In meinen Armen das Unmögliche

Seit nunmehr fünf Jahren arbeitet das Mülheimer Theaterkollektiv "Ruhrorter" mit Geflüchteten. Ihre aktuelle Arbeit "Ich hielt in meinen Armen das Unmögliche" umkreist mit Johann Wolfgang von Goethe Motive wie Erinnerung, Verlust und die Grenzen des Sagbaren. Von Sonja Galler

Von Sonja Galler

Auf zahlreichen deutschen Theaterbühnen werden derzeit Geschichten von Flüchtlingen erzählt. Meist haben die Arbeiten einen dokumentarischen Ansatz und ein ehrenwertes Anliegen: Sie wollen den Blick auf marginalisierte Biographien lenken, Fluchtgeschichten eine individuelle Stimme geben: "Man will der Fremdenfeindlichkeit etwas entgegensetzen. Aber ist das nicht selbst ein Übergriff?", fragt die Schriftstellerin Lena Gorelik in der "Zeit".

Unbehaglich zumute wird Gorelik angesichts von Arbeiten, in denen geflüchtete Darsteller mit "ihrer" Geschichte für die Authentizität bürgen und direkt an das Mitgefühl des Zuschauers appellieren sollen. Theaterstücke, in denen der Mensch auf der Bühne nur als Flüchtling, als Opfer zu sehen ist.

Das seit nunmehr fünf Jahren mit Geflüchteten arbeitende Kunst- und Theaterkollektiv "Ruhrorter" aus Mülheim an der Ruhr teilt dieses Unbehagen gegenüber dem Selbstdarstellungstheater und setzt dem weit verbreiteten dokumentarischen Ansatz die theatrale Abstraktion, die entindividualisierte Kunstfigur entgegen.

Zur Aufführung kämen nicht Geschichten, die einzelnen Darstellern zuzuordnen seien, sondern FIGUREN, deren Ursprünge zwar in der Wirklichkeit lägen, die aber in ihrer szenischen Ausgestaltung nicht mehr realen Personen zuzuordnen sind, erläutert Alexander Weinstock, Dramaturg der Gruppe, die Herangehensweise der Ruhrorter.

Mit Goethe Sehnsucht und Verlust erkunden

Nicht nur die Zuschauer, mit dessen Erwartungshaltung, intime Einblicke in Flüchtlingsbiographien zu erhalten, bewusst gespielt wird, sondern auch die Laiendarsteller selbst müssen sich diese formale Distanz erst erarbeiten. Die Inszenierungen der "Ruhrorter" entstehen in vielmonatiger Probenarbeit, in der sich das Kollektiv gemeinsam auf die Suche nach Ausdrucksformen begibt.

Ausgangspunkt für die neue Arbeit bildet Johann Wolfgang von Goethes Novellensammlung "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" (1795) – ein Text, der von den Fluchterfahrungen einer deutschen Adelsfamilie erzählt, die in Folge des Einmarschs der französischen Revolutionstruppen Haus und Hof verlassen muss. Doch auch weitere Fragmente, Lieder und Gedichte Goethes sind in "Ich hielt in meinen Armen das Unmögliche" eingeflossen.

Entstanden ist eine mehrsprachige Elegie mit französischen, arabischen, deutschen Stimmen, die um Motive wie Sehnsucht nach dem Geliebten ("ein köstliches Gestern"), um Verlust und mitunter verklärende Erinnerung kreisen.

Die Grenzen des sprachlichen Ausdrucks von Leid und Freud sind immer gegenwärtig. Denn der entstehende Sprachraum ist ein fragiler: Der Weg zum Mikrofon, der Akt des Wortergreifens, ist bei den Figuren kein direkter, sondern ein mitunter zögerlicher, schmerzhafter oder gar scheiternder.

Auch dass Briefe, Tonbandaufnahmen, Gesang und Sprechstimme ineinanderfließen, unterstreicht die ästhetische Distanz zu vermeintlich eigener Erfahrung. Dass Krieg und Vertreibung nicht nur den sozialen Umgang miteinander, sondern eben auch das Sprechen selbst verändern, ist nur eine mögliche Lesart dieser Aufführung.

Sozial engagiertes Theater

Auffallend selten sind hingegen dialogische Szenen, wie überhaupt die Figuren nur für Augenblicke zueinanderfinden. Eine Trauergemeinschaft, in der das Individuum trotz Anwesenheit der Anderen im Raum vereinzelt. Der ist im Falle der Ruhrorter-Aufführungen keine klassische blackbox, sondern stets ein urbaner Raum mit eigener Geschichte. Im Fall der aktuellen Aufführung etwa die alte Asylbewerberunterkunft in der Ruhrorterstraße oder das Mülheimer Feierabendhaus, ein Wohnkomplex für ehemalige Zechenangehörige.

Diese Verlagerung in den öffentlichen Raum steht im Zusammenhang mit dem Anspruch, ein "öffentlich sichtbares und erfahrbares Korrektiv gegen die stereotype, stigmatisierende Kategorisierung und Ausgrenzung von Geflüchteten und Asylsuchenden" (Ruhrorter-Website) zu schaffen.

Denn auch wenn die Macher der "Ruhrorter" Wert darauflegen, keine Sozialarbeit mit künstlerischen Mitteln zu betreiben, so ist ihre Arbeit dennoch ein sozialpolitisch engagiertes, kontextualisierendes Vorhaben: Neben den ortspezifischen Theaterinszenierungen und Installationen gehören prozessbegleitende anthropologische Forschung sowie Vortragsreihen zu den Bausteinen ihrer Arbeit.

Sonja Galler

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