Die Wiederbelebung des künstlerischen Dialogs

Im "West-östlichen Divan" beschwor Goethe die kulturelle Verbundenheit von Orient und Okzident. Das Festival "A New Divan" in Berlin soll seine Idee beleben - und erinnert an die Macht der Begegnung. Von Grzegorz Szymanowski

Von Grzegorz Szymanowski

Vier Monate lang, Tag und Nacht, arbeitete der Kompositionsstudent Guillem Palomar an seinem Werk. Das Ergebnis dauert acht Minuten - eine Vertonung des Gedichts "Wo hast du das genommen?" von Johann Wolfgang von Goethe. Es ist Teil der berühmten Gedichtsammlung "West-östlicher Divan". In dem Text beschreibt Goethe einen ewigen Zug des Lebens durch die "ungemessene Ferne / Im Ozean der Sterne / Mich hatt ich nicht verloren / Ich war wie neu geboren".

"Für mich bedeutet es, dass man, um zu sich selbst zu kommen, nicht nur in seiner eigenen Komfortzone bleibt, sondern sich auch hinauswagt", sagt der 22-jährige Palomar. 

In der Vorliebe für das Geheime und Unbekannte erkennt er Ähnlichkeiten zwischen Goethe und Hafis, dem berühmten persischen Dichter aus dem 14. Jahrhundert. Denn es war die Lektüre von Hafis' Gedichten, die Goethe zur Verfassung seiner Divan-Sammlung zwischen 1814 und 1819 bewegt hat. So sehr hat sie den Dichter aus Weimar beeindruckt, dass er den Perser seinen "Zwillingsbruder im Geiste" nannte. Goethe zufolge sind der Westen und der Osten zwei Seiten desselben Blattes: "Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen".

In Goethes Tradition

200 Jahre später werden in Deutschland Rufe nach Abschottung vom Osten und der "Rettung des Abendlandes" laut. Dass sich jetzt ein junger Komponist der Beziehung von Goethe und Hafis widmet, ist dem Festival "A New Divan" zu verdanken, das vom 18.-20. November an der Barenboim-Said Akademie in Berlin stattfand. Ziel der Veranstaltungsreihe mit Ausstellung, Konzert und Diskussionsrunden war, Goethes Idee vom künstlerischen Dialog zwischen Ost und West wieder zu beleben.

Die Barenboim-Said-Akademie, nach dem berühmten israelischen Pianisten Daniel Barenboim und dem inzwischen verstorbenen palästinensischen Literaturkritiker Edward Said benannt, steht selbst in der Tradition von Goethes Werk. Vor 20 Jahren gründeten Barenboim und Said das West Eastern Divan Orchestra - eine künstlerische Friedensinitiative, in der junge israelische und palästinensische Musiker zusammenspielen.

Das West-Eastern Divan Orchestra unter der Leitung von Daniel Barenboim; Foto: picture-alliance/dpa
Klanglabor der Verständigung: Vor 20 Jahren entstand das West-Eastern Divan Orchestra. Daniel Barenboim hatte mit dem inzwischen verstorbenen palästinensischen Literaturkritiker Edward Said das West-Eastern Divan Orchestra ins Leben gerufen, in dem Musiker aus Israel und der arabischen Welt zusammenspielen.

Seit 2016 werden auch junge Musiker an der Berliner Akademie ausgebildet. Guillem Palomar ist einer von ihnen. Die Uraufführung seines Stücks zum Abschluss des Festivals wurde von zwei jungen Divan-Orchestermitgliedern, einem Bariton und dem 77-jährigen Daniel Barenboim selbst gestaltet. Darüber hinaus wurden Kompositionen von Johannes Brahms und Robert Schumann gespielt.

Während des Festivals erschien auch das Buch "Ein neuer Divan". Zwölf Dichter aus West und Ost haben neue Gedichte zu jeweils einem von Goethes Divan-Motiven geschrieben. Unter ihnen sind bekannte Namen wie der syrische Dichter Adonis oder Durs Grünbein aus Deutschland.

Versöhnung durch Poesie - ein zu hoher Anspruch?

Auch Iman Mersal wurde eingeladen, ein Gedicht zu verfassen. Die 53-jährige ägyptische Dichterin, die in Kanada lebt und unterrichtet, widmete sich aus diesem Anlass heraus erneut Goethes "Divan". Doch anders als bei der ersten Lektüre zu ihrer Jugendzeit konnte sie diesmal nur wenig mit der Idee des Kunstdialogs anfangen.

"Ich war überwältigt von der Komplexität der west-östlichen Beziehung und zweifelte, ob Poesie dazu etwas beitragen kann", so Mersal. "Für mich ist Poesie sehr persönlich und tief verwurzelt. Die Idee vom Dialog durch ein Buch habe ich nicht abgekauft." Ihrer Meinung nach sei es auch nicht die Aufgabe des Künstlers, politische Ideen zu vertreten. Deswegen schrieb sie für das Buch lieber ein Gedicht über die Liebe.

