Endlich Kontingente für syrische Kriegsflüchtlinge schaffen

Das Asylrecht bietet Schutz für politisch Verfolgte. Anstatt das Asylrecht zu verschärfen, sollte die Politik endlich großzügige Kontingente für Kriegsflüchtlinge aus Syrien einrichten. Deutschland könnte dann die Einwanderung besser steuern und die Neuankömmlinge schneller integrieren, schreibt Kristin Helberg in ihrem Kommentar.

Von Kristin Helberg

Die Asylverfahren beschleunigen? Das klingt toll! Ein Asylbescheid nach nur zwei Wochen, die Syrer in den Zeltstädten und Turnhallen würden jubilieren. Aber leider soll es nur für diejenigen schnell gehen, die wir loswerden wollen: „Menschen mit geringer Bleibeperspektive“, sprich Balkanflüchtlinge. Diese kommen jedoch kaum noch nach Deutschland. 83 Prozent der im Oktober eingereisten 181.000 Flüchtlinge stammen aus Syrien, Afghanistan, Irak, Pakistan und Iran.

Sie landen weiterhin täglich zu Tausenden auf den griechischen Inseln, marschieren durch den Balkan, betten ihre Kinder nachts auf Blätter, waten durch Flüsse, werden wie Vieh zusammengepfercht, von Polizisten bedroht und von Helfern mit heißem Tee versorgt. Zäune und Zwangsregistrierungen verlangsamen ihr Tempo, halten aber niemanden auf. Und so stehen die meisten irgendwann an der deutsch-österreichischen Grenze, erleichtert, erschöpft und erkältet.

Diese Menschen – gerne auch als Strom, Welle oder Flut bezeichnet – gilt es, kontrolliert zu verteilen, denn sie haben fast alle das Recht zu bleiben. Wer aus Syrien, Afghanistan und dem Irak kommt, wird nicht zurückgeschickt. Insofern ändern Registrierungszentren zur schnellen Abschiebung von Balkanflüchtlingen nichts daran, dass Kommunen überlastet, ehrenamtliche Helfer am Ende ihrer Kräfte und besorgte Bürger immer wütender sind. Die Bundesregierung sollte sich endlich dem eigentlichen Problem zuwenden: dem Missbrauch des deutschen Asylrechts – nicht durch Ausländer, sondern durch unsere Politiker.

Das Grundrecht auf Asyl ist nicht verhandelbar

Das Grundrecht auf Asyl ist eine Errungenschaft Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem wir uns verpflichten, politisch Verfolgten Schutz zu gewähren. Es ist in der deutschen Verfassung verankert, kennt keine Obergrenze und ist nicht verhandelbar. Leider ist der Asylantrag jedoch für die allermeisten Ausländer der einzige Weg, in Deutschland Aufnahme zu finden, weil die Bundesregierung nicht in der Lage ist, andere legale Wege zu schaffen. So ist aus dem individuellen Anspruch des politisch Verfolgten in den vergangenen Monaten ein Kollektivrecht für Kriegsflüchtlinge geworden mit all den negativen Folgen, die eine solche Aushöhlung des Asylrechts mit sich bringt.

Polizeikontrolle in Passau. Foto dpa
„Wir müssen den Zuzug Hunderttausender steuern können, sonst fühlen wir uns überrannt. Dafür muss aber nicht das Asylrecht abgeschafft oder begrenzt werden – im Gegenteil. Es muss wieder zu dem gemacht werden, was es einmal war: ein Individualrecht für politisch Verfolgte“, schreibt Kristin Helberg.

Das bürokratisch aufwändige und komplizierte Asylverfahren, das für Einzelfälle und nicht für monatlich 52.000 Antragsteller (wie im Oktober) angelegt ist, führt zu Wartezeiten von teilweise mehr als 15 Monaten (für Afghanen, Eritreer und Pakistaner). Wertvolle Zeit, die die Ankömmlinge in Behelfsunterkünften ohne Privatsphäre zubringen – zur Untätigkeit verdammt, ohne Deutsch zu lernen, ohne gesellschaftlich Fuß zu fassen und ohne zu wissen, wann es wie weitergeht. Eine solche Dauerwarteschleife macht jede Integrationsbemühung zunichte.

Die Überlastung auf allen Ebenen – an den Grenzen, in den Behörden, bei der Unterbringung – führt bei vielen Deutschen zu verständlichen Sorgen. Die Rufe nach Obergrenzen, Zäunen und einem Aufnahmestopp sind Ausdruck von Hilflosigkeit und Überforderung. Wer als Politiker diese Forderungen aufgreift, betreibt gefährlichen Populismus. Worum es eigentlich geht, ist Kontrolle. Wir müssen den Zuzug Hunderttausender steuern können, sonst fühlen wir uns überrannt. Dafür muss aber nicht das Asylrecht abgeschafft oder begrenzt werden – im Gegenteil. Es muss wieder zu dem gemacht werden, was es einmal war: ein Individualrecht für politisch Verfolgte.

Alternativen zur Balkanroute

Was wir brauchen, sind andere Wege nach Deutschland. Die Frage, warum wir nach Jahrzehnten als faktisches Einwanderungsland noch immer kein vernünftiges Einwanderungsgesetz haben, sei hier nur am Rande gestellt. Aktuell geht es weniger um Menschen, die nach einem besseren Leben streben, sondern um Menschen, die vor Bomben fliehen. Sie einen Asylantrag stellen zu lassen, ist so überflüssig wie kontraproduktiv. Denn sie sind in ihrer großen Mehrheit keine politisch Verfolgten, sondern Kriegsflüchtlinge, für die es einen anderen Weg der Aufnahme gibt: den des Kontingents.

Bestes Beispiel dafür sind die Syrer. Unter ihnen gibt es natürlich Oppositionelle und Aktivisten, die wegen ihrer Kritik am Assad-Regime mit dem Tod bedroht sind und folglich Anspruch auf Asyl haben. Aber die allermeisten Syrer, die zur Zeit nach Deutschland kommen, fliehen vor den Luftangriffen des Regimes, der Unterdrückung durch den Islamischen Staat (IS) und den Folgen eines unmenschlichen Krieges, in dem Krankenhäuser bevorzugtes Ziel von Raketen sind.

Weil ihre Schutzbedürftigkeit unstrittig ist, bekommen nahezu alle Syrer in Deutschland drei Jahre Aufenthalt, durchschnittlich dauert das vier Monate. Warum also bieten wir den Syrern nicht einen anderen Weg als die Balkanroute? Juristisch betrachtet, kann die Bundesregierung „aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik“ bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilen. Solche Kontingente gab es zum Beispiel in den 1970er Jahren für vietnamesische und in den 1990er Jahren für bosnische Flüchtlinge.

Grafik Balkanroute- Foto: dw
Stau auf der Balkanroute: Nachdem Ungarn auch seine Grenze zu Kroatien abgeriegelt hat, weichen die Flüchtlinge nun auf Slowenien aus. Das Balkanland ist überfordert, Zehntausende Menschen müssen an den Grenzposten in der Kälte ausharren.

Für Syrer hat die Bundesregierung seit 2013 zwei Aufnahmeprogramme mit 20.000 Plätzen beschlossen. Angesichts von 88.000 eingereisten Syrern allein im Oktober ist das eine lächerliche Zahl. Deutschland braucht dringend weitere großzügige Kontingente, mit denen Syrer, die in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien registriert sind, geordnet nach Deutschland kommen können. Damit würden keine neuen Anreize geschaffen, sondern steuerbare Maßnahmen für Menschen, die in den nächsten Jahren ohnehin kommen werden, weil sie sich in ihrer Verzweiflung weder von Stacheldraht noch von „Leistungskürzungen“ abschrecken lassen. Auch bessere Flüchtlingslager in der Region, wie von der EU vorgeschlagen, werden die Syrer nicht zurückhalten, denn wer keine Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in die Heimat hat, will eine Perspektive für seine Kinder und nicht einen Container mit Wasseranschluss.

