Zu Erdoğan schweigen, aber seine Wähler abstrafen

Zwölf Prozent Ja-Sager werden nach dem Referendum in der Türkei zum Anlass genommen, Millionen von Deutschtürken als Wahlkampfmunition zu missbrauchen: Anstatt deren Wahlverhalten zu analysieren, dominiert populistische Rhetorik. Von Bülent Mumay

Von Bülent Mumay

Ich weiß, lieber Leser, das Bild, das die Türkei in diesen Tagen abgibt, ist äußerst unerfreulich. In den neunziger Jahren, als der Konflikt mit den Kurden einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, hatte das Land noch ganz andere Wunden. Journalisten wurden damals verprügelt und zum Sterben irgendwo hingeworfen. Menschen wurden nach der Festnahme gefoltert, man fand sie später tot im Wald. Die im Kampf gegen die PKK in der Osttürkei gefallenen Soldaten kehrten im Sarg und per Linienflug in ihre westlichen Heimatprovinzen zurück. Und im Osten des Landes hatten die Familien fast täglich einen Toten zu beklagen; einen verlorenen jungen Menschen in den Reihen der PKK.

Verfechter einer friedlichen Lösung des Kurdenkonflikts versuchten damals, sich Gehör zu verschaffen. Natürlich konnten sie das Blutvergießen nicht stoppen. Für die damalige Mitte-rechts-Regierung zählte nur die Sicherheitspolitik. Der 18. kurdische Aufstand in der Geschichte der Türkei sollte unbedingt militärisch gelöst werden. Seit dem Ausbruch des Aufstands sind mittlerweile 33 Jahre vergangen und gelöst wurde gar nichts. Damals kam der wohl hässlichste Spruch der politischen Geschichte der Türkei auf. Er lautet: "Liebe das Land oder geh!"

Ein Schandfleck in der politischen Geschichte der Türkei

Der Slogan kam nicht von der Mitte-rechts-Regierung unter Premier Tansu Çiller, der ersten weiblichen Regierungschefin der Türkei, sondern von der rechtsextremen MHP. Sie drängte die Regierung, härter gegen die PKK vorzugehen. Die Parole wurde zwar nie in den offiziellen Sprachgebrauch übernommen, aber Jugendorganisationen beschmierten im ganzen Land Mauern damit. Sie positionierten sich damit als Herren des Landes. Sie betrachteten jene, die auf die Möglichkeit einer friedlichen Lösung verwiesen, als Gäste, die es hinauszuwerfen gilt. Sie erklärten offen, nicht mit Andersdenkenden zusammenleben zu wollen.

Journalisten und Intellektuellen wurde damals wegen Volksverhetzung der Prozess gemacht, doch jene, die Andersdenkende zu Feinden erklärten, wurden selbstverständlich nicht belangt. Niemand folgte der Aufforderung des Slogans und verließ sein Land, das er in der bestehenden Form nicht lieben konnte, aber reformieren wollte. Doch der Spruch bekam als Schandfleck einen Platz in der politischen Geschichte der Türkei.

In Deutschland lebende Türken bei der Stimmabgabe zum Referendum; Foto: Reuters/F. Bensch
Das Referendum polarisiert - sowohl innerhalb als auch außerhalb der Türkei. Nach Angaben der türkischen Regierung leben 5,5 Millionen Türken im Ausland, allein in Westeuropa sind es 4,6 Millionen. Die Gesamtbevölkerung der Türkei liegt bei 80 Millionen, davon waren zuletzt rund 55 Millionen wahlberechtigt. Über 400.000 in Deutschland lebende Türken hatten für das autoritäre politisches System in der Türkei gestimmt. Die große Zustimmung zur Verfassungsänderung unter Deutsch-Türken ist jedoch nach Auffassung von türkischen Organisationen - wie der Türkischen Gemeinde in Deutschland - auf ein Gefühl der Ausgrenzung zurückzuführen. Außerdem nahmen nur 46 Prozent von ihnen am Referendum teil.

Wenn ich heute mitbekomme, dass Menschen wegen ihrer Meinung, Überzeugung, Andersartigkeit oder wegen ihrer politischer Präferenz angeprangert werden, fällt er mir immer ein. Der Abdruck, den jene in meinem Geist hinterließen, die Andersdenkende nicht dulden, schmerzt wie die Narben einer alten Wunde.

Sie machen uns das Leben zum Gefängnis

Ich war verblüfft, in der Debatte, die nach dem Referendum vom 16. April in Deutschland losgetreten wurde, Spuren dieses Spruchs wiederzufinden. Vor allem in politischen Kreisen hieß es, deutschtürkische Ja-Wähler sollten in ihr Land zurückkehren und der Doppelpass sollte abgeschafft werden. Ist die Haltung, die in solchen Forderungen zum Ausdruck kommt, etwa demokratisch?

Offiziellen Angaben zufolge leben 3,2 Millionen Türken in Deutschland. 1,4 Millionen davon sind in der Türkei wahlberechtigt. Von ihnen nahmen nach Angabe der Nachrichtenagentur Anadolu 46 Prozent an dem Referendum teil. Und von diesen 46 Prozent bejahten 63 Prozent Erdoğans Verfassungsreform. Von 3,2 Millionen Türken in Deutschland haben also lediglich 391.000 Erdoğans neuem Regime zugestimmt. Sollen wegen des Wahlverhaltens von zwölf Prozent Deutschtürken tatsächlich alle in Deutschland lebenden Türken abgestraft werden? Ist das Ihr Ernst?

Selbstverständlich ist es angebracht, die Präferenz dieser 391 .000 Wähler zu hinterfragen. Es ist wichtig, zu verstehen, wieso diese Menschen, die selbst in einer Demokratie leben, ein System bejahen, das die Demokratie in der Türkei eindeutig zurückschrauben wird. Seien Sie versichert, lieber Leser, das tun auch wir.

