiner Aussage auch noch indirekt unterstellte, dass ich nicht in die deutsche Gesellschaft integriert sei. In gleicher Weise bevormundet die Mehrheitsgesellschaft Muslime bis heute, indem sie sie auffordert, einen liberalen Islam zu praktizieren, der mit "deutschen Werten" vereinbar sei. Dabei wird gemeinhin impliziert, dass das nur möglich sei, wenn der islamische Glaube nicht sichtbar praktiziert werde.

Waslat Hasrat-Nazimi leitet die Afghanistan-Redaktion bei der Deutschen Welle; Foto: Fahim Farooq
Wenn die Mehrheitsgesellschaft Muslime verdächtigt, radikal zu sein, nur weil sie ihren Glauben praktizieren, begegnet sie ihnen mit Ablehnung, schreibt Waslat Hasrat-Nazimi, Leiterin der Afghanistan-Redaktion bei der Deutschen Welle, in ihrem Kommentar. Gleichzeitig ziehe man ihr Recht in Zweifel, ihre Religion frei auszuüben. „Wollen wir dem Islamismus wirklich die Stirn bieten, so müssen wir Muslimen auf Augenhöhe begegnen.“

Dass die Mehrheit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland liberal ist und jegliche Gewalt ablehnt, scheint dabei zweitrangig zu sein. Islamwissenschaftler sowie eine Reihe islamischer Verbände und Organisationen versuchen seit Jahren, eine konstruktive Debatte zum Islamismus zu führen.

Doch anstatt ihnen Gehör zu schenken, verliert sich die Politik in Plattitüden und Oberflächlichkeiten oder biedert sich rechten Parteien an. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Begriffe wie "politischer Islam", "Fundamentalismus" und "Dschihadismus" als Synonyme verwendet werden, obwohl sie keine sind.

Überlasst das Feld nicht den Islamisten

Weltweit werden im Übrigen Muslime am häufigsten Opfer von islamistischen Attentaten.  Der Kampf gegen den Islamismus ist deshalb ein gemeinsamer Kampf von Muslimen und Nicht-Muslimen. Darum ist es zentral, dass beide Seiten miteinander reden und aufeinander zugehen.

Wenn die große Mehrheit der liberalen Muslime aber aus Frustration nicht mehr ihre Stimme erhebt - wem überlassen wir dann das Feld? Denn es ist gerade der Keil, der in die Mitte der Gesellschaft getrieben wird, aus dem Islamisten ihre Kraft ziehen und der ihnen junge Menschen in die Arme treibt. Das ist natürlich vereinfacht dargestellt, tatsächlich ist es ein Zusammenspiel aus unterschiedlichen Gründen, warum der Islamismus in Europa immer noch starke Anziehungskraft hat und vor allem junge Männer radikalisiert.

Aber die bloße Tatsache, dass jemand ein Kopftuch oder einen Bart trägt, nicht am Schwimmunterricht teilnehmen möchte oder beschnitten ist, gehört definitiv nicht zu diesen Gründen.

Generalverdacht bedeutet Ablehnung

Wenn die Mehrheitsgesellschaft Muslime aber verdächtigt, radikal zu sein, nur weil sie ihren Glauben praktizieren, begegnet sie ihnen mit Ablehnung und zieht gleichzeitig das Recht in Zweifel, ihre Religion in Mitteleuropa frei auszuüben.

Entspricht es unseren Grundwerten, wenn Muslime stigmatisiert werden? Und wie lässt sich logisch erklären, dass europäische Regierungen Islamisten offiziell den Kampf ansagen, aber gleichzeitig Waffen an islamistische Regime liefern und mit ihnen Handel treiben? Wo bleiben hier die Prinzipien der europäischen Aufklärung und der Vernunft?

Wollen wir dem Islamismus wirklich die Stirn bieten, so müssen wir Muslimen auf Augenhöhe begegnen, anstatt ihnen nur mit dem erhobenen Zeigefinger vor dem Gesicht herumzufuchteln - der ironischerweise ein islamisches Symbol für die Einheit Gottes ist.

Und außerdem gilt: Wer mit dem Finger ständig auf andere deutet, zeigt bekanntlich mit drei Fingern auf sich selbst.



Waslat Hasrat-Nazimi

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