Frieden, Fußball, Toleranz

Wenn Clifton Grover unterwegs ist, hat er seinen Turnbeutel immer dabei. Der begeisterte Straßenfußballer möchte keine Gelegenheit verpassen, mit anderen zu kicken. Doch Fußball ist für ihn nicht gleich Fußball. 2016 startete er das Projekt "Kick for Tolerance". Mit Grover sprach Siri Gögelmann.

Von Siri Gogelmann

Der Konflikt zwischen Indien und Pakistan besteht seit 1947, als sich die britische Kolonialmacht aus der Region zurückgezogen hat. Vielen erscheint der Konflikt als unlösbar. Was kann Fußball leisten, was die Politik in den letzten 71 Jahren nicht geschafft hat?

Clifton Grover: Ich will den Fußball nicht überhöhen. Aber er stellt für mich eine universelle Sprache dar. Der Fußballplatz bietet den Kindern einen sicheren Ort für spielerische Begegnungen. Das brauchen wir, um etwas zu bewegen. Aber natürlich passiert nicht automatisch etwas Tolles, nur weil ich irgendwo ein bisschen Fußball spiele. Deswegen arbeiten wir bei "Kick for Tolerance" mit Straßenfußball als Bildungsansatz.

Was heißt das genau?

Grover: Die Methode, die wir verwenden, wird "football3" genannt. In unserem Projekt geht es vor allem um Begegnung, Vielfalt, Dialog. Und darum, Unterschiedlichkeit als Wert zu erleben und zu erkennen. Wichtiger als die Anzahl der Tore ist bei uns das Fair Play. Zu Beginn eines jeden Matches handeln die Kinder gemeinsame Regeln aus. Eine klassische Fair Play-Regel ist zum Beispiel, dass das erste Tor von einem Mädchen geschossen werden muss. Im Eifer des Gefechts wird diese Regel oft vergessen. Doch wenn die Tore am Ende nicht angerechnet werden, lernen die Jungs ganz schnell, worauf es ankommt.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen "Kick for Tolerance" zu gründen?

Grover: Mein Vater wurde in Lahore, im heutigen Pakistan, geboren. Wie viele Familien ist er 1947 als Kind während der Teilung mit seiner Familie aus religiösen Gründen aus seiner Heimat vertrieben worden. Die Teilung von Indien und Pakistan verlief sehr blutig und traumatisch. Das wirkt bis heute nach. Durch meine familiären Wurzeln war der Konflikt immer wieder ein Thema für mich. Den ausschlaggebenden Impuls für das Projekt erhielt ich dann aber in Polen.

[embed:render:embedded:node:24830]2012 reiste ich für die Stiftung "Kick ins Leben", für die ich hauptamtlich arbeite, zu einem Straßenfußball-Festival von "Football for Hope", einem Begleitprogramm der Fifa. Damals fand in Polen und der Ukraine gerade die Europameisterschaft statt. Bei dem Festival in Breslau habe ich ein Team bestehend aus israelischen und palästinensischen Kindern kennengelernt. Sie haben unglaublich viel Energie und Freundschaft ausgestrahlt. Das hat echt Eindruck bei mir hinterlassen. Seitdem ist es ein Traum von mir, dass auch indische und pakistanische Kinder gemeinsam Straßenfußball spielen.

Und dann haben Sie "Kick for Tolerance" ins Leben gerufen?

Grover: Ja, genau. Ich dachte mir, wenn so etwas in Israel und Palästina möglich ist, dann gibt es keinen Grund, warum es in Indien und Pakistan nicht auch möglich sein sollte. Einige Leute haben damals gesagt: Lass es bleiben, das funktioniert sowieso nicht. Aber ich habe an das Projekt geglaubt. Also bin ich 2013 nach Indien und Pakistan gereist und habe Partner gesucht. Zurück in Deutschland habe ich dann einen Trägerverein gegründet und als das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) und die Robert Bosch Stiftung ihre Unterstützung zugesichert haben, ist das Projekt 2016 gestartet.

Die Kinder, mit denen Sie zusammenarbeiten, sind heute zwischen elf und zwölf Jahre alt. Welche Erfahrungen und Vorurteile bringen sie mit?