In Gesprächen mit Nein-Wählern in der Türkei hört man gerade folgenden Satz diesbezüglich sehr oft: "Die genießen Europa, machen aber uns das Leben zum Gefängnis, indem sie ja zu einem System sagen, das uns noch stärker unterdrücken wird."

Infografik Referendumswähler außerhalb der Türkei; Quelle: DW

Ein deutscher, sehr ums Begreifen bemühter Kollege, beschoss mich gleichsam mit Fragen. Er sagte: "Ich kann vor allem die jungen Leute, die in Deutschland geboren wurden und aufgewachsen sind, nicht verstehen. Wie kann es sein, dass Mitschüler meiner Tochter, die sich kleiden wie sie und bei uns zu Hause ein- und ausgehen, ein Ja befürworten?"

Stark von Nationalismus und Konservatismus geprägt

Wie schön wäre es, wenn im Populismus gefangene Politiker um Verstehen ringen würden, so wie mein Kollege dies tut. Warum zwölf Prozent der Deutschtürken mit Ja gestimmt haben, böte Stoff für einen eigenen Artikel. Hat es mit dem Wahlkampf und mit kurzfristigen politischer Interessen zu tun, dass zu populistischer Rhetorik gegriffen wird, anstatt ein vielschichtiges Ergebnis eingehend zu analysieren? Wollen sich jetzt jene, die aus politischem Kalkül Erdoğan jahrelang nicht kritisierten, die Hände reinwaschen, indem sie Menschen abstrafen, die für ihn gestimmt haben? Wie kann man dazu schweigen, dass man sich mit dem Flüchtlingsdeal erpressen lässt und gleichzeitig zwölf Prozent Ja-Sager zum Anlass nehmen, Millionen von Deutschtürken als Wahlkampfmunition zu missbrauchen? Wollen Sie tatsächlich die Loyalität aller Deutschtürken in Frage stellen, die seit mehr als fünfzig Jahren in Deutschland leben?

Erst vor wenigen Tagen hat Erdoğans Chefberater Yiğit Bulut ganz Europa zur Drohung für Sie gemacht: "Wenn uns der kleinste Schaden entsteht, werden Sie für jede Sekunde danken, da sie atmen." Wollen Sie sich jetzt für diesen Satz schadlos halten, indem Sie sich – ich bemühe jetzt mal ein Klischee – am Doppelpass des Kreuzberger Dönerverkäufers vergreifen?

Seien Sie mir nicht böse, lieber Leser, ich frage ja nur: Hat womöglich auch die Integrationspolitik etwas mit dem Ja der zwölf Prozent zu tun? Und was ist mit der Glasdecke auf dem Arbeitsmarkt und im sozialen Leben, mit der Migranten in Deutschland zu kämpfen haben? Was ist mit der Tatsache, dass die politische Arena nicht allen einen Platz bietet?

Referendumswahlergebnisse in deutschen Städten; Quelle: sabah.com/tr
Vergessen werden sollte nicht, dass ein Großteil der Deutschtürken seine Wurzeln in zentralanatolischen Regionen hat, die stark von Nationalismus und Konservatismus geprägt sind. Während in den türkischen Küstenregionen und Großstädten das Nein-Lager gewann, sind fast alle Provinzen, aus denen besonders viele Türken nach Deutschland auswanderten, Hochburgen Erdoğans.

Es wird beanstandet, Deutschtürken kümmerten sich um die Politik in der Türkei und seien Ankara zugewandt. Vielleicht liegt das ja daran, dass man ohne deutschen Pass gar nicht in der deutschen Politik mitreden darf? Meinen Sie nicht, dass die mit den Auftrittsverboten für türkische Politiker eingeleitete Krise zwischen Berlin und Ankara das Ja-Lager in Deutschland befeuert hat? Sollte es völlig unerheblich sein, dass man der fast überall auf der Welt als Terrororganisation eingestuften PKK erlaubte, in Frankfurt zu demonstrieren?

Zentralanatolische Wurzeln vieler Deutschtürken

Vergessen werden sollte nicht, dass ein Großteil der Deutschtürken seine Wurzeln in zentralanatolischen Regionen hat, die stark von Nationalismus und Konservatismus geprägt sind. Während in den türkischen Küstenregionen und Großstädten das Nein-Lager gewann, sind fast alle Provinzen, aus denen besonders viele Türken nach Deutschland auswanderten, Hochburgen Erdoğans. Was wird passieren, wenn 12 Prozent wegen ihrer Stimmabgabe weiterhin angeprangert werden? Werden dadurch nicht auch jene Türken, die nicht ja gesagt haben oder die gar nicht an der Wahl teilnahmen, isoliert?

Letzte Frage: Gibt es denn keinen anderen Weg, als Menschen dazu zwingen zu wollen, sich zwischen zwei Ländern und Pässen zu entscheiden? Das klingt doch sehr nach: "Liebe das Land oder geh!"

Vor zehn Jahren wurde unser Kollege, der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink, erschossen. Wir verabschiedeten ihn auf den Straßen von Istanbul mit Transparenten, auf denen stand: "Wir sind alle Armenier". Jene, die an "Liebe das Land oder geh!" glauben, sahen das gar nicht gern. Zu dem Spruch "Wir sind alle Armenier" hatte uns übrigens die deutsche Politik inspiriert. Als deutsche Politiker im Jahr 1993 auf die Straße gingen, um die beim Brandanschlag von Solingen getöteten fünf Türken zu betrauern, stand auf ihren Transparenten: "Wir sind alle Türken." Was ist eigentlich aus diesen Politikern geworden?

Bülent Mumay

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2017

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe