Im Clinch mit der Azhar

Die aktuelle Kontroverse um das Personenstandsrecht betrifft vor allem das Verfahren als solches in einer besonders tiefgehenden Weise. Im Kern geht es darum, wessen Auslegungen des islamischen Rechts gesetzlich verankert werden sollten und wessen Ansichten maßgeblich sind. Von Nathan J. Brown

Von Nathan J. Brown

In Ägypten gibt es heute wenig politischen Spielraum in Fragen, in denen das Regime klare Positionen bezogen hat oder die als sicherheitsrelevant gelten. Doch es gibt weiterhin Raum für lebhafte Debatten über Themen, die zwar profan anmuten mögen, aber für Ägypter wichtige Konsequenzen haben, wie z.B. das Personenstandsrecht.

Die Fragen zu Ehe, Scheidung und Erbschaft werden in Ägypten vor dem Hintergrund einer ständigen Diskussion über die hohen Scheidungsraten, die Rechte der Frauen und die Rolle des islamischen Rechts geführt. Hierzu gibt es eine Reihe von Reformvorschlägen, die im Parlament zu behandeln sein werden. An der Debatte beteiligen sich nicht nur Einzelpersonen, sondern auch staatliche Institutionen.

Die Azhar, eine vom ägyptischen Staat unterhaltene große Körperschaft aus einer Vielzahl muslimischer Religions- und Bildungseinrichtungen, bringt sich in die Debatte mit dem Ziel ein, den ursprünglichen Diskurs über substanzielle Fragen hin zu Fragen über rechtliche, religiöse und politische Autorität zu verschieben. Dadurch wird nicht nur das Persönliche politisch, sondern das gesamte Verfahren.

In den Rechtsordnungen der Staaten des Nahen Ostens ist der "Personenstand" ein eher moderner Begriff. Im Allgemeinen ist er dort im Recht kodifiziert und wird durch staatliche Gremien beurkundet, bezieht seine Autorität allerdings aus der Religionslehre. Aus Sicht der Muslime greifen Parlamente oder andere Legislativorgane damit in eine jahrhundertealte Religionslehre ein und entscheiden, welche Auslegung der Scharia oder des islamischen Rechts vom Staat durchgesetzt werden soll. Viele haben daher ein starkes persönlichen Interesse an der Art der Umsetzung. Mindestens ebenso hoch ist allerdings das politische Interesse daran, wem die Auslegung überlassen werden soll.

Weitreichende Debatten

Muslime beim Fastenbrechen während des Ramadans in der Azhar-Moschee in Kairo am 12. Mai 2019; Foto: Reuters/Mohamed Abd El Ghany
Eine subtile, jedoch tiefgreifende Kontroverse über rechtliche Verfahrensweisen: Die Frage ist, wessen Interpretationen des islamischen Rechts gesetzlich umgesetzt werden sollten und wessen Positionen bindend sind. Denn selbst scheinbar kleine oder technische Änderungen des Personenstandsrechts, wie z.B. Sorgeregelungen, wesentliche Verpflichtungen zwischen Mann und Frau, Erbrecht oder Scheidungsgrund, können jedes Mitglied der Gesellschaft betreffen.

Die Überführung religiöser Vorschriften in staatliches Recht löst oft weitreichende Debatten aus. Selbst scheinbar kleine oder eher technische Änderungen an den Sorgerechtsbestimmungen, an den grundsätzlichen Verpflichtungen zwischen Eheleuten oder am Erb- und Scheidungsrecht betreffen möglicherweise sämtliche Mitglieder der Gesellschaft.

Sogar ein Vorstoß des Staates mit dem Ziel, die Hürden für Scheidungen anzuheben, indem die Scheidung vor einem Staatsbeamten stattfinden muss, anstatt einfach vom Ehemann mündlich erklärt zu werden, hat Unmut hervorgerufen: Die Umstände der mündlich erklärten Scheidung seien zu fest in den Schriften des Islam verwurzelt, als dass der Staat diese ignorieren könne. Traditionalisten verweisen darauf, dass es gültige Mittel gebe, eine Scheidung zu verhindern oder die Position der Frauen zu stärken. Das Herumbasteln an der mündlichen Scheidung gehöre aber nicht dazu.

Unter dem Strich konzentriert sich der lebhafte Austausch unter vielen Beteiligten meist auf den Gesetzesinhalt. 2003 wurde in Ägypten zum Beispiel eine intensive Diskussion um den letztlich erfolgreichen Vorschlag geführt, Frauen das Recht einzuräumen, eine vereinfachte Scheidung unter der Voraussetzung zu beantragen, dass sie einen Großteil der materiellen Ansprüche gegen ihren Ehemann aufgeben. Dies war eine Maßnahme mit weitreichenden Auswirkungen auf Eheschließung und Scheidung in Ägypten.

Wessen Auslegungen sind bindend?

Doch die aktuelle Kontroverse um das Personenstandsrecht betrifft vor allem das Verfahren als solches in einer besonders subtilen und tiefgehenden Weise. Im Kern geht es darum, wessen Auslegungen des islamischen Rechts in das Gesetz einfließen sollten und wessen Ansichten maßgeblich sind.

Aus rechtlicher und verfassungsrechtlicher Sicht ist die Antwort eindeutig: Jede Änderung muss vom Parlament verabschiedet werden. Eine Bestimmung der kurzlebigen ägyptischen Verfassung von 2012 sah vor, dass in Fragen des islamischen Rechts Al-Azhar konsultiert werden müsse.

Die führenden Köpfe der Azhar waren über diese Regelung nicht glücklich. Sie wollten lieber aus religiöser und moralischer Autorität sprechen und lehnten eine verbindliche verfassungsmäßige Autorität ab. Sie setzten sich letztlich durch: Die 2014 verabschiedete aktuelle Verfassung des Landes gewährt der Azhar Autonomie, beschreibt die Institution aber vage als grundlegenden Bezugspunkt (Al-marja' al-asasi) "in Religionswissenschaften und islamischen Angelegenheiten", ohne ihrer Führung eine formelle oder verbindliche Rolle zuzuschreiben.

Ahmed Al-Tayeb, Großimam der Azhar, gemeinsam mit Präsident Abdel Fattah Al-Sisi in Kairo; Foto: picture-alliance/ZumaPress
Ringen um Zuständigkeit und Deutung: Nachdem Präsident Abdel Fattah al-Sisi und teilweise auch die Militär- und Sicherheitsdienste die Kontrolle über fast alle staatlichen Institutionen an sich gezogen haben, kämpft Al-Azhar um die Wahrung seiner Autonomie. Als der Präsident beispielsweise versuchte, die Leitung der Azhar zu belehren, löste er einen öffentlichen Konflikt mit Großimam Ahmad al-Tayeb aus.

Im Konflikt mit dem Großimam

Nachdem Präsident Abdel Fattah al-Sisi und teilweise auch die Militär- und Sicherheitsdienste die Kontrolle über fast alle staatlichen Institutionen an sich gezogen haben, kämpft Al-Azhar um die Wahrung seiner Autonomie. Als der Präsident beispielsweise versuchte, die Leitung der Azhar zu belehren, löste er einen öffentlichen Konflikt mit Großimam Ahmad al-Tayeb aus, insbesondere in der Frage der Ehescheidung.

In dieser Auseinandersetzung wurzelt zumindest teilweise die aktuelle Kontroverse. So lässt sich auch erklären, dass es eher darum geht, wer das islamische Recht auslegt, als darum, was das Gesetz besagt. Als der Ältestenrat der Azhar – ein eigenständiges und hochkarätiges Gremium an der Spitze der Institution – die Diskussion um das Personenstandsrecht verfolgte und eine zu unbedarfte Auslegung der islamischen Lehre befürchtete, beschloss er, einen eigenen Vorschlag zu entwickeln. In der Praxis zwang dies die Abgeordneten dazu, die Azhar-Eingabe abzuwarten.

Die Entscheidung, diese Aufgabe im Ältestenrat zu behandeln, war gut überlegt. Schließlich gibt es einzelne Gelehrte und ein Forschungszentrum an der Azhar, die diese Rolle hätten übernehmen können. Durch die Einschaltung des Ältestenrats wollte die Leitung der Azhar wahrscheinlich das volle moralische und wissenschaftliche Gewicht der Institution in das Thema einbringen.

Und genau das geschah auch. Die Gelehrten behandelten die Angelegenheit weitgehend als eine fachliche Frage und berieten sich daher untereinander. Sie würdigten zwar von außen eingereichte Vorschläge, bestanden aber darauf, dass ihr Expertenwissen in Fragen des islamischen Rechts Vorrang haben solle.

Radikalere Vorschläge verhindern

Im Unterschied zu anderen Initiativen zur Reform des Personenstandsrechts stützt sich der Azhar-Vorschlag zwar auf die volle Autorität der Institution, hat aber wenig zur Mobilisierung der Bevölkerung oder zur Bildung politischer Koalitionen beizutragen. Die vom Ältestenrat angesprochenen Bereiche – wie Vormundschaft, Besuchsrecht und sogar Ansprüche auf Sachgeschenke des Bräutigams für den Fall, dass eine eingegangene Verlobung wieder gelöst wird –, sind im Allgemeinen geringfügig und eher technischer Art.

Einige Vorschläge – wie z.B. die Zulassung einer mündlichen Scheidung, allerdings mit der Maßgabe, dass der Ehemann gesetzlich verpflichtet ist, seine Frau zu benachrichtigen, wenn er sich von ihr getrennt hat – schienen darauf abzuzielen, radikalere Vorschläge zu verhindern.

Nachdem die Führung der Azhar die politische gegen die moralische Autorität eingetauscht hat (und sich seit dem Zusammenstoß mit Präsident Al-Sisi politisch etwas exponiert fühlt), hat sie nun keinen Mechanismus mehr, ihrer Hoffnung auf Annahme des Vorschlags durch das Parlament Nachdruck zu verleihen. Andererseits wäre es für die Legislative schwierig, sich per Parlamentsbeschluss über die Auslegung des islamischen Rechts durch die kollektive Weisheit der angesehensten Gelehrten hinwegzusetzen. Doch genau diesen Standpunkt vertreten einige mit dem Hinweis darauf, dass die Azhar das Parlament weder anweisen noch ersetzen könne.

Nachdem die derzeitigen Machthaber Ägyptens durch die Absetzung einer islamistischen Bewegung an die Macht gekommen sind, ohne jedoch einen säkularen Ersatz zu versprechen, werden sie jetzt gezwungen, genau zu definieren, wer in Sachen Islam für den ägyptischen Staat spricht.

Nathan J. Brown

© Sada | Carnegie Endowment for International Peace 2019

Aus dem Englischen von Peter Lammers

Nathan J. Brown ist Professor für Politikwissenschaft und internationale Angelegenheiten an der George Washington University.