Da die Hauptfluchtroute der Syrer zurzeit durch die Türkei, über die Ägäis und die griechischen Inseln führt, sollten in der Türkei registrierte Flüchtlinge Priorität haben. Denn nur wer legale Möglichkeiten für ein „resettlement“ in Europa schafft, kann die illegalen Wege austrocknen. Die unsäglichen Schlauchbootüberfahrten von der türkischen Küste auf die Inseln Lesbos, Kos und andere, bei denen regelmäßig Kleinkinder ertrinken, dürfen sich nicht mehr lohnen. Jeder ankommende Syrer sollte notversorgt und auf der nächsten Fähre in die Türkei zurückgeschickt werden mit dem Hinweis, dort einen Antrag auf „resettlement“ in der EU zu stellen. Aufnahmezentren der Europäischen Union in der Türkei müssten diese Anträge annehmen, innerhalb von wenigen Wochen bearbeiten und die Verteilung auf die EU-Staaten organisieren.

Deutschland sollte mit gutem Beispiel vorangehen und seine Bereitschaft für die organisierte Aufnahme von 300.000 bis 500.000 Syrern in den nächsten zwei Jahren erklären, weitere EU-Staaten müssten folgen. Ein solches Vorgehen hätte nichts mit naivem Gutmenschentum zu tun, sondern würde unseren nationalen Interessen dienen, denn wir wären in der Flüchtlingsfrage keine Getriebenen mehr sondern Gestalter.

Entlastung für Flüchtlinge und Kommunen

Mit Hilfe von Kontingenten könnten wir die wirklich Bedürftigen geregelt und sicher nach Deutschland bringen, und zwar an Orte, an denen man bereits die notwendigen Voraussetzungen für Unterkunft, Integration, Spracherwerb und Bildung geschaffen hat. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Menschen würden nach humanitären Kriterien ausgewählt (keine nicht-syrischen Trittbrettfahrer mehr), sie kämen, ohne ihr Leben zu riskieren (weniger ertrunkene Dreijährige am Strand), den Schleppern gingen die syrischen Kunden aus (weniger in Lastern erstickte Menschen), Deutschland wüsste genau, wer wann kommt (weniger im Zelt schlafende Flüchtlinge, die wochenlang auf ihre Registrierung warten), der Bund könnte die Syrer von Anfang an fair verteilen und Kommunen und Gemeinden könnten sich und ihre Bewohner entsprechend vorbereiten (weniger brennende Unterkünfte).

Kristin Helberg foto Kulke / Fotoartberlin
Die Journalistin Kristin Helberg lebte von 2001 bis 2008 als freie Korrespondentin in Damaskus. Ihr Buch "Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land" erschien im September 2012 im Herder-Verlag, dessen 2. Auflage im Februar 2014 aktualisiert und erweitert herauskam.

Da ein solches Kontingent sowohl Syrer im Ausland als auch bereits eingereiste Syrer beinhalten kann, wäre die kurzfristige bürokratische Entlastung enorm. Mehr als 100.000 Syrer haben dieses Jahr einen Asylantrag gestellt. Würde die Bundesregierung ein weiteres Aufnahmeprogramm für 300.000 Syrer beschließen, hätten sich alle ausstehenden Asylverfahren für Syrer erledigt und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge könnte die übrigen Anträge schneller abarbeiten.

Wollen wir also Hunderttausende Syrer, die im Grunde schon auf dem Weg zu uns sind, auf Boote und über Zäune schicken, damit sie ihre letzten Ersparnisse, oft mehrere tausend Euro, den Schleppern geben und mittellos, traumatisiert und am Ende ihrer Kräfte bei uns ankommen? Um ihnen dann am Bahnhof Bananen und Kuscheltiere in die Hand zu drücken und uns wenig später über Schlägereien in überfüllten Erstaufnahmeeinrichtungen zu beschweren? Oder wollen wir sie mit zwei Jahren Aufenthalt, einem eigenen Zimmer, einem Deutsch- und einem Integrationskurs, einem Schulplatz für die Kinder und einer sofortigen Arbeitserlaubnis begrüßen?

Ein solches Willkommenspaket steht jedem syrischen Kontingentflüchtling zu, es verursacht mittelfristig weniger Kosten als die dauerhafte Notversorgung frustrierter Neuankömmlinge. Denn während diese monatelange Ungewissheit erwartet, beginnt die Integration der legal einreisenden Syrer schon bei ihrer Ankunft am Flughafen.

Kristin Helberg

© Qantara.de 2015