Grover: Die Kids in unserem Projekt haben den letzten militärischen Konflikt 1999 nicht selbst miterlebt. Trotzdem sind sie von ihrer Umwelt und den Erfahrungen der Eltern geprägt – so wie wir alle. Wenn es heute Spannungen, Terroranschläge oder andere Zusammenstöße in der Region gibt, kocht die Situation in den sozialen Netzwerken schnell hoch. Außerdem sind historische Einordnungen zuweilen verzerrt oder politisch motiviert. Deswegen arbeiten wir mit der jungen Generation und nicht mit den direkten Akteuren des Konflikts. Wir wollen, dass die Kinder ihre eigenen Erfahrungen machen, ihr eigenes Wertefundament entwickeln. Auf dieser Basis können sie dann überprüfen, was sie als falsch oder richtig empfinden und so einen eigenen Weg einschlagen.

Junge Mediatoren aus Suhaliya, Pakistan, die an einer f3-Session teilnehmen; Foto: Sudhaar Society
Im Dezember 2013 gründete Clifton Grover gemeinsam mit weiteren Interessierten den Verein "Kick for Tolerance" in München. Für das Projekt im Punjab arbeitet der Verein mit zwei lokalen Nichtregierungsorganisationen zusammen: "Sudhaar Society" aus Lahore und "YFC Rurka Kalan" aus Rurka Kalan/Jalandhar. Technische Unterstützung leistet die Organisation "Kickfair", die in der Nähe von Stuttgart sitzt.

Wo genau findet das Projekt statt?

Grover: Das Projekt findet in einer ländlichen Region nahe der indisch-pakistanischen Grenze im Punjab statt, der sich über beide Länder erstreckt. In Pakistan sind zwei Gemeinden beteiligt: Suhaliya mit einer Mädchenschule und Heer mit einer Jungenschule. In Indien arbeiten wir mit zwei Schulen in Rurka Kalan zusammen. Der Punjab ist eine wunderschöne Gegend: eher flach am Fuße des Himalaya gelegen. Übersetzt heißt Punjab „Das Land der fünf Flüsse“. Es ist sehr fruchtbar und sozusagen die Kornkammer der Region.

Die drei Gemeinden, in denen unser Projekt stattfindet, sind quasi Nachbargemeinden. Sie sind etwa 200 Kilometer voneinander entfernt, doch zwischen ihnen verläuft eine fast unüberwindbare Grenze. Das ist wirklich verrückt: Indien und Pakistan haben eine mehrere Tausende Kilometer lange Landgrenze, aber es gibt keine Übergänge. Wagah im Punjab ist der einzige Grenzübergang – sofern er überhaupt geöffnet ist. Er liegt mehr oder weniger zwischen den Gemeinden. Ich bin einmal dort über die Grenze gegangen, zu Fuß, denn anders kommt man nicht rüber.

Waren die Kinder aus Ihrem Projekt schon mal auf der anderen Seite?

Grover: Nein, leider nicht. Sie hatten bisher auch noch nie die Möglichkeit, zusammen Fußball zu spielen. Aber trotzdem sehen sie sich als Gemeinschaft. Wir haben nach und nach immer mehr verbindende Elemente eingeführt. In den Schulen finden gleichzeitig Straßenfußballturniere statt, bei denen die Kinder die gleichen Trikots tragen. Zu kulturellen Festen schicken sie sich gegenseitig Videogrüße, oder, wenn die Situation zeitweise sehr angespannt ist, auch Friedensbotschaften. Durch den Straßenfußball haben sie nun etwas gemeinsam, worüber sie sich identifizieren, denn sie alle sind Straßenfußballer – ganz egal in welchem Land sie leben. Ich vermute, dass sich die Kinder das erste Mal außerhalb von Indien oder Pakistan treffen werden, sowie die Mitarbeiter unserer Partnerorganisationen vor Ort. Auch diese wachsen schrittweise als Team zusammen, so waren wir schon zusammen für Workshops in Nepal und Deutschland. Aber irgendwann, da bin ich mir sicher, werden sich unsere Teilnehmer auch vor Ort gegenseitig einladen können. Das wird ein großartiger Tag für alle sein.

Wie ist denn aktuell die Situation in der Region?

Grover: Wir beobachten ständig die Sicherheitslage vor Ort. Es gibt Zeiten, da kommen einige Kinder in unmittelbarer Grenznähe aus Sicherheitsgründen nicht zur Schule. Nach vier Kriegen ist der Konflikt heute kein militärischer mehr, aber er besteht weiterhin und kann jederzeit wieder eskalieren. So gibt es leider immer wieder Schusswechsel oder Anschläge.

Welche Hürden mussten Sie am Anfang des Projektes überwinden?