Die ägyptische Dichterin Iman Mersal; Foto: Imago
Die 53-jährige ägyptische Dichterin Iman Mersal, die in Kanada lebt und unterrichtet, widmete sich im Rahmen des Festivals erneut Goethes "Divan". Doch anders als bei der ersten Lektüre zu ihrer Jugendzeit konnte sie diesmal nur wenig mit der Idee des Kunstdialogs anfangen. "Ich war überwältigt von der Komplexität der west-östlichen Beziehung und zweifelte, ob Poesie dazu etwas beitragen kann", so Mersal. "Für mich ist Poesie sehr persönlich und tief verwurzelt. Die Idee vom Dialog durch ein Buch habe ich nicht abgekauft."

Mersals Skepsis scheint nachvollziehbar: Auch Goethes Werk wurde nie populär. So stellt der Islamwissenschaftler Stefan Weidner in seinem kürzlich erschienenem "1001 Buch. Die Literaturen des Orients" fest: Goethe sei "mit seinem Divan zum Schutzherren für einen west-östlichen Versöhnungsaktionismus mutiert". Das Buch sei zwar oft erwähnt, aber selten gelesen worden.

"Ein Neuer Divan" ist mit seinem dichterischen Anspruch ebenfalls an ein literarisch interessiertes Publikum adressiert. In den relativ gut gefüllten Räumlichkeiten der Barenboim-Said Akademie in Berlin-Mitte war - abgesehen von den Akademie-Studenten - vor allem die Kultur affine bürgerliche Mittelschicht vertreten. "Ich wohne in Neukölln und weiß nicht, wie man mit dieser Veranstaltung meine Nachbarn erreichen könnte", kommentierte Ali, ein 29-jähriger Besucher.

Iman Mersal sieht den Mehrwert des Festivals dagegen in der Zusammenkunft von Dichtern, die sich sonst nicht begegnen würden. "Durch das Lesen von Gedichten und das persönliche Kennenlernen kann ich mich mit diesem brisanten Thema auseinandersetzen, versöhnen und ein bisschen entspannen." Und sie fügt hinzu: "Solche Chancen müssen wir schätzen und nutzen, sonst können wir nicht mal vorgeben, dass der Osten und Westen zusammengeführt werden können."

Gespräch auf Augenhöhe

Gerade in der Möglichkeit des direkten Austauschs besteht der größte Unterschied zu Goethes Zeiten, sagt Stefan Weidner, einer der Übersetzer des "Neuen Divans". Denn Goethe selbst hatte eine lebendige islamische Kultur nicht erlebt. Hafis' Gedichte waren über 400 Jahre alt, als Goethe seine Antwort auf sie schrieb. "Das war ein imaginärer Dialog mit einem Toten, von dem Goethe sich inspirieren ließ, aber von dem kein Echo zurückkam", so Weidner.

Andererseits war für viele europäische Künstler der Osten lange nur ein Objekt, das man im Lichte vermeintlicher eigener Überlegenheit sah. Diese "orientalische Frage" hat den Weg für den Kolonialismus freigemacht. Auch heute, wenn Literaturnobelpreise vorrangig an westliche Schriftsteller gehen, muss die Bereitschaft der westlichen Literatur, über den eigenen Tellerrand zu schauen, hinterfragt werden.

"Heute müssen wir Kontakt zu der lebendigen islamischen Kultur pflegen und sie als Gesprächspartner ernst nehmen", mahnt Weidner: Zuhören, möglichst getreu übersetzen, in Diskussion treten - solche Dinge seien gefragt. Stefan Weidner ist sich sicher: "Wenn wir das mit dem gleichen Interesse tun wie Goethe damals, dann machen wir es richtig." Die neue Weltliteratur, so Weidner, werde gerade von den Dichtern geschaffen, die sich über die Grenzen wagen und Antworten auf Fragen suchen, die sich nicht nur auf Ihre Region beschränken.

Gemeinsamkeit der Schicksale

Dass dieser interkulturelle Versuch nicht nur auf Literatur beschränkt sein soll, zeigte die Ausstellung der libanesisch-ägyptischen Kunsthistorikerin und Künstlerin Bahia Shehab. Rund um die Welt malt sie auf Straßenwänden Zitate aus Gedichten des palästinensischen Dichters Mahmud Darwisch. Mit seinen Worten will sie die Gemeinsamkeit der menschlichen Schicksale unterstreichen. So wie auf der griechischen Insel Kefalonia, wo sie auf die Tragödie gestorbener Flüchtlinge aufmerksam machte. "Diejenigen, die kein Land haben, haben kein Meer", zitierte sie in arabischer Schrift, die in der Gestaltung an sinkende Schiffe erinnert.

Der Kompositionsstudent Guillem Palomar sieht das ähnlich. Im Kern seien sich Kulturen und Religionen, wie Christentum und Islam, doch sehr ähnlich. "Die Kunst ist symbolisch dafür da, diese Ähnlichkeit auszudrücken". Er selbst kommt aus Spanien, wo Juden, Christen und Muslime über lange Zeit friedlich nebeneinander lebten, wo jüdische Mystiker auf Arabisch schrieben. "Ich glaube, die Kunst ist größer als der Egozentrismus, der uns trennt."

Als am letzten Festivalabend Cellistin Astrig Siranossian und Hornist Ben Goldscheider vom West Eastern Divan Orchestra zusammen Bariton Michael Volle und Daniel Barenboim Palomars mysteriöse, atonale, sich langsam aufbauende Komposition aufführten, scheint mindestens für diese acht Minuten diese Aufgabe erfüllt zu sein.

Grzegorz Szymanowski

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