Grover: Wir gehen grundsätzlich sehr behutsam vor. Es ist eben ein sensibles Umfeld. Wir verstehen uns als Bildungs- und Entwicklungsinitiative für Kinder und Jugendliche. Politik und Religion ist nicht unser Thema und wir wollen nicht, dass uns jemand für andere Zwecke vereinnahmt. Als ich am Anfang auch große Organisationen gefragt habe, ob sie mitmachen wollen, haben sie abgewunken. Sie hatten Angst davor, Probleme zu bekommen. Die lokalen Partnerorganisationen haben sich aber mit uns auf diesen neuen Weg begeben und sind nun Teil einer gemeinsamen Reise. Das ist mutig und sehr anerkennenswert. Auch weil mir praktisch keine Beispiele einer Zusammenarbeit zwischen pakistanischen und indischen Nichtregierungsorganisationen bekannt sind.

Und wie haben die Familien der Kinder reagiert?

Grover: Das war wirklich spannend, denn alle Familien haben das Projekt warmherzig und aufgeschlossen angenommen. Viele haben noch Verwandte auf der anderen Seite. "Das sind unsere Brüder und Schwestern", haben einige gesagt. Vielleicht kann man sich das so vorstellen, wie die deutsche Teilung bis 1989 – auch wenn ich nicht glaube, dass Indien und Pakistan irgendwann wieder zusammenwachsen könnten oder sollten. Interessant war auch, wie sich die Mitarbeiter unserer Partnerorganisationen zu Beginn des Projekts verhalten haben. Im Punjab sprechen die Leute die gleiche Sprache, nämlich Punjabi, aber am Anfang haben mich die Kollegen immer darum gebeten, die andere Organisation anzurufen, um etwas zu erfragen. Es war ihnen sichtlich unangenehm, selbst anzurufen, diese Möglichkeit gab es in ihren Köpfen einfach nicht. Ich habe dann ein gemeinsames Gespräch per Skype organisiert, habe mich aber irgendwann ausgeklinkt, denn ohne mich konnten sie sich in ihrer gemeinsamen Muttersprache unterhalten, aber mit mir mussten sie immer Englisch sprechen.

Wenn ich an Sport in Indien und Pakistan denke, kommt mir eher Kricket als Fußball in den Sinn. Warum haben Sie sich eigentlich nicht für ein Kricket-Projekt entschieden?

Grover: Da haben Sie natürlich Recht: Im Vergleich zu Fußball ist Kricket in Indien und Pakistan viel bedeutsamer, es ist ein Nationalsport. Aber Kricket ist sehr stark emotional aufgeladen. Wenn Indien und Pakistan gegeneinander Kricket spielen, ist das immer ein riesiges "Highlight" mit viel nationaler Symbolik. Außerdem ist Kricket in der Region ein Männer- fast ein Machosport. Und auch die technische Ausstattung ist komplizierter als beim Fußball, wo ich einfach nur einen Ball in die Luft werfen muss und schon kann es losgehen. Wegen all dieser Gründe eignet sich Kricket nicht so gut wie Fußball. Wobei natürlich auch der Fußball seine negativen Seiten hat: Er hat einen ebenso kommerzialisierten Markt und setzt viel Energie frei, die nicht immer positiv ist.

Fußball-Spiel in Rurka Kalan, Indien; Foto: YFC Rurka Kalan
Über Grenzen und überkommene Feindschaften hinweg: Vor einigen Jahren startete Clifton Grover das Projekt "Kick for Tolerance". Seitdem spielen in drei Gemeinden im Punjab auf beiden Seiten der Grenze Pakistans und Indiens Kinder und Jugendliche für Frieden, Bildung und Entwicklung - ein gewaltiger zivilgesellschaftlicher Erfolg.

Ich persönlich verbinde Fußball auch mit Gewalt von Fans und überkochenden Emotionen …

Grover: Ja, und mit Gewinnen und Verlieren, und damit, den Gegner klein zu machen. Die Gewinnerpose wird ja zum Beispiel von unseren Kindern so gerne nachgemacht. Das muss man nicht gut finden.

Wie gehen Sie mit solchen Situationen um?

Grover: Das alles, siegen und besiegt werden, Gewalt, Nationalstolz und Machogehabe, hat im Straßenfußball nichts verloren, beziehungsweise wird dort bewusst freigelegt und hinterfragt. Bei unserem Ansatz sind am Ende alle Gewinner. Hört sich für machen vielleicht langweilig an? Ist es aber nicht, im Gegenteil (lacht).

Das Gespräch führte Siri Gögelmann.

© Institut für Auslandsbeziehungen (ifa)